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# taz.de -- In Belarus aus dem Knast geschmuggelt: Der Gesang der Gefangenen
> Der Anwalt Maxim Znak schrieb als politischer Gefangener in Belarus
> Geschichten. Nun liegen sie unter dem Titel „Zekamerone“ auf Deutsch vor.
Bild: Maxim Znak im Gerichtssaal, am Tag der Urteilsverkündung im September 20…
Das letzte Bild, das von Maxim Znak durch die Presse ging, zeigt ihn in
einem Gericht in Minsk, [1][gemeinsam mit der Bürgerrechtlerin Maria
Kolesnikowa]. Es ist vom September 2021, die beiden belarussischen
Oppositionellen waren zu elf beziehungsweise zehn Jahren Haft verurteilt
worden, noch in Handschellen formte Maria Kolesnikowa das Herzchensymbol
mit ihren Händen.
Maxim Znak war Anwalt der oppositionellen Politikerin gewesen, der Jurist
war zudem Teil des demokratischen Koordinierungsrats, der nach den
landesweiten Protesten 2020 einen friedlichen Machtwechsel organisieren
sollte. Daraus wurde bekanntlich nichts. Alle Mitglieder des Rats befinden
sich heute in Haft oder im Exil.
Auch Maxim Znak ist weiter inhaftiert, er sitzt inzwischen in der
Wizba-Haftanstalt Nr. 3 in der Nähe der Stadt Wizebsk. Mundtot machen vom
Lukaschenko-Regime lässt er sich trotzdem nicht. Denn nun ist ein Buch von
ihm auf Deutsch erschienen mit Aufzeichnungen, die Znak aus dem Gefängnis
schmuggeln konnte.
## 100 kleine Texte
Es sind 100 kleine Texte, meist zwei- oder dreiseitige Miniaturen, die vom
Leben in der Haft handeln, weniger dokumentarisch als vielmehr literarisch.
So erzählt Znak auch nicht aus der Ich-Perspektive, sondern schreibt meist
aus Sicht eines personalen Erzählers. „Zekamerone“ heißt das Buch. „Zek…
ist ein russisches Wort für Gefangener, auch die Gulag-Insassen nannte man
zu Sowjetzeiten so.
Znak, 1981 in Minsk geboren, erweist sich in „Zekamerone“ als guter
Schriftsteller, über den Wahnsinn hinter Gittern verfasst er teils
lakonische, teils kafkaeske Geschichten. Er schreibt von Kakerlaken und
einem Pilz an der Wand („Er war vermutlich schon immer dort und wurde als
Erbstück weitergegeben, wenn die Belegschaften der U-Häftlinge von Zeit zu
Zeit wechselten“), von Geräuschen und Gerüchen, von seinem Hungerstreik, in
den er kurz nach seiner Inhaftierung im September 2020 getreten war und aus
dem er nach neun Tagen austrat. Auch die Kommunikation im Knast ist Thema,
eine Geschichte handelt vom „Ururu“, der Verständigung über die Steigrohre
der Toiletten in den Zellen.
Am stärksten sind seine Geschichten vielleicht da, wo Znak die so groteske
wie grausame belarussische Gefängniswelt persifliert, zum Beispiel in den
Dialogen der Inhaftierten mit den Zellenkontrolleuren: „Gibt es Fragen?“ –
„Keine Fragen, Bürger Vorgesetzter!“ – „Führt man euch auf den Hof?�…
„Jeden Tag, Bürger Vorgesetzter!“ – „Und bei Regen?“ – „Besonder…
Regen, Bürger Vorgesetzter!“. Die Gefangenen in Belarus sind angehalten,
die Mitarbeiter der Gefängnisverwaltung mit dem Ausdruck graschdanin
natschalnik („Bürger Vorgesetzter“) anzusprechen, auch dieser Begriff
stammt noch aus Sowjetzeiten.
## „Mama, ich bin verliebt!“
Die sinnliche Abstumpfung ist auch Thema, Znak beschreibt, wie der
Fernseher Tag und Nacht läuft, wie sehr die Musik fehlt und was für ein
willkommenes Zeichen von Menschlichkeit es ist, wenn dumpfer Gesang aus dem
Frauen- in den Männertrakt durchdringt: „Aus dem Frauentrakt ertönte durch
Dutzende Wände ein verwegener Chor: ‚Mama, ich bin verliebt! In ein
Arschloch!!! Sag mir warum, weshalb, in ein Arschloch?!‘ Das war lebendige
Musik und die beste Musik überhaupt.“
Diese Buchveröffentlichung hat natürlich nicht nur literarischen Wert, sie
dient hoffentlich auch dazu, auf die Lage der politischen Gefangenen und
jener Oppositioneller, die sich noch immer im Land aufhalten, aufmerksam zu
machen.
Die Zahl der „Politischen“ in Belarus ist auf einem Höchststand, laut der
belarussischen Menschenrechtsorganisation Viasna waren Mitte Januar 1.438
Personen als politische Gefangene inhaftiert.
## Alle Belarussen im Gefängnis
Zugleich gerät Belarus angesichts des Kriegs in der Ukraine in
Vergessenheit – oder es wird nur über die Unterstützung Russlands durch das
Lukaschenko-Regime gesprochen. Dabei sind die eindrücklichen Worte, die die
– im Exil lebende – belarussische Lyrikerin Valzhyna Mort im Nachwort zu
„Zekamerone“ findet, zutreffender denn je: „Im Grunde leben alle Belaruss…
in einem Gefängnis. Doch gibt es innerhalb dieses Gefängnisses, das so groß
ist wie ein ganzes Land, wiederum wirkliche Gefängnisse mit Zellen
(‚Häusern‘) und in diesen wiederum kleinere Einzelhaftzellen – wie
russische Matrjoschkas. In diesen Einzelhaftzellen sitzt oft ein Mensch,
der im Inneren ein leeres ‚Haus‘ trägt – ein Magen im Hungerstreik.“
Es macht jedoch Mut, zu lesen, wie sich Znak auch im Gefängnis nicht
kleinkriegen lässt, wie er die Waffen einsetzt, die Diktatoren wie
Lukaschenko am meisten verabscheuen: Humor, Esprit, Öffentlichkeit.
Auch für den Widerstandswillen des 41-Jährigen findet Valzhyna Mort in
einem nachgestellten Kommentar berührende Worte: „Als ihm alles genommen
wurde, erwies sich sein Wille, die Welt durch Sprache und Fantasie zu
verändern, als die lebenswichtigste seiner vielen Fähigkeiten. Die Freiheit
des Ausdrucks kann nicht genommen werden.“ Diese 100 Kurzgeschichten zeugen
davon.
24 Jan 2023
## LINKS
[1] /Urteil-gegen-Oppositionelle-in-Belarus/!5795367
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Belarus
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Belarus
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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