| # taz.de -- Tschechische Literatur: Sozialistischer Realismus geht anders | |
| > Nach 50 Jahren erscheint der tschechische Autor Ivan Klíma auf deutsch. | |
| > „Stunde der Stille“ entwirft ein Panorama der dörflichen Ostslowakei der | |
| > fünfziger Jahre. | |
| Bild: Nicht mehr rückständig, aber durchaus idyllisch: Feldweg beim slowakisc… | |
| Als der achtzigjährige Ivan Klíma kürzlich zu einer Lesung aus seinem | |
| ersten Roman „Stunde der Stille“ in Berlin auftrat, sah man ihn mit einem | |
| Ausdruck milden Amüsements auf dem Podium sitzen. Es schien fast, als ziehe | |
| er einen geheimen Genuss aus einer Situation, deren Absurdität nur ihm | |
| allein ersichtlich war. | |
| Unsereins kann sich ja nicht wirklich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn | |
| einer achtzig ist und über einen Roman sprechen soll, den er mit dreißig | |
| geschrieben und mittlerweile längst vergessen hat, nur weil eine | |
| österreichische Slawistin fünfzig Jahre später auf den überraschenden | |
| Gedanken gekommen ist, das Werk erstmals ins Deutsche zu übersetzen. | |
| Wenn der betreffende Roman zu einer Zeit entstand, in der große | |
| gesellschaftliche Umwälzungen im Gange waren, die im Buch verhandelt | |
| werden, mag man als Autor vielleicht auch denken, dass man damit heute | |
| keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlockt. | |
| Dann aber ließ Klíma sich doch noch zu einer dezidierten Haltung | |
| herausfordern. Der Moderator Jan Faktor nämlich bestand darauf, aufs | |
| Politische zu kommen, und brachte seine Verblüffung darüber zum Ausdruck, | |
| dass ein Roman, der Missstände beim Aufbau des Sozialismus so unverblümt | |
| thematisierte, in den frühen sechziger Jahren erscheinen durfte und sogar | |
| mehrere Auflagen erlebte. | |
| Da schüttelte der gar nicht betagt wirkende Großschriftsteller dann doch | |
| energisch das Silberhaupt, um seinerseits darauf zu beharren, dass es ihm | |
| allein ums allgemein Menschliche gegangen sei. | |
| ## Weit über seine Entstehungszeit hinausweisend | |
| Und so ist es wahrscheinlich auch gewesen. „Stunde der Stille“, Klímas | |
| Erstlingswerk von 1961, ist ein Roman, in dem das Ringen um eine gerechte | |
| Gesellschaftsordnung und die Suche des Menschen nach dem „richtigen“ Leben | |
| eindrücklich als die zwei Seiten des Daseins beschrieben werden. Damit | |
| weist er sehr weit über seine Zeit hinaus. | |
| Aber auch Jan Faktor hat recht: Einen Roman, in dem ein engagierter | |
| Ingenieur an einer größenwahnsinnigen Bürokratie verzweifelt und ein | |
| kommunistischer Funktionär als opportunistischer Kleinkrimineller | |
| dargestellt wird, konnte man in den frühen sechziger Jahren gar nicht | |
| anders als politisch lesen. | |
| Dass das Buch damals so erfolgreich sein durfte, zeigt deutlich, wie | |
| liberal das politische Klima für die Künste in der Tschechoslowakei der | |
| frühen sechziger Jahre war. (Ein Film allerdings, den Klíma auf Basis | |
| seiner Recherchen hatte drehen wollen, durfte nicht realisiert werden.) | |
| ## Aus allen Poren Aufbruch | |
| Trotz aller deutlichen Kritik an den damaligen politischen Gegebenheiten | |
| atmet dieses Buch aus allen Poren Aufbruch. Anders als in Klímas späteren | |
| Romanen, in denen in der Regel die Perspektive einer einzigen Hauptfigur | |
| eingehalten wird, ist „Stunde der Stille“ konsequent polyfon. Es ist das, | |
| wenn man es so nennen will, Kollektiv, das der Autor hier porträtiert. | |
| Möglicherweise gibt es eine gewisse Mehrbetonung auf der Seite der beiden | |
| „positiven Helden“, die hier ganz im Sinne des sozialistischen Realismus | |
| agieren, auf der einen Seite der Städter, der Ingenieur Petr Martin, auf | |
| der anderen Seite der gute Mensch vom Dorfe Pavel Smolják. | |
| Die rückständigen Verhältnisse, die im Roman beschrieben werden, gibt es | |
| schon lange nicht mehr. Schon wenige Jahre, nachdem er seine Recherchen in | |
| der Ostslowakei beendet hatte, sagt Klíma, waren sie verschwunden, so | |
| gründlich wurde jene abgelegene Gegend durch den sozialistischen Aufbau | |
| verändert. | |
| ## Ein grandioses Personenpanorama | |
| „Stunde der Stille“ beschreibt eine versunkene Welt, einen Landstrich, der | |
| abwechselnd von verheerenden Überschwemmungen und furchtbaren Dürreperioden | |
| heimgesucht wird, was jede geregelte Landwirtschaft unmöglich macht. Ein | |
| idealistischer Lehrer scheitert mit seinem Plan der Fruchtbarmachung des | |
| Landes vor der Kraft der Natur, der realistische Ingenieur mit seinem | |
| Deichbauprojekt wird an der sozialistischen Planwirtschaft scheitern. Die | |
| Bauern schweigen und hassen sie alle gleichermaßen. Zwar ist der Krieg nun | |
| vorbei, doch das tiefe Misstrauen gegenüber allem, was von außen kommt, ist | |
| nicht geschwunden. | |
| Klíma entwirft vor diesem Hintergrund ein grandioses Personenpanorama, das | |
| am Beispiel einer dörflichen Gemeinschaft die Brüche und Verwerfungen der | |
| Geschichte im Kleinen und am einzelnen Schicksal exemplarisch vorführt. | |
| Durch den umfassenden Zugriff auf sein Thema gewinnt der Roman eine | |
| geradezu existenzialistische Qualität, die ihn über sein eigentliches Thema | |
| weit hinausführt. Wofür lebt der Mensch? Für das Land, das Glück aller, den | |
| Fortschritt, die Liebe, den Kommunismus? | |
| Letztlich, so zeigt sich ein ums andere Mal, ist auf nichts von alledem | |
| Verlass, und der Mensch wird immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. | |
| Sehr sozialistisch war diese Einsicht natürlich nicht. Doch dafür ist sie | |
| auch fünfzig Jahre später noch ebenso gültig wie damals. | |
| Ivan Klíma: „Stunde der Stille“. Aus dem Tschechischen von Maria | |
| Hammerich-Maier. Transit Verlag, Berlin 2012, 252 Seiten, 19,80 Euro | |
| 7 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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| Literatur | |
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