# taz.de -- Anne Webers Roman als Theaterstück: Lautstärke und Klamauk | |
> „Annette, ein Heldinnenepos“ wird zum Theaterstück. Dušan David Paříz… | |
> inszeniert Anne Webers Roman über Widerstand in Stuttgart. | |
Bild: Meistens schnippisch-cool: Sylvana Krappatsch als Annette in der Stuttgar… | |
Da ist was los, da oben auf der Bühne. Letzter Faktencheck! Alles sauber? | |
Sitzen die Latten am mittig aufgestellten Bühnenwürfel? Flutscht der Text? | |
Sind die Knie gut geschmiert? Reinigungskräfte, Akteur*innen und | |
Bühnenarbeiter sind noch in Aktion, als das Publikum im Stuttgarter | |
Schauspielhaus Platz nimmt. Ein großes Schild wird in die Höhe gehalten: | |
„Achtung, es wird laut!“ | |
Dieses Schild wird man in den folgenden zwei Stunden noch öfter sehen. Denn | |
in [1][Anne Webers Roman „Annette, ein Heldinnenepos“] geht die Heldin Anne | |
Beaumanoir, genannt Annette, durch explosive Zeiten und riskiert in ihnen | |
ihre Haut. In der Résistance bringt sie auf Geheiß von oben geheime Briefe | |
an noch geheimere Orte und rettet Juden auf eigene Faust. | |
Während des Algerienkrieges schleppt sie Geldkoffer, chauffiert algerische | |
Widerstandskämpfer, fliegt gemeinsam mit ihnen auf – und muss immer wieder | |
erleben, wie die Gestapo-Methoden, gegen die sie sich gerade noch | |
auflehnte, auf der scheinbar „guten“ Seite fröhliche Urständ feiern. | |
Die Frau, die als fünfjähriges Mädchen offenbar schon mit Begriffen wie | |
„Laizisten“ und „bretonische Glaubensfolklore“ um sich warf, hat ein | |
ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und eine aus der Lektüre von Romanen | |
gewonnene romantische Vorstellung davon, wie es ist, „für eine Causa, ein | |
Ideal, sein Leben hinzugeben“. | |
## Riesige private Opfer | |
Und auch wenn die historische Anne Beaumanoir, die für Webers Buch Pate | |
stand, erst im Frühjahr dieses Jahres 98-jährig gestorben ist, hat sie | |
riesige private Opfer gebracht. Ihre erste große Liebe wurde von den Nazis | |
ermordet. Ihre drei Kinder wuchsen ohne die Mutter auf, die nach Tunesien | |
und in die Schweiz floh, weil die französische Ärztin in ihrem Heimatland | |
als Terroristin auf dem Fahndungszettel stand. | |
Während die Regisseurin Lily Sykes in ihrer Uraufführung der Romanadaption | |
am Schauspiel Hannover die Leichtigkeit und Musikalität von Webers | |
Vers-Sprache in ein Bänkelsänger-Setting übersetzte und dem Ensemble | |
Clownsnasen verschrieb, packt [2][Dušan David Pařízek] in Stuttgart seine | |
geliebten Projektoren aus, wirft historische Fotos und die Konterfeis oder | |
durch Taschenlampenlicht erzeugte Schatten der Schauspieler*innen an | |
die Würfel-Latten und wird ansonsten laut: Wenn Peter Fasching, der im | |
fliegenden Wechsel alle Männerfiguren besorgt, gekonnt zu Keyboard und | |
E-Gitarre greift, wenn der Bühnenwürfel (stellvertretend für alle privaten | |
und revolutionären Gewissheiten) schließlich Wand für Wand niederkracht, | |
aber auch wenn Josephine Köhler, Sylvana Krappatsch und Sarah Franke | |
einzeln oder gemeinsam Annette und diverse Nebenrollen spielen, fehlen die | |
Zwischentöne. | |
Köhler beömmelt sich laut und ist generell schnell aus dem Häuschen, | |
Krappatsch bleibt meistens schnippisch-cool (und als einzige immer | |
Annette), und Franke kann schön bollerig berlinern, sächseln oder die | |
Karikatur einer Greisin spielen. Akustisch drückt der Abend auf die Tube, | |
als würde ein Hörspiel aufgenommen. Dabei liegt der Fokus nicht auf | |
Realismus, sondern auf möglichst markanten Unterschieden, weshalb | |
seltsamerweise alle arabischen Männer ein kerniges Österreichisch sprechen. | |
Was den Inhalt angeht, gibt es Geschichtsnachhilfe im Schnelldurchlauf. | |
Annettes kommunistische Eltern, der erste – brav mit „Danke, sehr | |
freundlich!“ entgegengenommene – Kuss, ein rumpelstilzchenhafter Charles de | |
Gaulle und Oberrevolutionäre, die den „emsigen Bienchen“ der | |
Widerstandsbasis ihren Platz zuweisen, flankieren die Erzählung. Die | |
historische Chronologie wird dabei gern noch zusätzlich | |
durcheinandergewirbelt, als hätte dieses Leben, das so voller Ereignisse | |
ist, dass man mindestens drei damit bestücken könnte, noch mehr Chaos | |
nötig. | |
## Permanent klandestin | |
Die vier Akteur*innen meistern das alles bravourös und verlieren im | |
Unterschied zum Publikum nie den Überblick. Sie legen sich vor allem | |
komödiantisch sehr ins Zeug und freuen sich übertrieben, „permanent | |
klandestin“ zu sein – „aber sowas von“. So entsteht ein spielfreudiger, | |
aber auch hypernervöser und fahriger Abend. | |
Für das titelgebende „Epos“, diesen von ungleich leiserem und feinerem | |
Humor getragenen Heldengesang in ungebundenen Versen, erhielt Anne Weber | |
2020 den Deutschen Buchpreis, weil der Roman die besungene Figur zugleich | |
in historische Distanz rückt und sanft umschmeichelt. Davon bleibt in | |
dieser klamaukigen Version nicht viel übrig. | |
Ebenso weitgehend verjuxt werden die existenzielleren Fragen nach der | |
Einsamkeit und den inneren Kämpfen eines Menschen, der zu spät merkt, dass | |
die bessere Welt, für die er kämpft, nur in seinem Kopf existiert. | |
Ob man sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen hat, wie der | |
Abend mit Camus behauptet, kann im Anschluss jeder für sich klären. Ob uns | |
dieser besondere weibliche Heldentypus gerade in der Ukraine oder im Iran | |
wieder begegnet, auch. | |
8 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Wiederentdeckung-des-Versepos/!5706276 | |
[2] /Tschechows-Drei-Schwestern-in-Bremen/!5875020 | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
## TAGS | |
Theater | |
Roman | |
Bühne | |
Widerstand | |
Theater | |
Theater | |
Bremer Theater | |
Deutscher Buchpreis | |
Buch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Zeit wie im Fieber“ in Stuttgart: Hauptsache, der Teig ist rein | |
Wie viel Revolution braucht eine Gesellschaft? Am Schauspiel Stuttgart | |
zieht ein intelligenter Text von Björn SC Deigner Georg Büchner zurate. | |
Theater in Karl Valentins Echokammer: Tomatensoße zum Weltuntergang | |
Dem Wortzerklauberer Karl Valentin widmet Claudia Bauer einen Abend am | |
Residenztheater München. Mit Unsinn und Tiefsinn kämpft er gegen den | |
Untergang. | |
Tschechows „Drei Schwestern“ in Bremen: Schaudern mit den Schwestern | |
Dušan David Pařízek hat in Bremen „Drei Schwestern“ inszeniert. Der | |
russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Spuren in dem Klassiker | |
hinterlassen. | |
Überzeugender Buchpreis für Anne Weber: Literarische Feier für eine Heldin | |
Die Schriftstellerin Anne Weber erzählt die Geschichte einer | |
beeindruckenden Frau in Versform. Dafür hat sie nun den Deutschen Buchpreis | |
bekommen. | |
Wiederentdeckung des Versepos': Die Widerstandskämpferin | |
Die Schriftstellerin Anne Weber erzählt die Geschichte einer | |
beeindruckenden Frau in Versen: „Annette – ein Heldinnenepos“. |