Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über Wehrmachtsverbrechen: Und die Erde fing Feuer
> In den 1970ern protokollierten drei Autoren Wehrmachtsverbrechen im
> heutigen Belarus. Ihre mit Prosa garnierten Berichte sind nun auf Deutsch
> erschienen.
Bild: Kradschützen der Wehrmacht durchqueren 1941 die Stadt Sluzk im heutigen …
Es braucht keine großen Worte, um vom Grauen einer vernichteten Existenz zu
erzählen. „Das Dach brennt schon. Verbrennt ganz. Und die zwei Deutschen
stehen da. Wie blaue Säulen. Und die Wände fangen Feuer. Und dann fängt die
Erde Feuer. Das Grünzeug da fängt Feuer, beim Schuppen. Und ich lieg
mittendrin.“
So erzählt Barbara Adamaŭna Slessartschuk davon, wie Wehrmachtssoldaten
während des Zweiten Weltkrieges ihr Heimatdorf Babrowitschy [1][im heutigen
Belarus] stürmten und niederbrannten.
Während der Besatzungszeit zwischen 1941 und 1944 ermordeten die
Nationalsozialisten dort Historiker:innen zufolge rund zwei Millionen
Menschen. Slessartschuk überlebte, genauso wie rund 300 weitere
Augenzeug:innen, die ihre Geschichten im nun erstmals auf Deutsch
erschienenen Buch „Feuerdörfer“ erzählen.
Die Autoren Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik reisten
Anfang der Siebzigerjahre durch das ehemalige Besatzungsgebiet und suchten
das Gespräch mit Menschen, die von dieser Zeit berichten konnten. Die
Überlebenden erzählten ihnen von Verbrechen grausamen Ausmaßes. Davon, wie
die Bewohner:innen der Dörfer in Scheunen zusammengetrieben und die
Gebäude angesteckt wurden.
Andernorts waren die Menschen vor ihren Häusern reihenweise erschossen
worden. So berichtet Andrej Jauchimawitsch Kuratnik: „Ein Sohn ist mir
geblieben. Unter den Leichen. Meine Mutter ist, als sie sie erschossen
haben, auf ihn gefallen, hat ihn etwas verdeckt. Er wurde seitlich am Bauch
erwischt.“
## Lückenhafte Zeugenaussagen
Anders als in fiktiven Erzählungen, die den Krieg in den besetzten Gebieten
des heutigen Belarus’ verhandeln, brachte das 1975 in der Sowjetunion
erschienene Buch „Feuerdörfer“ die Kriegserfahrungen erstmals in Rohform
zusammen, als direkte Zitate von Überlebenden. Die Menschen sprechen darin,
wie sie wohl tatsächlich erzählten: selten geradlinig, sondern lücken- und
sprunghaft, eben ihrer persönlichen Erinnerung folgend.
„Die Menschen werden so dargestellt, wie sie einem begegnen, mit all ihren
Traumata“, sagt Thomas Weiler, der das Buch nun ins Deutsche übersetzt hat.
Diese Nahbarkeit macht die Lektüre auch heute, fünfzig Jahre nach dem
ersten Erscheinen, berührend und an vielen Stellen nur schwer ertragbar.
Gespickt sind die Zitate der Augenzeug:innen mit kurzen Prosastücken
der Autoren. Darin beschreiben sie mitunter sehr persönlich die Orte und
Begegnungen ihrer vierjährigen Recherche. Aus heutiger Sicht, wo das
geschichtswissenschaftliche Konzept der Oral History mittlerweile durchaus
als institutionalisiert gilt und Quellen möglichst für sich stehen sollen,
wirken einige Kommentare pathetisch und wenig distanziert.
Über die Klagen einer Frau aus dem Dorf Chwojnja heißt es etwa: „Es ist
wahr, Sie sind ein Gemütsmensch, Wolha Andrejeuna! Und so gut und schön Sie
heute auch leben mögen – Sie werden niemals das alles vergessen können, was
war.“
## „Wurzelbuch“ des dokumentarischen Erzählens
Ohne diese Kommentare hätte das Buch nicht erscheinen können, sagt
[2][Irina Scherbakowa], „man muss das Buch als Produkt seiner Zeit sehen.“
Die Kulturwissenschaftlerin ist Gründungsmitglied [3][der mittlerweile in
Russland verbotenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial.]
Zusammen mit Thomas Weiler und weiteren Gästen stellte sie das Buch Ende
letzten Jahres in Berlin vor.
Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs sei im stalinistischen Moskau
ausschließlich als sowjetische Held:innengeschichte erzählt worden.
Das individuelle Leid, das der Krieg für die Menschen bedeutete, habe darin
keinen Platz gefunden. Weil „Feuerdörfer“ dieses an die Öffentlichkeit
brachte, bezeichnet Scherbakowa den Text als ein „Wurzelbuch“ für das
dokumentarische Erzählen.
Auch wenn die Kommentare aus historischer Sicht heute zu vernachlässigen
sind, eröffnen sie eine Möglichkeit, das Buch als mehr als eine reine
Stimmensammlung zu lesen. So beschreiben die Autoren zum Beispiel, wie sie
eine Gruppe von Frauen auf den Krieg ansprechen: „‚Im Krieg war ja hier bei
Ihnen …‘ Und die Frauen erklären lauthals, scheinbar im selben Tonfall:
‚Ja, ja, und wie, da ist keiner unbeschadet davongekommen!‘ Doch schon sind
einige Gesichter nicht mehr ganz anwesend. Das merkt man sofort. Zuerst
sieht man es an den Augen, die irgendwo hängengeblieben sind, in der
Vergangenheit.“
Folgt man dem Autorentrio wie einer Figur, die selbst erlebt, mitfühlt, in
Bann gezogen und überrascht wird, entfaltet sich in den Prosastücken die
literarische Qualität des Textes. Trotz ihres bisweilen salbungsvollen
Tones zeichnen sie ein feinfühliges Bild und ziehen die Leserin hinein in
die Szenen, in denen einem die raue, nüchterne Gewalt umso härter
entgegenschlägt.
## Psychologische Wahrheit
Adamowitsch, Bryl und Kalesnik begriffen ihr Schreiben als das Vermitteln
einer Wahrheit: „Die Wahrheit dieser Erzählungen ist zuallererst eine
psychologische. […] So nah kommt die Erinnerung dem grausigen Geschehen und
führt es einem so abrupt, so unvermittelt in Großaufnahme vor Augen, dass
man selbst quasi zum Zeugen wird, nicht Zuhörer oder Zuschauer, sondern
Zeuge des Geschehens.“
In Abschnitten wie diesem zeigt sich ein Selbstverständnis dreier Autoren,
die ihr Publikum nicht nur trotz der Zensur informieren, sondern sie
persönlich mit der Geschichte konfrontieren wollten, so wie es die
Literatur bestenfalls kann. Sie zielten ab auf ein individuelles
Bewusstsein, das den Interessen jedes totalitären Regimes naturgemäß
zuwiderläuft. Dies gelingt, weil sie sich an ihre Leser:innen weniger
als Historiker und vielmehr als Schriftsteller wenden.
Zwar ist heute der Zugang zu Informationen über Gewaltverbrechen oftmals
leichter geworden, denkt man etwa an die Bilder aus Butscha oder Teheran,
die sich über die sozialen Medien massenhaft verbreiteten. Aber die Fragen
nach ihrer Aufarbeitung sind weiter umkämpft: Was passiert mit diesen
Informationen? Wie und durch wen finden sie irgendwann ihren Weg in das
öffentliche Gedenken, in die Erinnerungskultur, in die Forschung?
Adamowitsch, Bryl und Kalesnik würden vielleicht antworten: über die
Bücherregale der Menschen.
31 Jan 2025
## LINKS
[1] /Autor-Viktor-Martinowitsch-ueber-sein-Land/!5922964
[2] /Irina-Scherbakowa-ueber-Exil-und-Flucht/!6039574
[3] /Auszeichnung-fuer-Memorial-Mitbegruenderin/!6009832
## AUTOREN
Jette Wiese
## TAGS
Belarus
Sowjetunion
Geschichte
Oral History
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Kriegsverbrechen
Wehrmacht
Social-Auswahl
Ausstellung
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Belarus
wochentaz
Belarus
Literatur
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Gewalt ausstellen“ im DHM in Berlin: Als Europa sich ein Bild machte
Schon bald nach 1945 versuchten Ausstellungen, die NS-Verbrechen greifbar
zu machen. Das Deutsche Historische Museum erinnert an sie.
Als Gorbatschow Generalsekretär wurde: Die Chance auf Freiheit existiert
Menschen brauchen die ganze Wahrheit. Michail Gorbatschow lieferte den
Russen diese in einer Rede 1991. Damals dachte man, die Wende sei
vollzogen.
Leipziger Buchpreis für Kristina Bilkau: Die Unruhe einer Mutter, Putins Sprac…
Kristina Bilkau bekommt für „Halbinsel“ den Leipziger Buchpreis. Der
Sachbuchpreis geht an Irina Rastorgueva, der Übersetzerpreis an Thomas
Weiler.
Preis für belarussischen Schriftsteller: Europas Gang vor die Hunde
Alhierd Bacharevič hat in „Europas Hunde“ eine eigene Sprache erfunden, er
schreibt über Nationalismus und Putinismus. Nun erhält er eine
Auszeichnung.
Buch über Russland nach Putin: Postsowjetische Dämonen
In „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“ erzählt Sergei Lebedew von
einem Russland nach Putin. Er setzt auf Vergangenheitsbewältigung.
In Belarus aus dem Knast geschmuggelt: Der Gesang der Gefangenen
Der Anwalt Maxim Znak schrieb als politischer Gefangener in Belarus
Geschichten. Nun liegen sie unter dem Titel „Zekamerone“ auf Deutsch vor.
Neuer Roman von Juri Andruchowytsch: Wenn die Nacht am dunkelsten ist
Der Roman „Radio Nacht“ von Juri Andruchowytsch gleicht einem tiefen
Seufzer über die tragische Situation vieler osteuropäischer Länder.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.