| # taz.de -- Anne Webers Roman „Bannmeilen“: Erkundung der absoluten Gegenwa… | |
| > Wo Sarkozy kärchern wollte und Asterix erfunden wurde: Anne Weber | |
| > spaziert in ihrem Roman „Bannmeilen“ durch die berüchtigte Banlieue von | |
| > Paris. | |
| Bild: Hier könnten die Erzählerin und ihre Hauptfigur Thierry entlanggegangen… | |
| In [1][Paris] ist alles noch viel extremer. Der „Boulevard périphérique“, | |
| die Stadtautobahn mit meist vier Fahrstreifen pro Fahrtrichtung, umschließt | |
| nahezu hermetisch den historisch-bürgerlichen Kern. Was sich jenseits | |
| dieser Ringstraße befindet, ist weitgehend Terra incognita, mit | |
| verwahrlosten Hochhaussiedlungen, Lagerhallen und verrotteten Straßenzügen. | |
| Um diese Zone geht es, um soziale Brennpunkte und die Ghettos für | |
| Immigranten aus den ehemaligen Kolonien. | |
| [2][Anne Weber lebt seit ungefähr 40 Jahren in Paris], mittlerweile mit | |
| Blick auf Sacré-Cœur. Sie hat in etlichen Romanen und Essays psychologische | |
| und gesellschaftliche Feldstudien unternommen, in oft leichter, | |
| verspielter, aber auch tiefgründiger und feinfühliger Sprache. Mit | |
| „Bannmeilen“, der ursprünglichen Bedeutung der geläufigen Bezeichnung | |
| „Banlieue“, unternimmt sie den Versuch, dieses unsichere Gelände zu | |
| erkunden, mit einer Prosa, die zwischen Ich-Erzählung und Essay changiert. | |
| Gewährsmann für die Ich-Erzählerin ist der Filmemacher Thierry, der aus | |
| einer algerischen Familie stammt. Er kennt die Codes der Banlieue, weil er | |
| hier geboren und aufgewachsen ist und auch immer noch außerhalb des | |
| Stadtrings wohnt. | |
| ## Die Olympischen Spiele in Paris | |
| Die Olympischen Spiele, die in diesem Sommer in Paris auch in der Banlieue | |
| stattfinden, sind für ihn ein interessanter Stoff, und für das | |
| „Bannmeilen“-Projekt von Anne Weber wirkt er wie eine Idealbesetzung. Er | |
| ist so etwas wie ein Bindeglied zwischen der literarisch flirrenden, | |
| feinnervigen Autorin und den exotisch anmutenden Zonen außerhalb des | |
| bürgerlich-gedämpften Paris, und in gewisser Weise steht er auch zwischen | |
| Algerien und Frankreich. | |
| Im Gegensatz zu seinem Vater, der unbedingt ein Franzose sein wollte, wird | |
| sich Thierry seines algerischen Hintergrunds zusehends bewusster und stößt | |
| ständig, im Sinne des Soziologen Pierre Bourdieu, auf die Unterschiede | |
| zwischen seiner Sozialisation und den in einen | |
| selbstverständlich-bourgeoisen Habitus hineinwachsenden | |
| Arrondissement-Parisern. | |
| Aber zugleich ist er der Einzige, den die Erzählerin jemals in mündlicher | |
| Rede das Passé Simple benutzen hörte, eine formal antiquierte, aber fein | |
| differenzierende und sonst nur noch im Schriftlichen anzutreffende Zeitform | |
| des Verbs. | |
| ## Hotspots in der Banlieue | |
| Das übel beleumundete Departement 93 vor den Toren von Paris aber steht für | |
| die absolute Gegenwart. Thierry und die Erzählerin treffen sich zu ihren | |
| Spaziergängen immer an einer Endhaltestelle der Métro oder der Tram am | |
| Périphérique, durchqueren die Autobahnbarrieren und machen sich auf zu | |
| diversen Hotspots. Den Startschuss bildet La Courneneuve, wo Thierry seine | |
| Kindheit verbrachte. | |
| Hier stoßen sie vor dem Gitter eines Erdgeschossfensters auf zwei in | |
| Plastikfolie verpackte vertrocknete Blumensträuße und ein rotes Schild: | |
| Hier geriet 2005 Sid Ahmed, ein unbeteiligter elfjähriger Junge, in einen | |
| Schusswechsel, bei dem es ziemlich sicher um Drogen ging, und das war der | |
| Anlass für die berüchtigt gewordene Äußerung des damaligen Innenministers | |
| Nicolas Sarkozy, er würde nun diese Siedlung „kärchern“. Der Ton Anne | |
| Webers ist dagegen betont sachlich, registrierend, interessiert. Es geht | |
| ihr um das genaue Hinschauen und um die Befragung der eigenen Sichtweisen. | |
| Mit als erstes verwirren sie die chouffeurs, die Späher, die auf | |
| abgewrackten Bürosesseln an Hausecken sitzen. Sie schlagen für die | |
| Drogendealer Alarm, wenn die Polizei auftaucht, und zwar in einer Art | |
| Kanon. Ein langgezogener Ruf folgt dem nächsten, es hört sich wie ein | |
| Klagegesang an, und die Erzählerin nimmt das Vielstimmige, Klangvolle | |
| dieser Laute als sehr eigenständig wahr, da, wo man eher etwas Panisches | |
| oder Erschrecktes vermuten würde. | |
| Ein ähnlicher Verfremdungseffekt stellt sich ein, wenn sie die | |
| Einkaufswagengrills sieht, improvisierte Imbisse, die zum üblichen | |
| Alltagsbild gehören. Und auf den Balkonen fallen die schwarzen | |
| Plastiktonnen auf, deren Funktion völlig unklar ist. Ursprünglich sind es | |
| wohl Gurkenfässer, einmal hat sie so ein Gefäß schon im alten jüdischen | |
| Viertel Marais im Zentrum gesehen, wo wirklich Gurken darin angeboten | |
| wurden – hier ist das offenkundig anders. | |
| ## Der Schlachthof unter der Autobahn | |
| Atmosphärisch zentral sind die Schilderungen der Wege zu Fuß, wofür dieses | |
| scheinbare Niemandsland offenkundig gar nicht vorgesehen ist: ein unter der | |
| Autobahn gelegener Halal-Schlachthof, Großbaumärkte, Reinigungsfirmen, ein | |
| Ibis-Hotel neben einer verlassenen Fabrik aus den fünfziger Jahren, kleine | |
| Wohnhäuschen, die vergessen und auch nicht mehr bewohnt sind. | |
| Es gibt aber auch als fortschrittlich gedachte Wohnhochhäuser wie die zwei | |
| „Camemberts“ in Noisy-le-Grand: zwei jeweils von Hunderten bewohnte | |
| Betonräder, die hochkant einander gegenübergestellt sind, Zeugen einer | |
| architektonischen Utopie. Polizisten, die ihre Teleskopschlagstöcke | |
| ausfahren, drei schwarze Jungs, die urplötzlich auf zwei Polizisten | |
| lospreschen, graffitibedeckte Mauern und ein paar Schritte weiter | |
| verrammelte Einfamilienhäuschen gehören zu den wie Genrebilder | |
| eingestreuten Eindrücken, die die Erzählerin hier festhält. | |
| Aus verschiedenen kleinen Momenten setzt sich langsam ein Bild zusammen, | |
| das aber per se nicht zu einem vollständigen werden kann. Zu viele | |
| Irritationen schieben sich dazwischen. Es gibt unerwartete Entdeckungen wie | |
| die, dass in Bobigny, in der Nähe einer Olympia-Baustelle, an einem der | |
| Wohnblöcke mit vor sich hin rostenden Eisenvorhängen plötzlich ein | |
| Plastikschild hängt: Hier sei 1959 Asterix geboren, weil sein Erfinder | |
| Albert Uderzo damals an dieser Adresse wohnte. | |
| Oder die Geschichte des Goldmedaillengewinners von 1928 im Marathonlauf, | |
| Boughéra El Ouafi, dessen Grab auf einem muslimischen Friedhof zwischen | |
| „Bauschuttgetöse“ von Zangen- und Löffelbaggern die beiden Vorstadtflaneu… | |
| besuchen: in Algerien in tiefster Armut aufgewachsen, einen kurzen Moment | |
| berühmt, dann wieder in die unterste soziale Schicht abgesunken und 1959 in | |
| einem schäbigen Hotelzimmer unter undurchsichtigen Umständen umgebracht. | |
| Zug um Zug enthüllt sich auch einiges von Thierrys Biografie, des | |
| glänzenden, sprachbewussten Intellektuellen. Die Erzählerin stößt bei ihren | |
| Streifzügen mit ihm auf ein Café, das einzige weit und breit, in dem auch | |
| Frauen verkehren, und die beiden fühlen sich vom Wirt Rachid in seiner | |
| dezenten, zurückhaltenden Art sofort angezogen. | |
| ## „Zwischen zwei Woanders“ | |
| Die Gäste entsprechen dem sozialen Milieu der Gegend. Anne Weber konturiert | |
| sie mit ihren zum Teil bizarren Monologen und Dialogen sehr genau. Wie sich | |
| Thierry und der Cafébetreiber langsam über ihre Biografien näherkommen, | |
| gehört zu den herausgehobenen Szenen des Buches. Beide fühlen sich „entre | |
| deux ailleurs“, also „zwischen zwei Woanders“, sie gehören weder hierhin | |
| noch dorthin, und sie zeigen sich als so etwas wie ästhetische | |
| Ausdrucksformen dessen, was das Departement 93 ausmacht. | |
| Das kleine Lokal von Rachid ist der Fluchtpunkt dieser Streifzüge durch die | |
| Banlieue. Es übersetzt das vertraute Pariser Cafégefühl in die | |
| Unmittelbarkeit einer widersprüchlichen Gegenwart. Anne Weber beschönigt | |
| nichts, auch nicht in ihren poetischen Sprachbildern, die immer wieder | |
| ironisch gebrochen werden. | |
| Einmal kommt den beiden Fußgängern ein junger Schwarzer auf einem | |
| [3][E-Roller] mit weißen Ear-Pods entgegen, deren Enden „wie zwei dicke | |
| Tränen seine Wangen hinunterfließen“. Der Erzählerin fällt ein | |
| „kitschiges“, aber „hartnäckiges, aufdringliches Sinnbild“ ein, nämli… | |
| „Schwarzer Mann weint weiße Tränen“. Sie lässt das so stehen, und genau … | |
| gehört zur unaufdringlingen, aber nachhaltigen Wirkung dieses Buches. | |
| 16 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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