| # taz.de -- Roman über Anti-AKW-Protest: Abschied vom ländlichen Paradies | |
| > Fernab der „samtenen Revolution“: Im Roman „370m über NN“ von Jiří | |
| > Hájíček kämpft die tschechische Jugend auf dem Dorf gegen ein geplantes | |
| > Atomkraftwerk. | |
| Bild: Bau des Atomkraftwerkes in Temelin, Dezember 1983 | |
| Im Jahr 2000 wurde das Atomkraftwerk bei dem kleinen südböhmischen Ort | |
| Temelín in Betrieb genommen. Fünfzig Kilometer von der österreichischen und | |
| sechzig von der deutschen Grenze entfernt gelegen, ist es bis heute das | |
| größte AKW Tschechiens. Seiner Errichtung und Inbetriebnahme vorangegangen | |
| waren jahrelange, auch grenzüberschreitende Proteste. | |
| Die Planung des Kraftwerks war lange vor der „samtenen Revolution“ in der | |
| Tschechoslowakei begonnen worden, die Umsetzung trieben dann die | |
| demokratisch gewählten Regierungen der Nachwendezeit voran. Damit stets | |
| genügend Kühlwasser zur Verfügung steht, wurde die Moldau in der Nähe von | |
| Temelín zu einem See gestaut. Mehrere Dörfer mussten dem Gewässer weichen, | |
| weitere Siedlungen wurden abgerissen, weil sie zu nahe am Kernkraftwerk | |
| lagen. | |
| Die Geschichte dieser Dörfer erzählt Jiří Hájíček in seinem Roman „370m | |
| über NN“, der im Original und in anderen fremdsprachigen Übersetzungen den | |
| Titel „Fischblut“ trägt. Beide Titelvarianten beziehen sich auf das Wasser | |
| der Moldau, in dem das Dorf der Ich-Erzählerin Hana zur Hälfte versinken | |
| soll, sobald die Flutung der Uferregionen beginnt. Häuser, die jenseits | |
| einer Marke von 370 Metern über dem Meeresspiegel liegen, dürfen | |
| stehenbleiben, alle anderen müssen geräumt werden. Dazu zählt auch das Haus | |
| von Hanas Eltern. | |
| Hana selbst ist zu Beginn der achtziger Jahre, als die Pläne öffentlich | |
| werden, ein Teenager von sechzehn Jahren. Der Kampf gegen die | |
| Zwangsumsiedlungen fällt zusammen mit der prägendsten Phase in ihrem Leben. | |
| Es ist ein smarter Schachzug des Autors, die Erzählung über diese Übungen | |
| in bürgerlichem Ungehorsam mit einer Coming-of-Age-Geschichte zu | |
| verknüpfen. | |
| ## Biografische Nähe | |
| Authentizität ist verbürgt, denn 1967 geboren und in der Gegend um Temelín | |
| aufgewachsen, dürfte Hájíček viele eigene Erlebnisse eingebracht haben. | |
| Dorfdiscos, Alkoholexzesse, Freund- und Liebschaften prägen Hanas Dasein, | |
| und auch das ländliche Leben nah an der Natur genießt sie mit allen Sinnen. | |
| Sie hat zwei beste Freundinnen im Ort, mit denen sie durch dick und dünn | |
| geht. Doch dann kommen Politik und Liebe dazwischen. Bei Aktionen gegen das | |
| geplante AKW lernt Hana Petr näher kennen, einen Jungen aus dem | |
| Nachbardorf, mit dem ihre Freundin Olina „geht“. Durch das gemeinsame | |
| Engagement und den nächsten Dorfschwof kommen Hana und Petr zusammen, und | |
| Hana hat eine Freundin weniger … | |
| All das und noch viel mehr wird in Rückblende erzählt, in eine | |
| Rahmenhandlung eingebettet, die zwanzig Jahre später spielt: Hana, die | |
| ehemals Ultrasesshafte, ist nach der Vertreibung aus ihrem dörflichen | |
| Paradies zur Weltreisenden geworden und all die Jahre nicht zurückgekehrt. | |
| Nun besucht sie, die schon lange im Ausland lebt, ihren alten Vater im | |
| Plattenbau und lässt nach und nach einstige Bekanntschaften wieder | |
| aufleben, was durchaus sehr verschieden verläuft. | |
| Mit diesem Roman hatte Jiří Hájíček vermutlich einen wichtigen Nerv | |
| beziehungsweise ziemlich tief in die tschechische Seele getroffen, denn | |
| [1][dem Leben auf dem Dorfe kommt in der tschechischen Kultur eine beinahe | |
| mythisch überhöhte Bedeutung zu.] | |
| ## Symbolhafte Bedeutung | |
| Die Vertreibung aus diesem verklärten Nationalidyll aus Sicht einer | |
| Vertreterin der jungen Generation zu schildern, und das auch noch vor dem | |
| zeitgeschichtlichen Hintergrund der grundlegenden politischen Umwälzungen | |
| im Land, verleiht dem Sujet eine zusätzliche symbolhafte Bedeutung – und | |
| das um so mehr, als von der „hohen“ Politik in diesem Dorfroman auffallend | |
| wenig die Rede ist. Einmal kommt ein Minister der neuen demokratischen | |
| Regierung vorbei, um mit Anti-AKW-Parolen Wählerstimmen zu gewinnen und | |
| später doch mit seiner Partei den Bau des Kraftwerks voranzutreiben. | |
| Von dem sanften revolutionären Wind, der 1989 mit der „samtenen Revolution“ | |
| durch Prag weht, scheint hier auf dem Land ohnehin kaum etwas spürbar zu | |
| sein – jedenfalls nicht für Hana, die als Ich-Erzählerin alle Ereignisse | |
| gleichermaßen unaufgeregt referiert, vieles in Andeutungen belässt und sich | |
| weitreichender Kommentare enthält. Da bleibt beim Lesen viel Platz, sich | |
| ein eigenes inneres Erleben zu schaffen und sich seinen Teil über die | |
| Personen zu denken. | |
| 17 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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