# taz.de -- Nordsee-Roman von Kristine Bilkau: Das große Ertrinken | |
> Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse: Kristine Bilkau erzählt | |
> in ihrem neuen Roman „Halbinsel“ von Küstenlinien und Verlust. | |
Bild: Steife Brise: Im Wattenmeer nahe der Nordseeinsel Foehr | |
Eine Landmasse, die auch bei Flut über dem Wasserspiegel hinausragt, die | |
vom Meer überwiegend, aber nicht vollständig umgeben ist und eine oft | |
schmale Verbindung zum Festland hat, wird Halbinsel genannt. | |
Dabei scheint das Wort selbst eine Art sprachliche Halbinsel zu sein, weil | |
die etymologische Herkunft einerseits kaum noch erkennbar ist, andererseits | |
aber, vor allem in symbolischer Hinsicht, aus dem Wörtermeer heraussticht: | |
Es handelt sich nämlich um eine Lehnübersetzung des lateinischen Begriffs | |
„peninsula“, der wörtlich mit „Beinahe-Insel“ oder „Fast-Insel“ zu | |
übertragen wäre. | |
Große Halbinseln unterscheiden sich kaum vom Festland, aber die kleineren | |
Landzungen, wie sie auch an den deutschen Küsten von Nord- und Ostsee zu | |
finden sind, erinnern an die Vergänglichkeit, an das sich ständig ändernde | |
Verhältnis von Meer und Küstenlinie. | |
## Fragil ist die Natur und das Zwischenmenschliche | |
Von der Fragilität, die nicht nur in der Natur, sondern eben auch im | |
Zwischenmenschlichen eine große Rolle spielt, erzählt Kristine Bilkaus | |
neuer Roman „Halbinsel“. Am nordfriesischen Wattenmeer lebt die | |
Endvierzigerin Annett im alten Haus der Großtante. | |
Hier hat sie nach dem frühen Tod ihres Mannes Johan die Tochter Linn allein | |
großgezogen; hier lebt sie nun zurückgezogen mit den Erinnerungen an eine | |
große Liebe, während das längst erwachsene Kind die vom Klimawandel | |
bedrohte Welt retten möchte. Linn engagiert sich als Umweltvolontärin in | |
einem Aufforstungsprogramm, rast von einer Tagung zur nächsten, doch | |
irgendwann ist die Erschöpfung zu groß. | |
Bei einem Vortrag in einem noblen Hotel in Norddeutschland kippt sie um: | |
Kreislaufkollaps. Die Mutter holt Linn nach einem kurzen | |
Krankenhausaufenthalt zurück nach Hause, auf die heimische Halbinsel, und | |
nun müssen die beiden ihre Beziehung neu ordnen, die einer psychischen | |
Küstenlinie gleicht, in der es ebenfalls starke Gezeiten gibt. | |
## Zwischen Sehnsucht und Melancholie | |
Wie auch [1][in ihren vorangegangenen Romanen,] insbesondere in dem | |
Ehedrama „Eine Liebe, in Gedanken“, hat sich Kristine Bilkau für eine | |
melancholisch-sehnsüchtige Erzählstimme entschieden, die das Seelenleben | |
der Figuren mit Zugewandtheit, aber dennoch norddeutscher Zurückhaltung | |
durchdringt. Besonders eindrücklich sind Annetts Zwiegespräche mit dem | |
toten Mann. Wenn Linns Vorwürfe sich mehren, die Mutter habe der Tochter | |
aus Furcht vor Verletzungen eine allzu heile Welt vorgespielt, fallen ihr | |
Johans mahnende Worte ein. | |
Beruhigend und hilfreich sind die Ratschläge aus der Vergangenheit, doch | |
irgendwann hat man das traurige Gefühl, dass die Witwe die im Roman kursiv | |
gesetzten Formulierungen weitgehend erfindet, um das große Gefühl der | |
Zuneigung, das sich nicht zuletzt im intensiven Gespräch der Eheleute | |
zeigte, auch nach dem Tod des Gatten weiterleben zu lassen. | |
Auch wenn das Buch durchgehend bei der Ich-Erzählerin bleibt, erschöpft | |
sich die Gedankenreise nicht, weil Annett, die in einer Stadtbibliothek | |
arbeitet, eine aufgeschlossene und gebildete Figur ist, der man gerne | |
folgt. Als sie durch die gepflegten und unwirklich aufgeräumten Wohnsalons | |
jenes Hotels geht, in dem Linn zusammengebrochen ist, denkt sie etwa an den | |
dänischen Maler Vilhelm Hammershøi, an die „Stille, die er malte. Als | |
würden die Menschen dort auf etwas warten, sich auf etwas vorbereiten, ein | |
Ereignis, eine Veränderung“. Nach einer solchen Veränderung sehnt sich auch | |
Annett, sowohl für sich als auch für Linn, die nach dem vorläufigen | |
Karriereende antriebslos im ehemaligen Kinderzimmer herumzuliegen scheint. | |
## Sinn und Neuerfindungen | |
Die Mutter wird nicht nur der Tochter etwas Zeit für ihre Erholung geben | |
müssen. Im Zuge der tastenden Annäherung begreift die Erzählerin, dass auch | |
sie sich neu erfinden muss, zu sehr drücken Einsamkeit und die Frage nach | |
dem Sinn ihrer Lebensroutine. Statt am Leiden der Tochter zu verzweifeln | |
oder in der eigenen Traurigkeit zu versinken, emanzipiert sich Annett | |
langsam, aber stetig in unterschiedlichen Bereichen. | |
Sie schaut sich Stellenanzeigen an, verliebt sich hier und dort, nimmt an | |
Wattwanderungen von „Westerhever zur großen Sandbank, von Nordstrand zur | |
Hallig Südfall“ teil und beschäftigt sich zum ersten Mal etwas intensiver | |
mit dieser Gegend, die 1362 eine katastrophale Flut erlebt hat, welche als | |
De Grote Mandrenke, als das große Ertrinken in die Geschichtsbücher | |
eingegangen ist. | |
## Steigender Meeresspiegel | |
Sturmfluten hat es also schon vor dem Klimawandel gegeben, aber nun ist der | |
Mensch mitverantwortlich für die zunehmende Bedrohung, die vom steigenden | |
Meeresspiegel ausgeht. „Woher kam bloß dieses Gefühl, dass alles ständig | |
zerbrechlich sein konnte?“, fragt sich die Erzählerin, und die Antwort kann | |
nach der Lektüre dieses eben auch sprachlich fragilen Romans nur lauten: | |
Weil eben alles zerbrechlich ist. | |
17 Mar 2025 | |
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[1] /Neuer-Roman-Nebenan/!5845696 | |
## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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