| # taz.de -- Roman über Litauen zu Sowjetzeiten: Anpassung und Fremdherrschaft | |
| > „Vilnius Poker“ von Ričardas Gavelis ist ein überbordender Roman über … | |
| > sowjetische Besatzung des Baltikums. Nun ist er auf Deutsch erschienen. | |
| Bild: „Vilnius Poker“ zählt zu den bedeutendsten literarischen Werken der … | |
| Als Jazzstück taucht „Vilnius Poker“ in diesem monumentalen Roman zum | |
| ersten Mal auf. Der Protagonist Vytautas Vargalys besucht ein | |
| Underground-Konzert in einer Kirchenruine in Vilnius, und „Vilnius Poker“ | |
| ist der Titel eines Freejazz-Stücks, das sich jeder Linienförmigkeit | |
| widersetzt, das ständig Farben und Richtungen wechselt, das den | |
| Protagonisten in einen Wachtraum versetzt. | |
| Vargalys lauscht gebannt der irrwitzigen Musik, den Trommeln, | |
| Glockenspielen und Gongs, lässt sich ganz vom Sound einnehmen. Das Konzert | |
| wird über mehrere Seiten beschrieben, es ist wie eine Epiphanie für ihn. | |
| Dabei müssen er und die anderen Besucher fürchten, „dass das Musizieren im | |
| entscheidenden Augenblick von Uniformierten brutal abgebrochen werden | |
| würde“. | |
| „Vilnius Poker“ ist auch der Titel des Romans, den der litauische | |
| Schriftsteller Ričardas Gavelis in den achtziger Jahren geschrieben hat. In | |
| seinem Heimatland ist er bereits 1989 erschienen, er zählt zu den | |
| bedeutendsten literarischen Werken der litauischen Moderne überhaupt und | |
| ist der Roman schlechthin über die Zeit der sowjetischen Okkupation in dem | |
| baltischen Land. | |
| Es sagt durchaus etwas über den Blick der westlichen Kultur auf die kleinen | |
| Länder Osteuropas, dass das Buch erst jetzt, 2024, auf Deutsch erschienen | |
| ist. [1][Sebastian Guggolz, der sich in seinem eigenen Verlag schon um die | |
| litauische und osteuropäische Literatur verdient gemacht hat,] hat ihn in | |
| der Klassikerreihe im S. Fischer Verlag veröffentlicht. | |
| ## Geschrieben wie ein experimentelles Musikstück | |
| Der aus vier Teilen bestehende, fast 700 Seiten dicke Roman ist ähnlich | |
| unstringent und unkonventionell wie ein experimentelles Musikstück. Sein | |
| Inhalt ist drastisch, pornografisch, albtraumhaft – und er muss es sein. Im | |
| ersten Teil besteht „Vilnius Poker“ aus schier endlosen inneren Monologen | |
| der Hauptfigur Vytautas Vargalys, in denen sich dieser über politische | |
| Theorie und Platon, über Literatur von Beckett, Orwell, Joyce und Kafka | |
| (durchaus Referenzen für den Autor), über Diktaturen und über das Dasein in | |
| Vilnius in den Siebzigern und Achtzigern auslässt. | |
| Vargalys’ Monologe sind das Kernstück des Romans, sie vermitteln das Bild | |
| einer trägen, von der Sowjetherrschaft ermüdeten und zermürbten Stadt – | |
| die Schilderungen dürfen als Abbild der baltischen Staaten während der | |
| Breschnew-Ära und der Interimszeit bis zur Perestroika gelten (im Roman | |
| heißt das Staatsoberhaupt genialerweise „Leichenoid Breschnew“). | |
| Das Vilnius jener Zeit wird von ihm als „Geisterstadt“ mit „gesichtslosen | |
| Gestalten, die auf den Straßen herumlaufen“, beschrieben, als „kastrierte | |
| Stadt“. Was die Nazis und die Sowjets mit der Stadt gemacht haben, schwingt | |
| immer mit: „Die litauischen Viertel und die jüdischen Viertel – diese | |
| farbigen Städtchen in der Stadt – sind nicht mehr.“ | |
| Protagonist Vytautas Vargalys ist etwa Mitte fünfzig, arbeitet als | |
| Abteilungsleiter in einer Bibliothek und hat die unerfüllbare Aufgabe, den | |
| Katalog zu digitalisieren. Vargalys war einst im Widerstand gegen die | |
| Sowjets, wurde festgenommen, vom KGB gefoltert und in lange Lagerhaft | |
| gesteckt. | |
| Diese Erfahrung hat ihn geprägt, er ist von Paranoia gezeichnet. Wenn er | |
| nicht durch die Straßen streunert, trinkt er, sucht Abwechslung in | |
| Jazzclubs und Erlösung im Sex. Vargalys betrauert den Tod des | |
| Universalgelehrten Gediminas Riauba, der sein Freund und Mentor war. Von | |
| ihm kommt Vargalys nicht ganz los, ebenso wenig von seiner Exfrau Irena, | |
| über die er ausgiebig referiert; so vergleicht er auch Stefanija Monkevič, | |
| seine Kollegin und spätere Begleiterin, mit ihr. | |
| ## Lolita als Erlösungsfigur | |
| Die Erlösungsfigur schlechthin ist für Vargalys aber eine Nabokov’sche | |
| Lolita-Figur, die sein Sexleben und vor allem seine Fantasien bestimmt. In | |
| diesem Fall ist Lolita Banytė-Žilienė oder „Lolka“ aber eine erwachsene | |
| Frau, die ebenfalls in der Bibliothek arbeitet und im Lauf des Romans | |
| grausam zu Tode kommt. | |
| Während der erste Teil aus Vargalys’ Perspektive erzählt wird, folgen | |
| danach drei Kapitel aus der Sicht seines Bibliothekskollegen Martynas Poška | |
| (seine „Martschrift“), seiner Kollegin Stefanija und seines Lehrmeisters | |
| Gediminas Riauba, der, als Hund wiedergeboren, nach Vilnius zurückkehrt. | |
| „Vilnius Poker“ ist ein Roman über den Totalitarismus, besonders im ersten | |
| Teil. Wenn die Personalpronomina großgeschrieben sind, weiß man, dass die | |
| Erzählerfigur von einer (staatlichen) Übermacht erzählt, der er sich | |
| unterlegen fühlt: „Das Fernsehen ist ihre magische Waffe, mit seiner Hilfe | |
| umzingeln SIE dich mit Rotten, Horden und Legionen von scheußlich | |
| auskanukten Kreaturen. SIE versuchen, dich davon zu überzeugen, diese | |
| Kreaturen seien echte, normale Vertreter der Gattung Mensch, und wenn du | |
| nicht bist wie sie – dann ist es deine eigene Schuld, dann bist du nicht | |
| normal.“ | |
| Auch die hier zitierte Wortschöpfung „Kanuke“ oder „kanuken“ erzählt … | |
| der sowjetischen Gesellschaft: ein Kanuke ist bei Gavelis mindestens ein | |
| Opportunist oder Mitläufer, eher noch ein Mensch, der willenlos vor sich | |
| hin existiert und so der Macht dient. | |
| ## Lückenhafte Aufarbeitung | |
| „Kastriert“ worden ist Vilnius erst im Nationalsozialismus und danach im | |
| Stalinismus; Autor Gavelis stellt beide Terrorregime vor allem in den | |
| Dialogen des Protagonisten mit Professor Boilus, einem weiteren Gelehrten, | |
| gegenüber. „Ich wurde mit dem Zug direkt aus Auschwitz hierher gebracht – | |
| ohne Umstieg, ohne Visa. Wie ein Staffelstab – von Hitler direkt an Stalin. | |
| Nicht nur ich – wir alle … Millionen …“, sagt dieser. | |
| Die Aufarbeitung konzentriert sich dabei bis heute in Litauen eher auf die | |
| stalinistische Herrschaft, die NS-Zeit wird in Vilnius vergleichsweise | |
| wenig verhandelt – etwa im Museum der Okkupationen und Freiheitskämpfe, wo | |
| dem KGB-Verbrechen unverhältnismäßig viel mehr Platz eingeräumt wird als | |
| dem Gestapo-Terror zwischen 1941 und 1944. | |
| Neben den totalitären Epochen des 20. Jahrhunderts gibt es viele weitere | |
| Verweise auf die litauische Geschichte. Die Figur Gediminas spielt auf den | |
| gleichnamigen Großfürsten an, der aus Litauen im 14. Jahrhundert eine | |
| Großmacht machte. Dem Mythos nach bekam Gediminas in einem Traum von einem | |
| Eisernen Wolf den Auftrag zur Gründung der Stadt Vilnius; der Eiserne Wolf | |
| spielt auch beim Plot des Romans eine Rolle. | |
| Zu Gediminas’ Zeit wurde Vilnius auch erstmals urkundlich als Hauptstadt | |
| Litauens erwähnt. Der Name Vytautas referiert hingegen auf Vytautas den | |
| Großen, den Enkel von Gediminas. Er war ebenfalls litauischer Herrscher, | |
| Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts. | |
| ## Einfluss auf Kunst und Kultur | |
| „Vilnius Poker“ ist der bedeutendste Roman von Ričardas Gavelis, der 2002 | |
| im Alter von nur 51 Jahren starb. Gavelis arbeitete zunächst als Physiker, | |
| ehe er sich dem Schreiben von Novellen, Romanen und Theaterstücken widmete. | |
| Bekannte Werke von ihm in Litauen sind „Vilniaus džiasas“ (1993, „Vilnius | |
| Jazz“) und „Paskutinioji žemės žmonių karta“ (1995, etwa: „Die letz… | |
| Generation der Menschen auf der Erde“). | |
| Über sein Hauptwerk „Vilius Poker“, dessen Entwurf 1985 fertig war, sagte | |
| er einmal: „Erwischen sie mich damit, und noch keiner hat es gelesen – dann | |
| wird es auch keiner mehr lesen. Wohin ich selbst in diesem Fall gelangt | |
| wäre, daran bemühte ich mich, nicht zu denken.“ Bis heute beeinflusst | |
| „Vilnius Poker“ die litauische Kunst und Kultur. Zum 700-jährigen | |
| Stadtjubiläum eröffnete 2023 eine große Ausstellung zum Roman. | |
| Besonders an „Vilnius Poker“ ist, dass auch die Litauer darin nicht aus der | |
| Verantwortung entlassen werden; ihre Angepasstheit ermöglicht erst das | |
| Fortbestehen der Fremdherrschaft. Gavelis schreibt entsprechend nicht nur | |
| über den Homo sovieticus, sondern auch über den Homo lithuanicus: „Der Homo | |
| lithuanicus leckt sich die Lippen vor Aufregung, wenn er die Oper über | |
| Pilėnai hört, aber Kalanta [litauischer Dissident, Anm d. A.] ist in ganz | |
| Litauen der Einzige gewesen, der sich selbst verbrannt hat. Alle anderen | |
| fügen sich überaus tapfer in die Sklaverei“, heißt es in einer Passage. | |
| Freunde hat sich Gavelis mit diesem wahrhaftigen Roman sicher nirgends | |
| gemacht. | |
| ## Soghaft und rhythmisch | |
| Gavelis’ Sprache entwickelt einen starken Sog, dank Übersetzerin Claudia | |
| Sinnig hat sie auch im Deutschen einen tollen Rhythmus. „Vilnius Poker“ ist | |
| dennoch harte Lektüre, bei den Schilderungen von Lagerhaft, Folter und | |
| Vergewaltigung spart Gavelis schreckliche Details nicht aus. Frauen werden | |
| aus der Perspektive des Protagonisten als ihm und seinem Begehren dienende | |
| Figuren beschrieben. | |
| So wie die Figur angelegt ist, muss man das aber nicht unbedingt affirmativ | |
| lesen. Es gibt bestürzende Parallelen zur Gegenwart, nicht nur hat man das | |
| Putin-Regime oft vor Augen, auch das Abkippen von Demokratien in die | |
| Diktatur scheint hier immer wieder Thema zu sein: „In der Bahnhofskneipe | |
| begannen in mir wieder alle Zweifel zu brodeln, wieder kam mir die einfache | |
| Frage in den Sinn: Was ist hier los? Plötzlich begriff ich, dass Menschen, | |
| ganze Nationen, die größten Länder auf genau diese Weise zugrunde gehen – | |
| sie stellen nicht rechtzeitig und laut die Frage: Was ist hier los? (Man | |
| erinnere sich nur an die Geburt von Nazideutschland.)“ | |
| Die Fäden hält der Autor gekonnt zusammen, und natürlich ist es auch kein | |
| Zufall, dass Jazzmusik so zentral vorkommt. Denn Vilinus war ein wichtiges | |
| Zentrum des Jazz in der Sowjetzeit, über Litauens Grenzen hinaus wurde | |
| etwa das Ganelin Trio bekannt, eine in Intellektuellenkreisen der späten | |
| UdSSR beliebte Avantgardegruppe. Jazz war Freiraum, bot die Möglichkeit | |
| auszubrechen aus dem monotonen Alltag, konnte Widerstand sein. | |
| „Jazz ist außerordentlich gefährlich für SIE, die der Welt den Gedanken | |
| übergestülpt haben, dass Musik das akribische Wiederholen von hundertmal | |
| gehörten, ausgeleierten Melodien und Regeln sei, dass Musizieren darin | |
| bestehen würde, auf dieselbe Weise dieselben Töne aus denselben | |
| Instrumenten herauszuholen“, heißt es in einer Romanpassage. [2][Diese | |
| Freiheit des Jazz] hat Gavelis in „Vilnius Poker“ durchaus auf das Genre | |
| des Romans übertragen. | |
| 29 Jan 2025 | |
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| Jens Uthoff | |
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