# taz.de -- Gegen das Vergessen: Von lebendigen Schatten | |
> Der Mannheimer Fotograf und Aktivist Luigi Toscano reist seit fünf Jahren | |
> um die Welt, um Überlebende des Holocaust zu porträtieren. | |
Bild: Fotograf und Aktivist Luigi Toscano vor Ausstellungsdrucken des Projekts … | |
MANNHEIM/LUDWIGSHAFEN taz | Ein Mann zieht in einem sonst leeren | |
Schwimmbassin langsam seine Bahnen; dazu ist melancholische Musik zu hören. | |
Und ein Text aus dem Off: „Dunkles Licht/ Lebendige Schatten/ verblassen/ | |
allmählich/ für immer.“ | |
So beginnt der Film „Gegen das Vergessen“ von Luigi Toscano, der dieses | |
Jahr für den Menschenrechtsfilmpreis nominiert war. Der Film gibt Einblicke | |
in die Arbeit am gleichnamigen Bildband, für den der Mannheimer Fotograf | |
und Filmemacher Luigi Toscano ein Jahr lang weltweit 200 Überlebende des | |
Holocaust porträtiert hat. | |
Buch und Film waren nur der Anfang. Insgesamt 400 Überlebende hat der Sohn | |
italienischer Gastarbeiter inzwischen in den letzten fünf Jahren im Rahmen | |
seines Projekts [1][„Gegen das Vergessen“] kennengelernt und porträtiert: | |
Ehemalige Zwangsarbeiter*innen, Juden und Menschen, die wegen ihrer | |
ethnischen Zugehörigkeit als Sinti, Roma oder ihrer sexuellen Neigung | |
während der Nazi-Herrschaft verfolgt wurden und wie durch ein Wunder | |
überlebten. | |
Die von den Überlebenden entstandenen Nahaufnahmen stellt Luigi Toscano | |
seit 2015 im öffentlichen Raum weltweit aus. Derzeit werden 70 Bilder in | |
Dortmund gezeigt. Ab 9. November wollte die Deutsche Bahn einzelne Bilder | |
nach und nach in den zehn größten Bahnhöfen in Deutschland ausstellen und | |
sich damit als Nachfolgerin der Reichsbahn offiziell zu deren Verstrickung | |
in die Verbrechen des NS-Regimes bekennen. Der Termin wurde coronabedingt | |
kurzfristig verschoben. | |
## Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung | |
Dem Autodidakten Toscano, der durch Zufall zur Fotografie kam, gehe es, | |
sagt er, weniger darum, öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern er | |
wolle ein Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung setzen. Deswegen wählt er | |
für seine Ausstellungen bewusst nicht Museen oder Galerien: „Ich reiße mir | |
den Arsch auf, allen im öffentlichen Raum größtmöglichen Zugang zu | |
gewähren.“ | |
Vieles, vor allem den Film und das Buch, finanziert er über Spenden und | |
Crowdfunding. Geld verdiene er kaum. Sein Arbeitsplatz: eine alte | |
Lagerhalle; sein Team: Freunde und Familienmitglieder. Die Rahmen für die | |
Bilder baut der 48-Jährige, der sich nach dem Hauptschulabschluss lange als | |
Schreiner, Dachdecker, Fensterputzer und Türsteher durchschlug, selbst. | |
Was aber treibt ihn an, fünf Jahre lang durch die Welt zu reisen und | |
Überlebende zu besuchen? „Hätte man mir gesagt, wie viel Arbeit das wird“, | |
erzählt Toscano an einem milden Oktobertag in einem Mannheimer Café, „hätte | |
ich mir das vielleicht noch einmal überlegt.“ Er holt eine Packung | |
Schwarzen Krauser aus seiner Jackentasche, dreht eine Zigarette: „Ich | |
dachte, ich mach Bilder, und das war’s. Ich habe nicht damit gerechnet, wie | |
viel mir die Menschen erzählen. Von Schreien bis Weinen war alles dabei.“ | |
Das erklärt nicht, warum er es macht. Also? Da erzählt er von sich, von | |
seinem Elternhaus, „das nicht dem Klischee einer italienischen Familie“ | |
entsprochen habe, von seinen Eltern, „beide Alkoholiker“, seiner Flucht von | |
zu Hause und einem liberalen Erzieher im Heim, der ihn bestärkt habe, | |
seinen eigenen Weg zu gehen. Wobei die Freiheit, in der er sich verfing, | |
dann erst mal schal schmeckte, mit Drogen und Abstürzen. Bis er auf der | |
Intensivstation im Krankenhaus landete. „Gucken Sie sich an“, sagte eine | |
Krankenschwester und hielt ihm den Spiegel vor. Mittlerweile sei er seit | |
zwanzig Jahren clean. Das Rauschhafte zieht er, so scheint es, jetzt aus | |
seiner Mission, „gegen das Vergessen“ anzugehen. | |
Das Projekt, erzählt der Wahlmannheimer, der sich mehr als Aktivist denn | |
als Künstler begreift, entwickelte sich aus einer Zufallsbegegnung: 2014 | |
habe ein Mann ihn um Feuer gebeten und dann „erzählt, dass er im Iran als | |
Christ verfolgt ist und nun in einer Unterkunft außerhalb von Mannheim | |
lebt“. Toscano, auch an seine Kindheit in einem „Block voller Gastarbeiter, | |
Spaghetti und Kanaken“ im Mainzer Vorort Budenheim erinnert, besuchte ihn | |
„und war geschockt“, sagt er. „Alles war runtergerockt und schimmelig.“ | |
## Menschen sichtbar machen | |
Mit dem Mann habe sich eine Freundschaft entwickelt, er half ihm, und es | |
half ihm, zu helfen. „Man muss diese Menschen sichtbar machen“, dachte er | |
und fotografierte Leute in der Asylunterkunft. Die überlebensgroßen Fotos | |
wurden, dank alter Kontakte als Fensterputzer, in den Fenstern der | |
Mannheimer Feuerwache ausgestellt. „Heimat Asyl“ nannte er, Kind eines | |
sizilianischen Gastarbeiters in Deutschland, der bis vor fünf Jahren nur | |
eine Duldung in Deutschland hatte, das Projekt. | |
Als 2015 mit der großen Fluchtbewegung nach Europa die Stimmung in Teilen | |
der Bevölkerung kippte, war das für Toscano ein Schock: „Bald brennen die | |
Häuser“, habe er gedacht. Da kam ihm die Idee, die letzten Zeitzeugen, die | |
Verfolgung im Nazideutschland erlitten hatten, zu porträtieren. „Mir war es | |
wichtig, alle Opfer des Holocaust zu integrieren. Nicht nur Juden, auch | |
Sinti und Roma, Homosexuelle und Zwangsarbeiter.“ Das gestaltete sich | |
jedoch schwierig. Erst mal in Kontakt zu kommen und dann Vertrauen | |
aufzubauen. Aber am Ende hatte er sowohl den Zentralrat der Sinti und Roma | |
als auch das United States Holocaust Museum im Boot | |
Im Gegensatz zum Starfotografen Martin Schoeller, der für sein viel | |
beachtetes Projekt „Survivors“ anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung | |
von Auschwitz 75 israelische Holocaustüberlebende binnen vier Tagen in | |
Jerusalem porträtierte, nimmt sich Toscano für die Begegnungen mit den | |
Überlebenden viel Zeit. Er trifft die Menschen mehrmals, bringt ihnen als | |
Geste der Wertschätzung auch eine Kleinigkeit mit. Mal seien dies Blumen, | |
mal Essen: „Die meisten haben nicht viel.“ | |
Eva, Wiktor, Sofija, Israel, Alain, Rena, Solange, Harry, Ruth, Arye, | |
Daliah, David, Annemarie, Raymond, Jaqueline, Oliver, Francine, Jeruda, | |
Mark, Zilly. Luigi Toscano erinnert sich an die Namen aller Überlebenden, | |
die er kennenlernte. Ihre Geschichten trägt er mit sich herum. | |
An Horst Sommerfeld, der letztes Jahr 92-jährig starb, hing er besonders. | |
„Horst war der erste Überlebende, der sich bei mir gemeldet hat. Hat | |
einfach angerufen und erzählt.“ Er hat Auschwitz überlebt, seine Eltern und | |
Geschwister nicht, berichtet Toscano auf dem Weg ins Atelier in | |
Ludwigshafen. | |
Dort stellt sein Assistent gerade eine Auswahl von Porträts für die nächste | |
Ausstellung zusammen und sucht die biografischen Angaben. Manchmal stehen | |
da ganze Geschichten. Manchmal nur Eckdaten: „Wir haben die Menschen | |
entscheiden lassen, was sie mitteilen wollen.“ Mitunter sei es für die | |
Überlebenden zu schmerzhaft gewesen, zu erzählen. | |
Während sein Assistent die Räumlichkeiten zeigt, telefoniert Toscano mit | |
einem Lieferanten, der Steine nach Dortmund liefern soll, um die Holzrahmen | |
von hinten zu beschweren, damit sie Wind und Wetter standhalten. „Die | |
Lieferung kostet jetzt mehr als die Steine selbst“, sagt er nach dem | |
Auflegen. | |
Aber er und sein Team haben zusammen schon ganz anderes bewältigt, wie etwa | |
im Sommer 2019 die Messerattacken auf die Ausstellung in Wien. Zwei Bilder | |
wurden zerstört, zwei weitere „angeschlitzt“. Auf einem wurde ein Auge | |
ausgebrannt. Er habe seinerzeit erst einmal nichts unternommen, „wir | |
wollten das unterm Radar halten, falls die Neonazis die Publicity wollen“. | |
Erst als ein weiteres Bild mit einem Hakenkreuz beschmiert wurde, hätten | |
sie Anzeige erstattet. Nach Berichten auf allen Kanälen sei ihnen die Frage | |
„Was nun?“ aus der Hand genommen worden: Ein Mädchen kam mit Klebeband. | |
„Und dann kamen immer mehr Menschen. Junge Muslim:innen, eine | |
Theatergruppe, Jugendliche der Young Caritas. Die haben sich zu einer | |
Mahnwache zusammengeschlossen und die Bilder bewacht“, erzählt er. „Eine | |
Überlebende rief an und sagte: „Nicht aufgeben! Wir haben uns auch nicht | |
beugen lassen.“ | |
9 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.luigi-toscano.com/ | |
## AUTOREN | |
Eva-Lena Lörzer | |
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