# taz.de -- „Disco Titanic“ von Radu Pavel Gheo: Das Aufbegehren der Ränder | |
> Abenteuer- und Geschichtsroman: Radu Pavel Gheo verhandelt in „Disco | |
> Titanic“ mitreißend die Nachwehen des Jugoslawienkriegs aus rumänischer | |
> Sicht. | |
Bild: Split, 1984: Präsident Tito wacht über das Geschehen | |
Drüben, nur wenige Kilometer von Temeswar (Timișoara) entfernt, herrscht | |
ein anderer Takt, ein anderer Ton. Es riecht, klingt und schmeckt anders. | |
Für den jungen Vlad, der aus der rumänischen Großstadt nahe der Grenze zu | |
Jugoslawien stammt, ist [1][das multikulturelle Nachbarland] fast schon | |
Westen. | |
Vlad verehrt Rockbands wie Bijelo Dugme um Goran Bregović und Prljavo | |
Kazalište, er schaut gern jugoslawisches Fernsehen, das westliche Sitcoms | |
wie „'Allo ’Allo!“ zeigt, er ist heiß auf Westprodukte: Adidas und Nikes, | |
stonewashed Jeans, besser schmeckende Zigaretten. Es ist Ende der achtziger | |
Jahre, Vlad ist in der Ceaușescu-Diktatur aufgewachsen, das Fernsehprogramm | |
beschränkt sich dort wochentags auf zwei Stunden Propaganda. Westliche | |
Popkultur existiert offiziell nicht, Lebensmittel sind knapp, Armut | |
grassiert. | |
Vlad ist Protagonist des Romans „Disco Titanic“ von Radu Pavel Gheo. Es ist | |
der erste Roman des rumänischen Schriftstellers, der auf Deutsch erscheint, | |
im rumänischen Original wurde er 2016 veröffentlicht. Zwei Reisen stehen im | |
Mittelpunkt der Erzählung: Einmal fährt Vlad kurz vor dem Fall des Eisernen | |
Vorhangs 1989 ins jugoslawische Split und erlebt dort mit einer Jugendgang | |
einen traumhaften Sommer mit einem albtraumhaften Ende. | |
Die Disco Titanic gab es wirklich in Split, der Tanzklub lag direkt an der | |
Adria, die Ruine steht dort heute noch. Als Erwachsener fährt Vlad rund | |
zwanzig Jahre später wieder in die nun kroatische Stadt, um die | |
Jugenderlebnisse, die hier nicht gespoilert werden sollen, aufzuarbeiten. | |
## Ende der Ceaușescu-Diktatur | |
Es ist eine Mischung aus Abenteuer-, Popkultur- und Geschichtsroman, die | |
dem hierzulande leider noch unbekannten Autor Radu Pavel Gheo gelungen ist. | |
Über die Figur Vlad wird zum einen die Geschichte Rumäniens erzählt: als | |
Jugendlicher begehrt [2][er gegen die brutale Ceaușescu-Diktatur auf,] | |
verunglimpft die Nationalhymne des Landes. Zugleich wird er von der | |
Securitate angeworben und willigt gezwungenermaßen in die Mitarbeit ein, | |
was sein Geheimnis bleiben soll. | |
Bei der blutigen rumänischen Revolution im Dezember 1989 ist er dann wieder | |
auf der Straße und kämpft gegen das Regime, wird dabei verletzt und kommt | |
ins Krankenhaus. Zum anderen verhandelt der Autor Gheo den Zerfall | |
Jugoslawiens und dessen Folgen, vor allem über die zweite Reise seines | |
Protagonisten, auf der er die Narben der Jugoslawienkriege allerorts | |
besichtigen kann. | |
Das Nebeneinander verschiedener Ethnien haben Jugoslawien und Rumänien | |
gemein. Vlads Heimatregion, das Banat, wird einmal in Anspielung an eine | |
weitere ehemals jugoslawische, dann serbische Band („Riblja čorba“) als | |
„Fischsuppe“ bezeichnet. | |
„Ethnisch ist das Banat wie das ganze Rumänien. Es ist eine Art Fischsuppe, | |
in der von jedem etwas drin ist, aber egal, was du in den Topf tust – noch | |
ein paar Serben, ein paar Oltenier oder Moldauer, zwei, drei Deutsche für | |
das Aroma, ein paar Ungarn als Gewürz und was du noch auftreiben kannst: | |
Tschechen, Slowaken und Bulgaren – es bleibt trotzdem eine Fischsuppe“, | |
heißt es da in einer Diskussion zwischen Vlad und einer Figur namens Radu | |
Pavel Gheo – der Autor baut sich da auf angenehm beiläufige Weise in den | |
Text ein. | |
## Im Prinzip ein identitätspolitischer Roman | |
Gheo ist im Örtchen Oravița im Banat geboren, er studierte Philologie in | |
Timișoara, lebte zwischenzeitlich in Washington und heute wieder in | |
Timișoara. Er war Mitglied der rumänischen Jugendschriftstellergruppe CLUB | |
8, die sich in den Neunzigern in der Stadt Iași formiert hatte. „Disco | |
Titanic“ hat 2017 den Nationalpreis des rumänischen Literaturmagazins | |
Observator Cultura gewonnen und war für andere nationale Preise in der | |
Auswahl. | |
Es geht sehr viel um Zugehörigkeiten in „Disco Titanic“ – im Prinzip ist… | |
ein identitätspolitischer Roman. Pars pro toto beschreibt ein | |
bosnisch-muslimischer Cafébesitzer, auf den Vlad Ende der Achtziger in | |
Sarajevo trifft, wie Herkunft und Religion in der Region immer schon | |
Konfliktpotenzial bargen: | |
„‚Wir sind Freunde und Verwandte. Wir heiraten untereinander, vergnügen uns | |
und tanzen zu serbischer, kroatischer und zu unserer Musik. Wir gehen zu | |
Wettkämpfen und betrinken uns zusammen. Auch ich trinke rakija‘, erwähnte | |
Nedret stolz und senkte dabei die Stimme. ‚Aber passt auf: Niemand hier | |
vergisst, dass er Serbe oder Bosnier oder orthodox oder katholisch ist. | |
Dass er zu einem Viertel das eine oder zur Hälfte das andere ist. Das | |
wissen alle sehr genau, sie merken es sich und geben es den Kindern | |
weiter.‘“ | |
Aus Vlad wird später ein einigermaßen erfolgreicher Verleger, doch seine | |
Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. So muss er auch mit seiner Frau | |
und seinem Sohn nach Split reisen, um mit sich ins Reine zu kommen. Gheo | |
verwebt gegen Ende kunstvoll die Story der Jugendgang und eines Todesfalls | |
mit der Geschichte der ethnischen Konflikte im postjugoslawischen Raum. | |
## Regionalismus und Separatismus | |
Auch die Grausamkeiten, die von serbischer und kroatischer Seite im | |
Jugoslawienkrieg begangen wurden, greift er auf – eine Figur schildert, was | |
sich Anfang der Neunziger im Militärgefängnis Lora in Split zutrug und wie | |
die jeweiligen Seiten Kriegsgeschehnisse aufwiegen. | |
Radu Pavel Gheo gelingen glaubhafte und mitreißende Dialoge, auch die | |
Beschreibungen sind sehr plastisch, dank ihnen kann man sowohl das alte | |
Jugoslawien als auch das alte Rumänien erspüren. Auf einer höheren Ebene | |
werden in dem Roman daueraktuelle Fragen des Regionalismus und | |
Separatismus, des Aufbegehrens der Ränder gegen die Städte, der | |
(Un-)Möglichkeit der Verständigung nach kriegerischen Katastrophen | |
verhandelt. | |
Einige wenige Nachlässigkeiten im Lektorat sind nur eine Randbemerkung | |
wert, denn man liest diese mehr als 550 Seiten gebannt, insbesondere der | |
Sound der Jugendlichen klingt auch in der deutschen Übersetzung nahbar und | |
toll. | |
16 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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