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# taz.de -- Niederschlagung des Prager Frühlings: „Das Fortschreiten zum Bes…
> Zum Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968: Einige
> Gedanken an den Aufstand im Zeichen von Immanuel Kants
> „Geschichtszeichen“.
Bild: 7. November 1968 in Prag: Demonstrierende Arbeiter und Studierende in Prag
Die meisten, die hierzulande „68“ sagen, meinen damit die Protestbewegungen
von Berkeley und Paris über Frankfurt und Berlin bis Tokio. Die weltweite
Bewegung wurde von unterschiedliche Motiven gespeist. Der Kalte Krieg,
Opposition gegen den Krieg in Vietnam sowie die Suche im Westen nach
Alternativen zum kapitalistischen Produktions- und Konsummodell spielten
sicher eine große Rolle. Vergessen wird dabei aber zumeist der zeitgleich
stattfindende Aufbruch im Osten.
Der „Prager Frühling“ von 1968 war das Fanal oder „Geschichtszeichen“,…
einen anderen Sozialismus als den des „realexistierenden“ und
polizeistaatlichen Sowjetmodells in Osteuropa durchzusetzen. Mit dem Prager
Frühling verband sich 1968 vorerst letztmalig die globale Hoffnung auf
einen Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“, einem sogenannten Dritten Weg
zwischen Kapitalismus und Staatskommunismus.
Das Wort „Geschichtszeichen“ stammt von Kant. Er charakterisierte mit dem
Begriff die Französische Revolution, in der er – trotz Jakobinismus und
Terror – eine Tendenz für „das Fortschreiten zum Besseren“ und „eine
Revolution … in den Gemütern aller Zuschauer“ und ihrer „Denkungsart“ …
Oft sind es jedoch nicht erfolgreiche Revolutionen, die „das Fortschreiten
zum Besseren“ anzeigen, sondern Niederlagen, Rückschläge und Katastrophen.
Das trifft im besonderen Maße [1][auf den 21. August 1968 zu, dem Tag der
militärischen Vernichtung] des Experiments „Sozialismus mit menschlichem
Antlitz“.
## Geschlecht im Ganzen
Mit Kant kann man darin nichts Geringeres als den Beginn „einer Tendenz des
menschlichen Geschlechts im Ganzen“ sehen – nämlich die Befreiung von
Völkern und Staaten, sich entscheiden zu müssen zwischen Pest und Cholera –
kapitalistischer Entmündigung oder leninistisch-stalinistischer Diktatur.
Der 21. August 1968 war eine Katastrophe für die direkt Betroffenen und
eine Niederlage [2][für alle nicht leninistisch-stalinistisch verblendeten
Linken – ein „Geschichtszeichen“]: Denn „das Fortschreiten zum Besseren…
ist möglich, sofern sich die politisch-moralischen Energiepotenziale, die
die Ereignisse in der ČSSR bargen, auch in der „Denkungsart“ der Zuschauer
außerhalb des Landes verbreiten.
Was die westliche Presse „Prager Frühling“ taufte, in Analogie zur
Tauwetterperiode in der Sowjetunion, benannt nach dem Roman „Tauwetter“
(1946) von Ilja Ehrenburg, begann schon Anfang der 1960er Jahre. Die ČSSR
befand sich in einer wirtschaftlichen Stagnation, die Reformen unumgänglich
machte. Der Ökonom Ota Šik (1919–2004) wurde zum Promotor dieser Reformen.
Er lancierte das Projekt einer Verbindung von Markt und Plan zu einer
„sozialistischen Marktwirtschaft“. Nach seiner Flucht in die Schweiz wurde
er zum Theoretiker des „Dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und
Sozialismus.
Wichtige Impulse verdankte der Prager Frühling auch dem Kultursektor. Im
Mai 1963 fand unter Leitung des Literaturwissenschaftlers Eduard
Goldstücker (1913–2000) eine internationale Konferenz zur Rehabilitierung
Franz Kafkas statt. Der galt im Osten als Dichter der bürgerlichen
Dekadenz. Die literarische Avantgarde um Ivan Klima, Pavel Kohout und
Václav Havel wurde ab Mitte der 1960er Jahre zum Zentrum der
Reformbewegung, die die politische Führung zunächst zur Lockerung der
Zensur und im März 1968 zu deren Abschaffung zwang.
## Alarm in Pankow
Mit der Abwahl des Stalinisten Antonin Novotný und der Wahl des Slowaken
Alexander Dubček zum Ersten Sekretär der KPČ im Januar 1968 übernahm die
Partei die Führung der Reform und legte ein Programm vor, das für einen
Sozialismus stand, der „ohne selbsternannte Führer und ohne gefühllose
Bürokratie“ (Otfrid Pustejovsky) auskam und Pluralismus und
Meinungsfreiheit garantierte. [3][In Moskau, Warschau, Budapest, Sofia und
Pankow schrillten die Alarmglocken.] Gut einen Monat vor der militärischen
Intervention vom 21. August 1968 warnten die interventionsbereiten
„Bruderländer“ am 15. Juli vor der „Gefahr einer Lostrennung der
Tschechoslowakei von der sozialistischen Gemeinschaft“.
Zum Scheitern des leninistisch-stalinistisch fundierten Sozialismus trug
bei, dass er sich an vermeintlich wetterfesten Wissensbeständen über den
Lauf der Geschichte und vermeintlich prall gefüllten Reservoiren an
historischen Sinnvorräten orientierte, als deren wichtigste Quelle eine
teils von Hegel, teils von Marx inspirierte Geschichtsphilosophie
fungierte. Hegel wie Marx zehrten von der jüdisch-christlichen Tradition
des göttlichen Offenbarungsversprechens (Apokalypse).
Wie die Glaubensgewissheit in der Religion funktioniert die
Geschichtsphilosophie politisch als Transmissionsriemen zwischen
Vergangenheit, Gegenwart und ungewisser Zukunft. Ihre prinzipielle
Unvorhersehbarkeit wird religiös sowie historisch-spekulativ und
politisch-propagandistisch unterlaufen oder wegdisputiert. In der
Geschichtsphilosophie wird das religiöse Erlösungsversprechen ersetzt durch
die Beschwörung des Glaubens an „gesetzmäßigen“ Fortschritt.
## Geschichte als Super-Subjekt
Dieser bildet das angeblich letzte Ziel der Geschichte, sie selbst wird zum
Motor und Subjekt „der“ Geschichte geadelt und zur Stellvertreterin des
allwissenden Schöpfergottes. „Die“ Geschichte als Super-Subjekt ist das
Leitmotiv des fortschrittsgewissen Historismus ebenso wie des
Leninismus-Stalinismus.
Marx ersetzte vor allem in seinen frühen Werken den Weltgeist Hegels durch
das Proletariat. Lenin und seine Adepten überboten den Meister
beträchtlich, als sie behaupteten, es existiere mit dem Proletariat eine
soziale Klasse, die über einen privilegierten Zugang zur
Gesellschaftstheorie, über den Schlüssel zum Gang „der“ Geschichte und –
mit ihren Universalwerkzeug „Partei“ – Zutritt zur Wahrheit verfüge.
Mit dem Geschichtszeichen vom 21. August 1968 ist die Orientierung von
Sozialismus an solchen Konzepten obsolet geworden. Linke Politik kann nicht
länger mit spekulativ erschlossenen Sinnbeständen und Glaubensreservoiren
rechnen, sondern muss ihr Handeln und Denken an den politisch-moralischen
Energiepotenzialen von Geschichtszeichen ausrichten. Die Niederlage der
Pariser Kommune von 1870/71 beförderte die Einsicht, dass die
Arbeiterbewegung nicht ohne Organisation auskommt, wenn sie erfolgreich
sein will.
## Willkür überwinden
Der kontinuierliche Aufstieg der SPD zur stärksten Partei im Kaiserreich
begann mit Bismarcks Sozialistengesetz und der Einsicht, wie man die
Willkür und das orchestrierte Zusammenspiel von Politik, Polizei und Justiz
mit Fantasie, Vorsicht und Beharrlichkeit unterläuft, erschüttert und
schließlich überwindet.
Mit der Absage linker Politik an geschichtsphilosophisch oder auf andere
Weise spekulativ erschlossene Ziele und der Orientierung an Niederlagen und
Katastrophen ist weder ein konturloser Pragmatismus verbunden noch die
Option, dass nur weitere Niederlagen und Katastrophen die Wende zum
Besseren bringen würden. Geschichtszeichen sind keine mit abstrakten
Hoffnungen aufgeblasenen Ereignisse und keine Kopiervorlagen für
Nachgeborene. Geschichtszeichen sind aber auch keine Vehikel, um „aus der
Geschichte zu lernen“, wie es im Volksmund heißt. Geschichte lehrt gar
nichts.
Sie taugt nicht länger als „magistra vitae“, als „Lehrerin fürs Leben�…
seit sich der soziale, politische und wirtschaftliche Wandel beschleunigt
und dynamisiert hat. Versuche, Problemen und Umwelten mit den Mitteln und
Methoden früherer Generationen zu begegnen, sind zum Scheitern verurteilt.
Herkunft und Tradition kommen in Geschichte und Politik nur noch
Nebenrollen zu. Nachspielen geht in der Politik nur noch für Narren und
Narzissten.
## Durch Erfahrung gesättigt
Geschichtszeichen sind also nicht als Rezepte zum Denken und Handeln zu
verstehen. Sie enthalten aber ein durch Erfahrungen gesättigtes
politisch-moralisches Energiepotenzial. Kant nannte dieses Potenzial
„Enthusiasm“, der aus der „Teilnehmung am Guten mit Affekt“ resultiert.…
politisch-moralische Energiepotenziale von Geschichtszeichen aktualisierbar
sind, ist nicht vorab auszumachen, sondern wird erst im Vollzug bestätigt
oder widerlegt.
Sich an den politisch-moralischen Energiepotenzialen zu orientieren, wie
sie das Geschichtszeichen vom 21. August 1968 in Prag enthält, ist auf
jeden Fall rationaler und aussichtsreicher als ideologisch fundiertes
Vertrauen auf den „objektiven Gang der Geschichte“, auf vermeintliche
Lehren daraus oder ihr spekulativ zugeschriebene dogmatische Ziele.
21 Aug 2020
## LINKS
[1] /50-Jahre-Prager-Fruehling/!5563401
[2] /Filmessay-In-the-Intense-Now/!5381593
[3] /Die-DDR-Jugend-und-der-Prager-Fruehling/!5525327
## AUTOREN
Rudolf Walther
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