| # taz.de -- Jazzfest Vilnius: Eine Ahnung von Freiheit | |
| > In Litauens Hauptstadt Vilnius sind die langen Nächte angebrochen. | |
| > Literatur und Musik helfen, nur der imperiale Nachbar Russland stört. | |
| Bild: Estrada-Sänger Jonas Mašanauskas singt „Vilniaus stogai“ (Dächer v… | |
| Das Restaurant Neringa in Vilnius bietet Jazz undercover. Gegründet 1959, | |
| als Litauen noch hinter dem Eisernen Vorhang lag und zum Imperium der | |
| Sowjetunion gehörte, hat sich das Lokal zur Institution entwickelt. Das | |
| liegt am Ganelin Trio, drei auch aus Funk und Fernsehen bekannte litauische | |
| Musiker, die zur Neringa-Hausband wurden. | |
| Dort gab es den besten Jazz in der UdSSR zu hören, schreibt der | |
| Schriftsteller Tomas Venclova. Die Intellektuellen kamen, hörten zu und | |
| diskutierten über Kultur, vor allem solche, die es in Vilnius nicht gab. | |
| Jazz blieb in Litauen dissidente Musik. Er stiftete eine Ahnung von | |
| Freiheit. Das scheint von der Gegenwart aus zwar weit weg, und trotzdem ist | |
| Ende November in der Stadt eine Kriechkälte wie früher im Kalten Krieg. | |
| Die Altstadt von Vilnius, in der sich das Restaurant Neringa befindet, ist | |
| pittoresk. Doch die Schönheit hat es gegen die um diese Jahreszeit | |
| trostlose Kälte nicht leicht. Auch tagsüber bleibt es düster. Wenigstens | |
| ist es im Neringa behaglich. Gedämpfte Tischgespräche zu leise säuselndem | |
| Jazz lassen Spionagethriller-Ambiente aufkommen. An der Wand hinter der | |
| Bühne ein Gemälde mit tanzenden Paaren. | |
| In den 1970ern gastierte das Ganelin Trio (benannt nach dem Pianisten | |
| Vyacheslaw Ganelin, der zusammen mit dem Schlagzeuger Vladimir Tarasov und | |
| dem Saxofonisten Vladimir Chekasin die Besetzung bildete) hier wöchentlich. | |
| In ihre Setlists schmuggelten sie Standards, in sowjetischer Diktion | |
| „dekadente Westmusik“. Man klassifizierte den Sound des Ganelin Trios als | |
| Freejazz, obwohl er nach Bebop klingt und deutliche E-Musik-Einflüsse und | |
| Filmmusik aufweist, so wie beim Album „Con Anima“ (1976). Die Songs klingen | |
| verworren, ungewiss, ähnlich dem Status der Dissidenten, die hofften, das | |
| Sowjetimperium würde irgendwann untergehen. | |
| ## Allgegenwärtige Geschichte | |
| Geschichte ist in Vilnius, das sich für das 700-jährige Stadtjubiläum im | |
| kommenden Jahr rüstet, allgegenwärtig. Man wünscht sich mehr Wahrnehmung im | |
| Westen. Das kulturelle Erbe ist unübersehbar: Barockkirchen stehen in | |
| Sichtweite prachtvoller Gründerzeithäuser, direkt daneben kastenförmiger | |
| sowjetischer Brutalismus. | |
| Vilnius war immer eine multikulturelle Stadt, auch durch ihre im 16. | |
| Jahrhundert gegründete Universität, die als Erste in Nordosteuropa gilt, | |
| wurden Ortsfremde gezielt angeworben. Italienische Baumeister haben Spuren | |
| hinterlassen, genau wie Polen, Russen, Skandinavier und Deutsche. | |
| Oft haben sich Herrschaftsverhältnisse geändert, eines blieb jedoch gleich: | |
| Man hat sich [1][in Vilnius nach Westen orientiert], die gefühlte | |
| geografische Lage bezeichnet Venclova als „ständige Peripherie“. Es sei | |
| „eine exzentrische, kapriziöse, unregelmäßige Stadt“. | |
| Die Historikerin Lina Duseviciene, die mich durch verschiedene Viertel | |
| führt, erklärt, der Zweite Weltkrieg habe für sie erst 1990 aufgehört, als | |
| Litauen seine Unabhängigkeit von der UdSSR erklärt hat. Wie viele | |
| Litauer:Innen hat auch sie Angehörige verloren, die in der | |
| stalinistischen Sowjetunion schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nach | |
| Osten deportiert wurden, in ihrem Fall nach Kasachstan. | |
| ## Raves und neue Labels | |
| Edmundas Puckorius verschwendet wenig Zeit an die Geschichte. Der | |
| 32-Jährige ist Macher des Labels Antidote und veranstaltet Raves, im | |
| Kablys, einem Club, der im wuchtigen ehemaligen Haus der sowjetischen | |
| Eisenbahnarbeiter untergebracht ist. Außen an der Fassade erinnert noch | |
| eine Skulptur an die Kupplungen, mit denen Güterwaggons verbunden werden. | |
| Drinnen treten namhafte DJs und Künstler:Innen aus England und | |
| Deutschland auf. | |
| Puckorius erklärt, dass Litauen als kleines Land viel Popkultur importiert | |
| und noch zu wenig selbst kreiert. Die [2][Flyer werden von belarussischen | |
| GrafikerInnen gestaltet]. Obwohl die Grenze zu Belarus nur 30 Kilometer | |
| entfernt ist, scheint es viel weiter weg, gesteht er. Die meisten der nach | |
| der Unabhängigkeit 1990 geborenen LitauerInnen orientieren sich in den | |
| angloamerikanischen Raum. | |
| Die Kälte wird fieser. Das liegt auch an der Location, in die ich gebeten | |
| werde: Das Lukiskes-Gefängnis, eröffnet 1905, als Litauen zum zaristischen | |
| Reich gehörte. Während der Besetzung durch die Wehrmacht 1941 wurden hier | |
| Juden gefoltert, bevor sie in den Wäldern rings um Vilnius erschossen | |
| wurden. | |
| Nach der Rückeroberung Litauens durch [3][die Sowjets, 1944, hielt der | |
| NKWD] vor allem Polen gefangen. In den 1970ern saßen auch Bürgerrechtler | |
| hier ein. Seit 2019 wird das Gelände als alternatives Kulturzentrum | |
| genutzt, mit Bühnen, Übungsräumen und Aufnahmestudio. | |
| ## Filmarbeiten im früheren Sowjet-Knast | |
| Am Abend sind dort Dreharbeiten der Literaturverfilmung des Samisdat-Romans | |
| „Vilnius Poker“. Verfasst von dem Physiker und Autor Ricardas Gavelis (1950 | |
| –2002) und noch vor der Unabhängigkeit 1990 erschienen, ist das Werk ein | |
| rastloser Albtraum, in dem Gavelis den paranoiden Bewusstseinsstrom eines | |
| Bibliothekars aufzeichnet, der im Vilnius der 1970er und 1980er Jahre vor | |
| einer ungenannt bleibenden Macht Zuflucht bei Literatur und Jazz sucht. | |
| Die Verfilmung soll 2023 fertiggestellt sein, heute wird ein Trailer | |
| aufgezeichnet und ein Konzert in voller Länge. Live eingespielt vor einem | |
| in Schwarz gekleideten Komparsenpublikum, präsentiert sich die 20-köpfige | |
| Bigband in bestechender Form. Gitterstäbe und Sicherheitsschleusen sind in | |
| grelles Licht getaucht, die Musiker sind in roten Hemden, schwarzen | |
| Schlipsen und Gummischürzen gekleidet. | |
| Ein wenig wie Rammstein, nur ist die Musik um ein Vielfaches subtiler. Was | |
| zunächst wie konventioneller Bigband-Jazz klingt, wird von Song zu Song | |
| klaustrophobischer, als sei Peter Herbolzheimer mit seiner Band in einen | |
| Escaperoom eingesperrt worden. Es wird auch mit der Akustik des Raums | |
| gearbeitet, Bläsersätze und Orgelsoli verschwimmen. | |
| Auch er möchte die Vergangenheit Litauens hinter sich lassen, aber das | |
| ginge gar nicht, gesteht Filmkomponist Jievaras Jasinskis, der als bester | |
| Posaunist des Landes gilt. Für den Soundtrack zu „Vilnius Poker“ hat er | |
| sich vom letzten Satz des Romans inspirieren lassen: „Hunde können nicht | |
| zwischen Träumen und Realität unterscheiden.“ Wie bei dem titelgebenden | |
| Kartenspiel geht es im Roman ums Täuschen, es ist ein Vexierspiel um | |
| Freiheit mit Jazz als Ausflucht. | |
| ## Die Dächer von Vilnius | |
| Plötzlich brandet frenetischer Jubel auf, der Sänger Jonas Mašanauskas | |
| taucht inmitten der Band auf und spielt seinen Hit von 1966 [4][„Vilniaus | |
| stogai“] (Dächer von Vilnius), eine Ode auf die Jugend. Estrada hat man | |
| diese Musik in Litauen genannt. Die Bigband fängt den Veteranen auf, und | |
| sein Song, eine Mischung aus Easy Listening und | |
| 60er-Jahre-Instrumentalrock, landet mit feinem Jazzarrangement in der | |
| Gegenwart. | |
| Der Fokus von Victor Diawara liegt eher auf Rockkonzerten und Raves. Gerade | |
| versucht er ein Elfa-Tonbandgerät sowjetischer Bauart in Gang zu bringen. | |
| Der malisch-litauische Konzertveranstalter betreibt seit 2007 Loftas Hall, | |
| einen großen Konzertraum in der ehemaligen Fabrikhalle, in der einst | |
| diese Tonbandgeräte hergestellt wurden. | |
| Schon am 28. Februar hat er ein Solidaritätskonzert für die Ukraine | |
| veranstaltet und bis heute rund 180.000 Euro für humanitäre Zwecke | |
| eingesammelt. Vilnius sei eine sehr tolerante Stadt, erklärt Diawara, der | |
| fließend Deutsch spricht, seit er in Hüttenfeld bei Mannheim aufs | |
| Litauische Gymnasium ging. | |
| Diawaras Motto in seinem Club: „For the people by the people.“ Alles wird | |
| in Eigenregie instand gehalten. Und dann drehen sich die Spulen des | |
| Tonbands wieder, verspulter Progrock, klingt atmosphärisch und warm. | |
| Anmerkung der Redaktion: Diese Recherche wurde von GoVilnius unterstützt. | |
| 20 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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