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# taz.de -- Neuer Roman von Jan Faktor: Der Dissident als heiliger Narr
> „Trottel“ hätte ein Zeugnis und bedeutender Roman werden können. Doch d…
> Autor Jan Faktor verliert sich in literarischer Effekthascherei.
Bild: Skurriles und Stilles im oppositionellen Ostberlin: Prenzlauer Berg 1988
Stell dir vor, es ist Sozialismus und nur ein Trottel geht hin. Der
osteuropäische Skurrilismus, ein jüngerer und leserinnenfreundlich
ermäßigter Cousin des osteuropäischen Absurdismus, war einmal
realsozialistisch-dissidentischer Weltstil. Er prägte die Bücher des
Deutschgeorgiers [1][Giwi Margwelaschwili] ebenso wie die des Tschechen
Bohumil Hrabal. Seine Erzähler sind unzuverlässig. Sie ergehen sich in
weitschweifig-„barocken“ Monologen – Hrabal bezeichnete die Methode dieser
erzählerischen Aus- und Abschweifungsorgien als „Bafeln“ (pábit lautet das
tschechische Kunstwort).
Die skurrilistischen Erzähler berichten, was sie zu berichten haben, von
einem kunstreich eingenommenen Standpunkt des Närrischen oder absichtlich
Unintelligenten aus. „Melde gehorsamst, ich bin blöd“ war das Mantra von
Jaroslav Hašeks bravem Soldaten Schwejk.
Ihre nur scheinbare Selbstverkleinerung jedoch ist in Wirklichkeit eine
Geste der Souveränität. Sie beansprucht die Sorte von Wahrheit, die man
Kindern oder Betrunkenen zuschreibt, und versteckt diese subversive
Wahrheit in manieristisch bewegtem Bei- und Rankenwerk: Exkursen,
Abschweifungen, Glossen, Anspielungen, falschen Sinnfährten und
pseudogelehrten Fußnoten. Aus geistesgeschichtlicher Ferne grüßen die
„heiligen Narren“ der russischen Tradition.
In Jan Faktors neuem Roman heißt der heilige Narr „Trottel“ und „muss zum
Glück nicht alles bis ins letzte Detail begründen. Ich persönlich setze
lieber auf meine Naivität – und paare sie nach Möglichkeit mit sozialer
Kompetenz aus den mir zugänglichen Zwischenablagen. Außerdem öffne ich mich
gern auch für völlig unpassende Zufallsbekanntschaften. Und ich schließe
die Haustür von innen nicht ab, wenn ich allein in meiner Bretterlaube
übernachte. Was würde man bei mir außer meinen Ketten und meinem
Proletariertum schon finden? Und ich könnte auch ein Hund sein!“
Der tschechische, später Ostberliner ehemalige Dissident Jan Faktor hat den
realsozialistischen Skurrilismus mitsamt seiner
„kynisch“-selbstverkleinernden „Hundephilosophie“ in die Gegenwart
gerettet. Wozu? Was wird in dieser barock-manieristischen
Selbstverkleinerungsprosa berichtet?
## Geschichtliche Umwälzung
Die autobiografisch-stoffliche Grundlage dieses Erzählwerks ist kostbar.
Kaum jemand aus seiner Generation hat so viel geschichtliche Umwälzung
erlebt wie Jan Faktor. Die Gerüche, Geräusche, Absurditäten, Depressionen
und Ekelanfälle im realsozialistischen Prag treffen auf das unheimlich
stille, geräumige, spießige, humorlose und unterschwellig bedrohliche
Ostberlin, wohin der Erzähler in den siebziger Jahren – der Liebe wegen –
übersiedelt.
Kneipen, Wohnküchenzusammenkünfte und städtische Treffpunkte der
oppositionellen Literaten spielen mit, die anarchischen Lebensverhältnisse
im Prenzlauer Berg, das Liebes- und Eheleben mit seiner Frau, der Tochter
von [2][Christa und Gerhard Wolf.] Der Einmarsch in Prag taucht auf im
Trottel-Monolog und schließlich die politische Rolle des Verfassers in den
sich überstürzenden Ereignissen des Jahres 1989. Vor allem aber und am
bewegendsten durchzieht sein Buch als düsterer Kontrapunkt die
Leidensgeschichte seines Sohns, der an Schizophrenie erkrankt, sich in
einer Drogenkarriere verfängt und sich im Jahr 2004 – 33-jährig – das Leb…
nimmt.
Jan Faktors realsozialistische Selbsterlebensbeschreibung zwischen Prag und
Berlin, Sozialismus und Nachwendezeit hätte eine der wichtigen
Autobiografien der Gegenwart werden können. Es hat nicht sein sollen. Denn
wie die – für einen trotteligen Erzähler überraschend ausführlichen und
hochreflektierten – poetologischen Passagen in Faktors Erzählmonolog
umfangreich darlegen, wählt dieser Autor, vor die Entscheidung zwischen
Stoff und skurrilistischer Methode gestellt, entschieden die letztere.
## Barocke Abschweifungen
„Wenn in einer Literaturrunde […] ein Satz fällt wie So ein tolles Thema
bin ich enttäuscht und werde daran erinnert, dass es auf der Welt Menschen
gibt, die sich in der Literatur für Themen interessieren. […] Aber der
Eindruck, wir hätten mit einem Text etwas Verschmolzenes,
Distinktionsloses, flachzeitdimensional Beschreibbares vor uns, ist […]
äußerst abwegig.“
Dieser Autor sagt es selbst: Was er zu erzählen hätte, ist ihm nur in
zweiter Linie wichtig. Das „flachzeitdimensional Beschreibbare“
interessiert ihn nur als Turngerät für eine von sich selbst berauschte
Virtuosität des Hrabal’schen „Bafelns“, jener Mischung aus schwejkhafter
Selbstverspottung, barocker Abschweifung, mock-Gelehrsamkeit,
unnötig-koketten Fußnoten, groteskem Unsinn und der möglichst verrenkten
Beschreibungsverkomplizierung von allem und jedem.
So beispielsweise klingt es, wenn Jan Faktors auktorialer Erzähler sagen
will, dass seiner Ansicht nach derzeit zu viele Bücher erscheinen: „Man
sollte auf keinen Fall wie eine In-vitro-Brut und Gebärmaschine einen Roman
nach dem anderen auf die Tische der Buchläden werfen. Manche Menschen
können es allerdings absolut nicht ertragen, wenn es in Bezug auf sie
heißt, ‚um ihn/sie/es/ens ist es still geworden‘ – und manche von diesen
Ensis, Ensas, Ensaternitas, Eremitutas oder schwachbeinigen Mannterministen
werden nach derartigen Zuschreibungen regelrecht hysterisch …“ Und so
weiter und so fort bis zum endgültigen Überdruss.
## Ergreifendes Schicksal
Seine seltenen starken Momente dagegen gewinnt dieser Roman, wenn das Duell
zwischen skurrilistischer Erzählmethode und Stoff angesichts eines realen
und emotional ergreifenden Schicksals zur Abwechslung einmal zugunsten der
Wirklichkeit und ihrer „flachzeitdimensionalen“ Beschreibung ausgeht. Dann
nämlich, wenn der Vater – plötzlich ganz ruhig, folgerichtig und die
literarische Effekthascherei beiseitelassend – von der schrecklichen
Zerstörung seines Sohns durch die Psychose erzählt.
Das Buch selbst kann in diesen – seinen ergreifenden – Augenblicken keine
deutlichere Widerlegung der Methode seines Autors vorbringen als diese aus
der aufgesteilten Verkomplizierungs- und Skurrilitätssuada wie
herausgestanzt wirkenden emotionalen Passagen eines Vaters, dem angesichts
des Leids des geliebten Sohnes die artistischen Pirouetten ein paar
Erzählmomente lang vergangen sind.
17 Sep 2022
## LINKS
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[2] /Briefe-von-Sarah-Kirsch-und-Christa-Wolf/!5642720
## AUTOREN
Stephan Wackwitz
## TAGS
Literatur
Prag
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Dissidenten
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Roman
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