# taz.de -- Shortlist für den Deutschen Buchpreis: Heldinnen, Herkünfte und T… | |
> Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis ist veröffentlicht worden. | |
> Darunter ist auch der Familienroman „Dschinns“ von taz-Redakteurin Fatma | |
> Aydemir. | |
Bild: Mit der Shortlist erhalten Lesehungrige ordentlich zu tun | |
Aus Anlass der aktuellen Shortlist kann man daran erinnern, dass beim | |
Deutschen Buchpreis keineswegs der „beste“ Roman des Jahres ausgezeichnet | |
werden soll, wie oft behauptet wird, sondern der „Roman des Jahres“, ohne | |
„beste“. Wer immer diese Formulierung für die Statuten des Preises fand, er | |
oder sie hat ein gutes Werk getan. | |
Einen „besten“ Roman kann es gar nicht geben, denn dafür gibt es einander | |
widerstreitende Kriterien. Einen „Roman des Jahres“ kann es aber schon | |
geben; man muss sich nur drauf einigen. Und genau diesen Einigungsprozess | |
soll – oder vielleicht besser: könnte – der [1][Buchpreis] repräsentieren, | |
mit allem damit verbundenen Einleuchtenden und allen Fehlurteilen. | |
Jenseits der Frage, ob man einverstanden ist oder nicht, ließen sich dabei | |
zuletzt zwei durchgängige Hintergründe ausmachen. Im ersten geht es um die | |
vor allem vom Buchmarkt, aber auch von vielen Leser*innen, an den Preis | |
herangetragene Sehnsucht, einen Roman zu finden, der übersetzungsfähig ist | |
und in den man eintauchen kann wie in einen, sagen wir, Franzen oder | |
Ferrante, realistisch erzählt und populär halt (der | |
Literaturwissenschaftler Moritz Baßler hat in seiner gerade | |
herausgekommenen Studie „Populärer Realismus“, C. H. Beck, viel dazu zu | |
sagen). Und seit Jahren hält die alljährlich wechselnde Buchpreisjury oft | |
tapfer dagegen, indem sie auch Außenseiter auszeichnet oder von ihrem | |
literarischen Verfahren lebende Bücher prämiert wie [2][2020 etwa Anne | |
Webers Versepos „Annette“]. | |
Der zweite Kontext bezieht sich auf die Frage, ob allein literarische oder | |
auch gesellschaftliche Kriterien zählen sollen – oder, besser formuliert: | |
in welchem Licht die jeweiligen literarischen Kriterien beleuchtet werden | |
sollen. Hier ist Bewegung reingekommen. In einer Gesellschaft, in der nach | |
1990 zwei politische Systeme zusammenwuchsen (oder eben nicht), sind andere | |
Romane als interessant aufgefallen, als sie es heute tun, da es um Fragen | |
von Diversität und Identität geht – und jetzt ganz aktuell ein Krieg in | |
Europa alle Überlegungen tangiert. | |
Wichtig ist, es geht dabei eben nicht um „Themen“ versus Literarizität, | |
sondern darum, wie zu schreiben ist. Und es ist eben kein | |
außerliterarischer Aktivismus, wenn man feststellt, dass man bei | |
literarischen Urteilen besser auch den Raum wahrnimmt, in dem man sie | |
fällt. Ein „Roman des Jahres“, der nicht – und sei es auf verborgene Wei… | |
– mit einem aktuellen Stand von menschlichem Selbstverständnis | |
kommuniziert, ist mindestens verschenkt. Das gilt auch „nach Adorno“. | |
## Autofiktional grundiert | |
Wie verhält sich die aktuelle Shortlist zu diesen Hintergründen? | |
Tatsächlich könnte man sagen, dass sie etwas den aktuellen | |
gesellschaftlichen Raum zu ertasten Suchendes hat. | |
Fatma Aydemir (Glückwunsch an die taz-Kollegin!) beschreibt in „Dschinns“ | |
die Trauerarbeit und die sozialen Rollen einer deutsch-türkischen Familie | |
zwischen Deutschland und Istanbul. [3][Kristine Bilkau erzählt in | |
„Nebenan“] von der Dünnhäutigkeit der Beziehungen in der deutschen Provin… | |
[4][Daniela Dröscher zeichnet,] autofiktional grundiert, das Frauenleben | |
ihrer Mutter in der alten Bundesrepublik als ambivalente | |
Heldinnengeschichte nach. | |
Jan Faktor schreibt in „Trottel“ seine Biografie zwischen Prag und | |
Ostberlin in die Umwälzungen rund um den Niedergang des Sozialismus ein | |
(oder andersherum). Kim de l’Horizont geht, sich selbst als nonbinär | |
verstehend, in ihrer Herkunftsrecherche „Blutbuch“ den mütterlichen | |
Stammbaum über viele Generationen zurück. | |
In diesen Romanen geht es viel um soziale Nahbeziehungen: Eltern, Familien, | |
Herkünfte, Nachbarn, eingebunden in ihre gesellschaftlichen | |
Rahmenbedingungen. Eckart Nickel dagegen besetzt mit seiner akkurat an | |
allen Gegenwärtigkeiten vorbeigesetzten biedermeierlichen | |
Ästhetizismusstudie „Spitzweg“ eine Position, die sich gegen alle anderen | |
abhebt auf der Shortlist. Gegenwart? Nicht so mein Ding, könnte man bei | |
Nickel sagen. | |
Und während Aydemir, Bilkau und Dröscher auf jeweils unterschiedliche Art | |
eher dem Realismuspol zuzuordnen sind, ist bei l’Horizont und Faktor das | |
literarische Verfahren auffällig. Faktor übergießt seine Erinnerungen mit | |
einer verspielt sein wollenden und tatsächlich [5][eher verkünstelten | |
Suada] (nicht mein Favorit auf der Liste). L’Horizonts „Blutbuch“ dagegen | |
ist ein wilder erzählerischer Ritt durch Bewusstseinsströme und Dokumente. | |
Am 17. Oktober wird der Deutsche Buchpreis vergeben. | |
20 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Buchpreis-fuer-Antje-Ravik-Strubel/!5805982 | |
[2] /Wiederentdeckung-des-Versepos/!5706276 | |
[3] /Neuer-Roman-Nebenan/!5845696 | |
[4] /Interview-mit-Daniela-Droescher/!5873043 | |
[5] /Neuer-Roman-von-Jan-Faktor/!5879214 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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