Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Russlands Präsident unter Druck: Entzauberter Putin
> Die Zustimmung zum Kremlchef sinkt, auch in der Elite macht sich Unmut
> breit. Jetzt heißt es siegen – bei einer Parade und einer
> Volksabstimmung.
Bild: Nicht mehr so beliebt wie früher – Putins Werte sind seit 2017 deutlic…
Moskau taz | Es sollte ein ruhmreicher Auftritt werden am 9. Mai auf dem
Roten Platz, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über Hitlerdeutschland.
Präsident Wladimir Putin hätte [1][den Siegerstab Josef Stalins] im
übertragenen Sinne übernehmen sollen und Moskaus führende Rolle im Zweiten
Weltkrieg 75 Jahre nach dem Triumph noch einmal bekräftigt. Die Staatschefs
der Alliierten wären angereist und der Kremlchef hätte noch einmal die
Festschreibung der Siegerrolle und die einer fortwirkenden Großmacht
unterstrichen.
Stattdessen nahm die Geschichte einen anderen Lauf. Corona tauchte auf und
Russlands Oberbefehlshaber verschwand. Erst nach Wochen meldete er sich
wieder zu Wort. Damals übertrug er den Gouverneuren die Zuständigkeit, das
Virus in den Regionen zu bekämpfen. In Moskau hatte er Bürgermeister Alexei
Sobjanin zum Krisenbeauftragten ernannt.
Der Präsident war mit anderen Aufgaben befasst. Ihn bewegte, was mit der
[2][für den 22. April angesetzten Abstimmung über die
Verfassungsänderungen] geschehen sollte? Die Lösung zog sich länger hin,
bis der Präsident im Mai das Virus für besiegt erklärte und die Abstimmung
für den 1. Juli ansetzte.
Allerdings dürfen die Bürger ab dem 25. Juni schon wählen, zu Hause,
elektronisch oder in den Wahlbüros. Das soll Staus vermeiden und
Ansteckungen verhindern. Kritiker gehen jedoch davon aus, dass der
entzerrte Wahlmodus vor allem die zivilgesellschaftliche Kontrolle
erschwert.
## Wachsende Proteste
Der frühe Wahltermin belegt, dass Putin und seine Entourage bei einer
Verlegung in den September befürchten, die Auswirkungen der
Wirtschaftskrise könnten die Bürger von der Wahl abhalten. Umfrageinstitute
gehen im Herbst von wachsenden Protesten aus.
Außerdem sollte auch die Parade am Roten Platz noch mobilisieren und
patriotische Gefühle stimulieren, kalkulierten Polittechnologen des Kreml.
Auch die Bezwingung des Coronavirus ließe sich noch der Siegesfeier
einverleiben. Moskau scheint der Lage nicht zu trauen und hält eine zweite
Infektionswelle für nicht ausgeschlossen.
Zurzeit steht es nicht allzu rosig um die Werte des Präsidenten. Seit
Herbst 2017 ist das Vertrauen deutlich gesunken. Von 59 auf 25 Prozent.
Konnten ausländische Politiker in der Coronakrise an Vertrauen zulegen,
sank Putins Zustimmung stetig.
Einer der Gründe war die geringe Hilfe, die Russland den Bürgern in
Krisenzeiten zur Verfügung stellte. Dabei sind Russlands Kassen voll. Putin
weigert sich jedoch, nennenswerte Hilfen zu zahlen, da er die Rücklagen von
rund 450 Milliarden Dollar für noch dunklere Zeiten bunkern möchte.
## Ölpreis abgestürzt
Es sind auch die Notgroschen des Putin-Systems, sollte die Wirtschaft
weiter einbrechen. Ein Vorbote war der Absturz des Ölpreises im Februar.
Russlands Führung hatte die Talfahrt mitverursacht.
Die Geschäftswelt beklagte sich überdies, Steuern und Kredite seien nur
aufgeschoben worden. Demnach verlor der Kreml auch die Unterstützung von
Klein- und Mittelunternehmen sowie Selbständigen – ein Viertel des
Arbeitsmarktes. Auch die Arbeiter sind unzufrieden, die eine verlässliche
Stütze des Regimes darstellten. Sie gingen bislang ebenfalls leer aus.
„Wie sehr das Regime die Interessen des Volkes missachtet, ist jetzt auch
Parteigängern Putins klar“, meint der Oppositionelle und Psychologe Leonid
Gosman. Ihm zufolge sank Putins Rückhalt auch in der Elite. Das mag sogar
ein Motiv für die Abstimmung sein: Mit einem klaren Votum der Wähler für
die Verlängerung der Amtszeit bis 2036 will der Kremlchef Nähe zum Volk
unterstreichen.
Auf dem Wahlzettel mit mehr als 220 Veränderungen fällt der Passus über die
„Nullifizierung“ der Amtszeiten nicht auf. Auch die offizielle Werbung
spart die Wahl des ewigen Präsidenten aus. Stattdessen geht es um die Ehe
zwischen Mann und Frau, Indexierung von Renten, die russische Sprache und
die Rolle der Russen als staatsbildende Ethnie.
## Vorwurf Feigheit
Ein konservatives Potpourri, das in unterschiedlichen Milieus mobilisieren
soll. Einzelne Punkte herauszugreifen, lässt die Wahl nicht zu. Wer im
Block für alles stimmt, verlängert Putins Zeit als Quasi-Monarch.
Viele hätten Putin indirekt Feigheit vorgehalten, meint Gosman. Er sei im
Anfangsstadium der Pandemie untätig gewesen. Dies Verhalten erinnere an
Stalins Abtauchen in den ersten Tagen nach dem deutschen Überfall auf die
Sowjetunion 1941. „Vielleicht hat sich die Magie, die Putins Herrschaft
umgab, endlich verflüchtigt.“
Die öffentliche Wahrnehmung des Präsidenten hat sich seit der Pandemie
tatsächlich verändert. Putin zog sich in einen Bunker in der Residenz von
Nowoe Orgojewo zurück. Wer zu ihm möchte, durchläuft eine
Desinfektionsschleuse. Russlands harte „Muschiks“ reagieren darauf eher
verstört.
Im Mai gaben 44 Prozent an, sie wollten für die Veränderungen stimmen, 32
sprachen sich laut Lewada-Zentrum dagegen aus. Der Kreml bräuchte etwas
mehr als 50 Prozent für diesen Sieg. Bei abweichenden Ergebnissen könnte
auch nachgeholfen werden. „Aber Resultate wie in Tadschikistan (mehr als 75
Prozent) darf es nicht geben“, warnte ein erfahrener Wahlassistent.
24 Jun 2020
## LINKS
[1] /Kriegsende-vor-75-Jahren/!5680439
[2] /Corona-in-Russland/!5689469
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
## TAGS
Russland
Wladimir Putin
Verfassungsreform
Schwerpunkt Coronavirus
Russland
Russland
Russland
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verfassungsreferendum in Russland: Sieg mit Beigeschmack
Die Wähler*innen stimmen für eine Verlängerung der Amtszeit von Präsident
Putin bis 2036. Wahlbeobachter registrieren über 2.000 Verstöße.
„Volksabstimmung“ in Russland: Putin forever
Russlands Präsident gibt sich keine Mühe mehr, die demokratische Fassade zu
wahren. Unverblümtere Verachtung gegenüber den Wählern ist kaum möglich.
Weltkriegsgedenken in Russland: Parade der Superlative
14.000 Soldaten marschieren im Gedenken an den Sieg über Nazideutschland in
Moskau auf. Kremlchef Wladimir Putin scheint das zu genießen.
Corona in Russland: Ganz locker an die Urne
In Moskau gibt es täglich mehr als 1.000 Infektionsfälle. Dennoch wurden
die Kontaktbeschränkungen gelockert – pünktlich zur Verfassungsreform.
Kriegsende vor 75 Jahren: Stalin bleibt unfehlbar
Der „Tag des Sieges über den Faschismus“ ist in Russland mehr als Gedenken.
Präsident Putin legitimiert damit seine Macht – und deutet Geschichte um.
Corona in Russland: Putin verlängert Zwangsurlaub
Präsident Wladimir Putin wendet sich erneut an seine Landsleute. Die Lage
beschönigt er nicht. Löhne sollen weiter gezahlt werden. Doch wovon?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.