Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Autor Viktor Martinowitsch über sein Land: „Die Belarussen sind …
> Viktor Martinowitsch schreibt Romane, die in Belarus nicht in die Läden
> kommen. Ein Gespräch über Isolation und Hoffnung.
Bild: Viktor Martinowitsch lebt in Minsk. Er lehrt an der Europäischen Humanis…
Viktor Martinowitsch sitzt an einem Märzvormittag in der Arbeitswohnung
seines Verlegers in München-Haidhausen an einem Konferenztisch. Der
belarussische Schriftsteller trägt Jackett und Hemd, hat die Haare
hochgekämmt, blickt starr auf eine Tasse Kaffee vor ihm. Am Vorabend hat
die Theateradaption seines Romans „Revolution“ in München Premiere
gefeiert, Martinowitsch stellte zudem seinen Roman „Nacht“ vor.
wochentaz: Herr Martinowitsch, Sie leben weiterhin in ihrer Heimat Belarus,
obwohl Ihre Bücher dort aus den Läden verbannt wurden und Sie nicht
auftreten können. Würden Sie sagen, Sie befinden sich im inneren Exil?
Viktor Martinowitsch: Der Begriff des inneren Exils ist wohl zutreffend.
Meine Bücher „Revolution“ und „Nacht“ sind in Belarus erschienen, aber…
aus den Regalen entfernt worden. Seit drei Jahren habe ich in meinem
Heimatland keine Bühne mehr betreten, mein letzter Facebook-Post ist ein
halbes Jahr her. In Belarus bin ich als Schriftsteller und Autor unsichtbar
geworden.
Sie leben in Minsk. Wie ist dort die Atmosphäre zweieinhalb Jahre nach der
gescheiterten Revolution und nach all den Gewaltexzessen des Regimes gegen
die Opposition?
Die Situation lässt sich kaum in wenigen Worten beschreiben. Erst einmal
gibt es keine unabhängigen Medien mehr. Es gibt Telegram, ja, aber wenn man
dort bestimmte Kanäle abonniert hat, kann man ins Gefängnis kommen. Die
offizielle Zahl der politischen Gefangenen ist erschreckend hoch, daneben
gibt es eine große Anzahl von Menschen, die ohne rechtsstaatliches
Verfahren 15 Tage inhaftiert werden – das ist ein Standardstrafmaß bei den
willkürlichen Festnahmen. In einem belarussischen Gefängnis reichen 15 Tage
aus für ein Trauma. Ein vorherrschendes Gefühl im Land ist Einsamkeit. Auch
für mich persönlich, ich fühle mich allein und isoliert. Meine beiden Hände
reichen nicht aus, um zu zählen, wie viele gute Freunde von mir derzeit im
Gefängnis sind. Und diejenigen, die nicht im Gefängnis sind, sind geflohen.
Wieso bleiben Sie dennoch in Minsk, wieso setzen Sie sich großer Gefahr
aus?
Ich bin der Meinung, die wichtigen Bücher über diese dunkle, dunkle Zeit,
in der wir leben, werden von denen geschrieben, die diese Zeit vor Ort
selbst erleben und bleiben.
Sie können zwar arbeiten und schreiben, aber nicht in Belarus publizieren.
Ich dachte, ich könnte das System überlisten, indem ich ein Märchen
schreibe. Das war eine lustige Geschichte. Ich habe ein Märchen für Kinder
geschrieben, das in einer Katzenwelt spielte. Ich schickte das Manuskript
einem Verlag zu. Sie sagten: Okay, wir werden das Buch veröffentlichen.
Doch einen Monat, nachdem ich den Text eingereicht hatte, wurde in Belarus
Joseph Brodskys „Ballade vom kleinen Schleppboot“ als „extremistisch“
eingestuft und verboten – ein Kindergedicht! Daraufhin sagte mir mein
Verleger, wir müssten warten mit der Veröffentlichung. Bis heute ist das
Märchen nicht erschienen. Ich kann also nicht einmal ein Kinderbuch in
Belarus veröffentlichen. Ich kann nur dasitzen, Musik hören und viel lesen.
Musik spielt ja des Öfteren eine Rolle in Ihren Romanen. Welche Musik hören
Sie?
Ich höre Bachs „Matthäus-Passion“, besonders das Stück „Erbarme dich, …
Gott“ rührt mich geradezu zu Tränen. Ich liebe auch Haydn und Mozart, und
mein Meister des Schmerzes ist wohl Monteverdi. Aber ich lege auch alte
Songs von David Bowie oder Pink Floyd auf. Ich habe einen Keller mit einer
guten Hi-Fi-Anlage. Da sitze ich [1][gern mal einen Abend lang und höre
Musik.]
Woran schreiben Sie gerade?
Gerade arbeite ich an einem Text über die Macht des Guten oder die Macht
der Güte. Abstrakt gesprochen geht es darum, wie das Gute das Böse
bezwingen kann, ohne selbst zum Bösen zu werden. Wie können wir die
Brutalität und die Gewalt stoppen, ohne selbst zu Gewalt zu greifen? In
Belarus sind wir allerdings in einer Situation, in der es so viel
Brutalität gegeben hat, so viele Menschen inhaftiert worden sind, dass eine
solche Überlegung sinn- oder aussichtslos erscheint.
Auch wenn wir an den Krieg in der Ukraine denken, scheint das derzeit nur
ein philosophischer Gedanke, nicht aber eine realpolitische Option zu sein.
Ja. Es ist zu spät. Erst wenn der Krieg gestoppt wird – und es wird
unmöglich sein, ihn mit einfachen Mitteln zu stoppen –, kann man wieder
über Worte nachdenken und über so etwas wie Güte.
Die Belarussen werden jetzt oft als Aggressor gesehen, gerade von
Ukrainern. Wie bewerten Sie das?
Ich verstehe die Ukrainer auf der einen Seite, weil ich mir vorstellen
kann, wie viel Schmerz sie erlitten haben. Ich kann nur betonen, dass
[2][die belarussische Bevölkerung nicht schuld ist.] Wir haben in den
vergangenen drei Jahren viel getan, um zu zeigen, dass wir nicht für die
Taten verantwortlich sind, die in unserem Namen begangen wurden und werden.
Fragen Sie sich manchmal, was passiert wäre, wenn die Revolution in Belarus
2020 erfolgreich gewesen wäre?
Für mich ist klar, dass der Krieg dann eineinhalb Jahre früher begonnen und
auf unserem Territorium stattgefunden hätte. Russland hätte darauf ähnlich
reagiert wie auf den Euromaidan und den Sturz Wiktor Janukowitschs in der
Ukraine.
Schreiben Sie eigentlich derzeit auf Russisch oder auf Belarussisch?
Das Kindermärchen habe ich in belarussischer Sprache geschrieben, ebenso
ein Theaterstück über den Tod eines Dichters. Das Stück reichte ich Anfang
2021 ein, es wurde angenommen, ich erhielt einen Vorschuss. Dann wurde es
vom Staat abgesetzt, und ich musste das Geld zurückzahlen. Inzwischen
schreibe ich auch deshalb zum Teil auf Russisch, weil ich weiß, dass ich in
Belarus nicht veröffentlichen kann. Es gibt mehr Übersetzer aus dem
Russischen als aus dem Belarussischen, das macht es einfacher für mich.
Ihre jüngsten Bücher lesen sich wie düstere Prognosen. In „Nacht“ (im
Original 2018 erschienen) folgt man dem Protagonisten, dem Antiquar
Knischnik, durch ein postapokalyptisches Belarus, das an ein Schlachtfeld
erinnert.
„Nacht“ vermittelt das Gefühl, das ich vor dem russischen Angriffskrieg
hatte und das ich auch jetzt noch habe: Wir leben in einem neuen Zeitalter
der (Selbst-)Zerstörung. Als ich die ersten Berichte über das bombardierte
Kyjiw gelesen habe und die Menschen, die in der Dunkelheit ausharren
müssen, hatte ich viele Flashbacks zu dem Romantext. Viele Menschen sind
aus Belarus in die Ukraine geflohen, weil sie dachten, das sei ein sicherer
Hafen. Was für ein Irrglaube.
Sie sagten bei Ihrer Lesung in München, „Nacht“ sei eine Parabel. Blicken
Sie also ausschließlich pessimistisch in die Zukunft?
Im Moment ja, das will ich nicht bestreiten. [3][Es fühlt sich an, als sei
diese Welt an ein Ende gekommen] – hier im wohlhabenden München ist es
weniger offensichtlich, in Belarus dagegen schon. Man spürt sehr konkret,
was schiefläuft in der Welt. Und Sie können sich vorstellen, wie viele
Menschen in Uniform auf den Straßen dort unterwegs sind.
Sollte das russische Regime fallen oder Russland besiegt werden, könnte es
aber doch Hoffnung geben.
Selbst wenn das passieren sollte: [4][Was für ein Russland wird das danach
sein?] Ich bin mir nicht sicher, ob ein anderes Russland mit Atomwaffen auf
seinem Territorium sicherer wäre als das jetzige Russland.
In „Nacht“ beziehen Sie sich auf die Erzählungen des griechischen
Geschichtsschreibers Herodot. Welchen Hintergrund hat das?
Die Historien des Herodot sind meine Lieblingserzählungen, noch vor Suetons
Bücher über das Leben der Kaiser. Herodot behandelt Geschichte auf eine
andere Art und Weise als wir in der heutigen Zeit, er behandelt sie als
etwas Flüssiges, Dehnbares. Er erschafft Geschichte gewissermaßen.
Vielleicht kennen Sie auch Umberto Ecos Roman „Baudolino“: Dort werden all
die wundersamen mittelalterlichen Gestalten in der Handlung irgendwann
real. Das ist ähnlich wie bei Herodot: Fantasie und Realität werden
vermischt. Das heißt auch: Man muss kritisch sein, wenn man es liest.
Man merkt Ihnen und Ihrer Literatur an, dass Sie versuchen, den Humor zu
bewahren. Gibt es im heutigen Belarus, in dieser geschlossenen
Gesellschaft, überhaupt noch subversiven Humor?
Oh, ja, doch. Ich finde mich zumindest in absolut grotesken Situationen
wieder. Lassen Sie mich eine schildern: Neulich stand ich an einer
Straßenkreuzung, neben mir eine Frau in blauer Uniform mit der Aufschrift
„Investigative Committee“. Eine Beamtin der Untersuchungsbehörden also, ich
wusste, es könnte ernst werden. Ich überquerte die Straße mit wackligen
Knien, sie hinter mir. Irgendwann überholte sie mich und sagte: „Hallo.
Folgen Sie mir.“ Sie sagte es in diesem offiziellen Ton. Ich bin ihr also
gefolgt und dachte, ich wäre verhaftet worden. Nach zweihundert Metern
Fußmarsch fragte ich sie: „Warum verhaften Sie mich?“ Und sie sagte: „Bi…
du Sergei?“ – Ich: „Nein.“ – Sie: „Ich habe auf Sergei gewartet. Wa…
Sie mir gefolgt?“ Sie ließ mich also gehen. Ich habe einfach getan, was sie
gesagt hat, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Diese absurde Szene
erzählt wohl sehr viel über die heutige Zeit in Belarus.
5 Apr 2023
## LINKS
[1] /Jazzfest-Vilnius/!5893520
[2] /Belarussische-Kunst-in-Polen/!5844681
[3] /Belarussische-Autoren-zum-Ukrainekrieg/!5858906
[4] /Politologe-zu-Putins-Kriegszielen/!5860659
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
wochentaz
Interview
Belarus
Autor
Roman
Schriftsteller
politische Gefangene
Minsk
GNS
Kolumne Krieg und Frieden
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Belarus
Litauen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verhältnis von Belarus und Ukraine: Kein Kinderspiel
Belarus und die Ukraine üben sich in wechselseitiger Einschüchterung. Mit
Großplakaten an der Grenze setzen sie die Gegenseite unter Druck.
Georgische Autorin über Sowjetunion: „Eine patriarchale, gewalttätige Zeit�…
Russland werde unter Putin seine Geschichte nie aufarbeiten können, sagt
die aus Georgien stammende Theaterregisseurin und Autorin Nino
Haratischwili.
In Belarus aus dem Knast geschmuggelt: Der Gesang der Gefangenen
Der Anwalt Maxim Znak schrieb als politischer Gefangener in Belarus
Geschichten. Nun liegen sie unter dem Titel „Zekamerone“ auf Deutsch vor.
Jazzfest Vilnius: Eine Ahnung von Freiheit
In Litauens Hauptstadt Vilnius sind die langen Nächte angebrochen.
Literatur und Musik helfen, nur der imperiale Nachbar Russland stört.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.