# taz.de -- Wiederentdeckter DDR-Roman: Die Kräuselschrift der Böen | |
> Der Roman „Die Alleinseglerin“ aus der DDR ist wiederentdeckt worden. | |
> Darin zeichnet Christine Wolter eine Beschwörung widerspenstiger | |
> Schönheit. | |
Bild: Kompliziert, aber elegant: das Segelboot als Kampfansage an eine nur zwec… | |
Die Alleinseglerin“ war 1982 in der DDR ein Coup. Dieses Bild löste | |
eindeutige Assoziationen aus. Eine Frau, die mit ihrem Segelboot ohne | |
Begleitung auf einem brandenburgischen See unterwegs ist, entzieht sich von | |
vornherein den vorgegebenen Normen, sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand. | |
Und auch, dass sie eine alleinerziehende Mutter ist und ihre | |
Männerbeziehungen lose und fragil, entsprach der Realität der DDR weitaus | |
eher als ihre Darstellung in den offiziellen Medien. | |
Die Vorstellung der Alleinseglerin mit ihrem schönen weißen Drachenboot war | |
so suggestiv, dass Herrmann Zschoche 1987 den Stoff für einen der letzten | |
Defa-Filme aufgriff und die Titelfigur mit der Schlagzeugerin der ersten | |
und einzigen DDR-Frauenband Mona Lise besetzte, also nicht mit einer | |
ausgebildeten Schauspielerin. Tina Powileit verlieh mit ihrer Aura der | |
Rockmusikerin der Literaturwissenschaftlerin Almut des Buches einen | |
spezifisch rauen, melancholischen Charme, etwas Widerspenstiges und | |
Gegenläufiges. | |
Sie machte damit den Film, und rückwirkend noch einmal den | |
zugrundeliegenden Roman, zu einer bleibenden Chiffre für das Lebensgefühl | |
in den späten Jahren der DDR – für das Abgekapselte und in sich | |
Versponnene, aber auch Aufbegehrende. Und zur Magie des | |
„Alleinseglerinnen“-Motivs gehörte sicher auch, dass der Einband des Buches | |
unwillkürlich an die scharfe Zigarettensorte „Ligeros“ erinnerte, die eine | |
Zeitlang aus Kuba importiert wurde und ein weißes Segelboot vor einem | |
leuchtend blauen Hintergrund zeigte. | |
Es ist allerdings charakteristisch, dass der Film, der der eher unbekannten | |
Schriftstellerin Christine Wolter zu einer gewissen Breitenwirkung verhalf, | |
etwas ausklammerte, was dem Roman eine ganz besondere Färbung verleiht. | |
Almut schreibt den Text nämlich in der Ich-Form aus Italien. | |
## Aus der DDR nach Italien | |
Das entsprach der realen [1][Biografie der Autorin Christine Wolter], die | |
1978 im Alter von 38 Jahren legal aus der DDR nach Italien ziehen konnte. | |
Sie hatte Romanistik studiert und beim Aufbau-Verlag als Lektorin für | |
italienische Literatur gearbeitet, 1976 veröffentlichte sie dort auch den | |
lakonisch-aufmüpfigen Erzählungsband „Wie ich meine Unschuld verlor“ – … | |
sie blieb in der Öffentlichkeit der DDR eher eine Randfigur. | |
Das lag auch daran, dass sie auf einer Dienstreise im Auftrag der Akademie | |
der Wissenschaften in Sizilien einen italienischen Architekten kennenlernte | |
und heiratete. Offenkundig ging das ohne äußere politische Komplikationen | |
vor sich, Christine Wolter brach ihre Brücken in die DDR nicht ab und | |
veröffentlichte dort auch weiter ihre Bücher. | |
„Die Alleinseglerin“ ist ihr herausragendes Buch. Die Ich-Erzählerin Almut | |
verknüpft hier kurze Momentaufnahmen aus Mailand mit dem Leben am | |
märkischen See, und sie evoziert diesen deutschen Osten in mehreren | |
Zeitschichten bis in die Gegenwart hinein. Ihr Ton bekommt durch die | |
italienische Distanz dabei etwas ganz Eigenes und Schwebendes. | |
Der Reiz des Buches liegt unter anderem in dieser völlig ungewohnten | |
Konstellation: Im winterlichen Mailand sehnt sich Almut, trotz aller Kritik | |
an den Verhältnissen im Osten, nach der spröden, kargen Landschaft der Mark | |
mit ihren „kommunalen Kiefern“, und vor allem nach ihrem Segelboot dort. | |
Das wirkt wie eine Wiederaufnahme der Definition, die Ernst Bloch von | |
„Heimat“ gab: „Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand | |
war.“ | |
## Sommer am See | |
Almuts frühe Jahre wurden geprägt vom sommerlichen Leben am See mit ihrem | |
privilegierten Vater, der als Architekt zur Nomenklatura gehörte. Die | |
Familienverhältnisse waren schwierig, der Kontakt nicht sehr eng, aber die | |
Sommer standen im Zeichen des Häuschens am Wasser und des Segelboots. Der | |
eher schwierig zu handhabende, aber ästhetisch alle anderen Boote | |
überragende Drachen war die Obsession des Vaters. | |
Auch in ihrem Text spricht Almut von ihm als „Käptn“, zwischen Bewunderung | |
und Distanz, wie alle anderen am See. Als er stirbt, gibt es jedoch schon | |
längst viel praktischere Boote, plastikbeschichtet und mit Nylonsegel. | |
Plötzlich gilt der alte Kielkreuzer aus Holz nicht mehr so viel. Aber sie | |
setzt es sich in den Kopf, den kostspieligen Drachen zu übernehmen und viel | |
Zeit und Energie für dessen Unterhalt und Wartung aufzubringen – etwas, was | |
sie sich in ihrer Tätigkeit als Doktorandin eigentlich gar nicht leisten | |
kann. | |
Ihr wissenschaftliches Thema sind „Konturen des neuen Menschen in den | |
Frauengestalten“ früherer Epochen, und sie hat dafür einige „Krückenwör… | |
zur Hand, wie „vorrevolutionär“, „frühbürgerlich“ oder „antizipato… | |
Und im Gefolge dieser Arbeit kommt es in der „Alleinseglerin“ zu Sätzen, | |
die schmerzende Leerstellen markieren: „Ich studierte | |
Literaturwissenschaft, die Kunst als Widerspiegelung der Wirklichkeit, aber | |
die wirkliche Wirklichkeit begriff ich nicht. Unfassbar blieb mir der | |
Unterschied zwischen wirklichem und scheinbarem Wind; die Bewegung der | |
Baumwipfel konnte ich nicht lesen und nicht die Kräuselschrift der Böen auf | |
dem Wasser.“ | |
## Sinnlichkeit und Sozialstudie | |
Es ist dieser irritierende Reiz der Sinnlichkeit, der Almut dazu führt, | |
sich den Anforderungen des Drachens zu stellen. Vier Monate auf dem See | |
stehen acht Monate der Instandsetzung und Pflege gegenüber, und in den | |
Schwierigkeiten, das Boot über den Winter zu bringen, zeigen sich wie | |
nebenbei auch die besonderen Klassenverhältnisse in der DDR. Die üblichen | |
Wege sind für Almut finanziell nicht machbar. | |
Umso prägnanter ist die Figur des differenziert gezeichneten proletarischen | |
„Kutte“, der sie in der zynischen Welt der Bootseigner und Werftleute | |
unterstützt. Intensive Sozialstudien wie der Besuch einer | |
Gebrauchsbootmesse, das Aufgeben einer Zeitungsannonce oder die Suche nach | |
einer Abdeckfolie für den Winter, bei der Almut endlich auf ein als | |
„Tischdeckenstoff“ annonciertes Material stößt, sind auch kleine | |
Kabinettstückchen. | |
Die Seebewohner nennen Almut „Alleinseglerin“ und machen sich damit über | |
sie lustig. Es gibt in diesem Buch einige Einblicke in die verkrustete | |
DDR-Gesellschaft. Wie zum Beispiel ein einschlägiger Parteifunktionär | |
auftaucht, beschwört auf beklemmende Weise ein Milieu herauf, das so scharf | |
umrissen wohl nur aus dem italienischen Abstand skizziert werden konnte. | |
Obwohl sich Almut gegen eine in sich geschlossene Männerwelt am See | |
behaupten muss, wäre es falsch, die „Alleinseglerin“ mit dem Feminismus der | |
damaligen Bundesrepublik gleichzusetzen. Dazu ist alles zu sehr auf die | |
spezifischen DDR-Verhältnisse bezogen. Es geht in erster Linie um | |
individuelle Selbstverwirklichung gegen starre gesellschaftliche Normen, | |
und die zentrale Rolle spielt dabei interessanterweise die emphatische | |
Besetzung der Kunst. | |
## Kampfansage an die SED-Parteigänger | |
Das Segelboot steht, als Kampfansage gegen äußerst realistisch gezeichnete | |
SED-Parteigänger, für eine nicht zweckgebundene Schönheit. Der weiße | |
Drachen, das „illusorischste aller Besitztümer“, ist mit seinen | |
komplizierten Ansprüchen und seiner eleganten Erscheinung ein großes | |
Gegenbild zu den „Jollen mit den Familienvätern“, er setzt sich über alles | |
rein Funktionale und vermeintlich Vernünftige hinweg. | |
Christine Wolter gelingt damit wie nebenbei eine vielschichtige Metapher | |
für Sehnsucht und Entgrenzung: „Weg vom Ufer, ins offene Wasser“ – in die | |
Freiheit, hart am Wind. | |
15 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Christine_Wolter | |
## AUTOREN | |
Helmut Böttiger | |
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