| # taz.de -- Leipziger Buchpreis für Kristina Bilkau: Die Unruhe einer Mutter, … | |
| > Kristina Bilkau bekommt für „Halbinsel“ den Leipziger Buchpreis. Der | |
| > Sachbuchpreis geht an Irina Rastorgueva, der Übersetzerpreis an Thomas | |
| > Weiler. | |
| Bild: Die Autorin Kristine Bilkau hat für ihren Roman „Halbinsel“ den Prei… | |
| Die Jury für den Leipziger Buchpreis hat eine neue Vorsitzende. Katrin | |
| Schumacher heißt sie. Sie ist Literaturredakteurin des MDR und dürfte | |
| aufmerksamen Zuschauer*innen etwa aus der Sendung Kulturzeit bekannt | |
| sein. In die Moderation der Preisverleihung der Leipziger Buchpreise | |
| brachte sie eine gewisse Lockerheit mit. Zu den hübschen Unfällen, die den | |
| Verlauf der Verleihung sympathisch aufrauhten, gehörte, dass beinahe die | |
| Laudatio auf die Preisträgerin vergessen wurde. Die Literaturkritikerin | |
| Cornelia Geißler ließ es sich dann eben doch nicht nehmen, sie vorzutragen. | |
| ## Preis für Belletristik | |
| Ihnen sei als Jury die Welt entgegengekommen, so beschreibt Katrin | |
| Schumacher den Eindruck, den sie und ihre Jurykolleg:innen nach der | |
| Durchsicht der insgesamt 506 Einsendungen für den Leipziger Buchpreis | |
| hatten. Der Gewinnertitel aus der Kategorie Belletristik, [1][Kristine | |
| Bilkaus „Halbinsel“] (Luchterhand), scheint dabei auf den ersten Blick ein | |
| gegenteiliges, weltabgewandtes Bild zu zeichnen: Schauplatz ist ein | |
| verschlafenes Nordseedorf am Wattenmeer, in dem neben dem Einzug neuer | |
| Nachbar:innen nur selten etwas passiert. | |
| Unruhe bricht ein, als die erwachsene Tochter Linn in ihr Elternhaus | |
| zurückkehrt. Linn hatte die kleine Welt am Meer nämlich vor einigen Jahren | |
| verlassen, um die große Welt zu retten. Sie hält Vorträge zum Klimawandel, | |
| arbeitet bei einem Aufforstungsprojekt mit, doch irgendwann kapituliert sie | |
| vor der übermenschlichen Aufgabe, für den Fortbestand der Menschheit | |
| verantwortlich zu sein, und kollabiert während eines Umweltkongresses am | |
| Rednerpult. | |
| Was dann passiert, beschreibt Kristine Bilkau selbst, als sie den Preis der | |
| Leipziger Buchmesse in der Glashalle auf dem Messegelände in Form eines | |
| Blumenstraußes entgegennimmt: Eine Mutter versucht, die Zuversicht für ihre | |
| Tochter zurückzugewinnen. Diese Tochter, sagt Bilkau, sehne sich nach einer | |
| „Sprache der Aufrichtigkeit“. Uns für ebenjene Sprache einzusetzen, das | |
| „schulden wir unseren Kindern“, sagt die Autorin und blickt zurück auf das | |
| letzte Jahrzehnt, in dem sich Kriege und Krisen die Hand reichten und sie | |
| selbst einen Sohn aufzog. | |
| Auch Jurymitglied Cornelia Geißler rückt in ihrer Laudatio die Elternliebe | |
| in den Fokus. In „Halbinsel“ werden die Rollen neu geordnet in einer | |
| Familie, in der der früh verstorbene Vater stets als Leerstelle präsent | |
| geblieben sei, sagt Geißler. | |
| Um Familienbande geht es auch in einem weiteren Roman, der für den | |
| Leipziger Buchpreis nominiert war. Esther Dischereit erzählt in „Ein Haufen | |
| Dollarscheine“ (Maro Verlag) von jüdischen Schwestern, Onkeln und Neffen, | |
| die alle unterschiedlich mit dem Erbe und der Erinnerung an den Holocaust | |
| umgehen. | |
| Leer aus ging auch Wolf Haas, der in „Wackelkontakt“ (Hanser) einem | |
| mafiabegeisterten Trauerredner auf den Zahn fühlt. Ebenfalls nominiert | |
| waren [2][Cemile Sahin] mit „Kommando Ajax“ (Aufbau), einem Gangsterdrama | |
| über einen Kunstraub, sowie der neue Roman Christian Krachts, „Air“ | |
| (Kiepenheuer & Witsch), über einen Inneneinrichter, der sich durch obskure | |
| Halb- und Traumwelten bewegt. | |
| ## Der Sachbuchpreis | |
| Es klingt paradox, aber wer wissen möchte, was in Putins Russland los ist, | |
| sollte Irina Rastorguevas Buch „Pop-up Propaganda“ über die russische | |
| Propaganda, ihren Neusprech und die Witze, die regimekritische RussInnen | |
| darüber machen, lesen. Dieses Buch bekam den Sachbuchpreis. Rastorgueva | |
| wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk geboren, studierte Philologie an der | |
| Staatlichen Universität Sachalin und arbeitete als Kulturjournalistin für | |
| mehrere russische Zeitschriften und Radiosender. Seit 2017 lebt sie als | |
| Autorin und Grafikerin in Berlin. „Epikrise der russischen | |
| Selbstvergiftung“ lautet der Untertitel ihres Buchs. | |
| Seit 2001 wurden in Russland mindestens 37 Medienmitarbeiter umgebracht, | |
| schreibt die Autorin: „Jeder, der seither versuchte, der Kreml-Propaganda | |
| die Wahrheit entgegenzusetzen, wurde entweder getötet oder verließ | |
| Russland.“ Rastorgueva weist aber auch drauf hin, wie viele brillante, | |
| einst unabhängig denkende Journalisten sich inzwischen in den Dienst der | |
| Propaganda für „ein neostali- nistisches, neofaschistisches, | |
| neoimperialistisches Konstrukt namens Putinismus“ gestellt haben. | |
| „Im Vierteljahrhundert von Putins Herrschaft hat sich die Kreml-Propaganda | |
| so weit von der Realität entfernt, dass sie zu einem eigenständigen Bild | |
| der Welt geworden ist, in der nicht nur die Behörden, sondern auch ein | |
| großer Teil der Bevölkerung lebt.“ | |
| Rastorgueva widmet sich einer Vielzahl von Facetten der Propaganda, zeigt | |
| aber wie erwähnt auch, wie die Sprache ihrer Kritiker kreativ mit den | |
| vielen Neologismen und Euphemismen umgeht. Als der Krieg in der Ukraine | |
| begann, erschienen die lateinischen Buchstaben V und Z auf russischen | |
| Panzern, und die Propaganda gibt immer neue Erklärungen dafür, was das zu | |
| bedeuten hat. Die Opfer dieser „Zet-Propaganda“, wie sie in Russland | |
| genannt wird, bezeichnen kritische Geister als „Zombie“. Sprache ist in | |
| Putins Russland wie in George Orwells „1984“ dazu da, die Leute in enge | |
| Bahnen erwünschten Denkens zu zwängen. | |
| Insofern ist es kein Wunder, dass in Russland die Sprache aktiv gesäubert | |
| wird: „Die Staatsduma bereitet das Verbot der Verwendung von Fremdwörtern | |
| vor das betrifft vor allem Wörter, die eine russische Entsprechung haben. | |
| Die zulässigen Entlehnungen werden in normativen Wörterbüchern und | |
| digitalen Informationsquellen festgelegt. Die Auswahl der ‚zulässigen‘ | |
| Wörter wird von Linguisten unter Berücksichtigung der Normen der modernen | |
| russischen Literatursprache getroffen. Die Vorschrift selbst tritt am 1. | |
| Januar 2025 in Kraft“, schreibt Rastorgueva. | |
| In der Mitte ihres Buchs befindet sich ein illustrierter Teil, der darüber | |
| Auskunft gibt, was es praktisch zu beachten gilt, wenn man innerhalb oder | |
| außerhalb Russland aktiv werden will. Für die Teilnahme an Demonstrationen | |
| in Russland gilt etwa dieser Tipp: „Lassen Sie keine Körperstelle offen, um | |
| Schläge mit dem Elektroschocker abzumildern.“ Aber auch außerhalb Russlands | |
| besteht für RussInnen die Gefahr, von FSB-Agenten bespitzelt zu werden. | |
| Angesichts der Wirksamkeit putinistischer Propaganda auch in Deutschland | |
| trägt Rastorguevas wichtiges Buch hoffentlich zur Resilienz bei. | |
| ## Der Übersetzungspreis | |
| Den Preis für die beste Übersetzung bekam Thomas Weiler für seine | |
| Übertragung des Bandes „Feuerdörfer“ aus dem Belasrussischen. Für Thomas | |
| Weiler wird diese Messe sicher gut in Erinnerung bleiben: Er hat auch den | |
| Roman „Europas Hunde“ ins Deutsche übertragen, für den Alhierd Bacharevic | |
| am Mittwoch zur Eröffnung der Messe den Leipziger Buchpreis zur | |
| europäischen Verständigung erhalten hat. | |
| „Feuerdörfer“ ist eine Oral History, in der 300 Augenzeugenberichte über | |
| die Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht in Belarus im Zweiten | |
| Weltkrieg berichten. In den 70er Jahren wurden sie in der Sowjetunion | |
| gesammelt, jetzt liegen sie das erste Mal auf Deutsch vor. Ales | |
| Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik hießen die Autoren. Thomas | |
| Weiler selbst bezeichnete es in seiner Dankesrede als „Zumutung“, sich mit | |
| diesen Gräueltaten auseinandersetzen zu müssen, konnte dann aber zugleich | |
| auch sehr verständlich machen, warum es notwendig ist, das zu tun. Die | |
| Erinnerung daran, wie schrecklich der deutsche Vernichtungskrieg im Osten | |
| gewütet hat, gibt dem Nachdenken über die Gegenwart eine unverzichtbare | |
| historische Tiefendimension. | |
| In der [3][taz-Besprechung zu dem Band] heißt es: „Folgt man dem | |
| Autorentrio wie einer Figur, die selbst erlebt, mitfühlt, in Bann gezogen | |
| und überrascht wird, entfaltet sich in den Prosastücken die literarische | |
| Qualität des Textes. Trotz ihres bisweilen salbungsvollen Tones zeichnen | |
| sie ein feinfühliges Bild und ziehen die Leserin hinein in die Szenen, in | |
| denen einem die raue, nüchterne Gewalt umso härter entgegenschlägt.“ | |
| 27 Mar 2025 | |
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