| # taz.de -- Tschechows „Drei Schwestern“ in Bremen: Schaudern mit den Schwe… | |
| > Dušan David Pařízek hat in Bremen „Drei Schwestern“ inszeniert. Der | |
| > russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Spuren in dem Klassiker | |
| > hinterlassen. | |
| Bild: Drei Schwestern in Bremen: Verena Reichhardt, Anna Zaorska, und Irene Kle… | |
| In der Provinz versauert die Intelligenzija, die Abgehängten und | |
| Deklassierten schwingen sich zu Tyrannen auf – und Soldaten fiebern darauf, | |
| endlich in den Krieg zu ziehen, statt immer nur davon zu reden: Anton | |
| Tschechows „Drei Schwestern“ scheinen nach gut 120 Jahren anlässlich der | |
| Bremer Premiere so aktuell wie nie. Auch und weil dieser Krieg im Text nun | |
| einmal „militärische Operation“ heißt. | |
| Natürlich geht die Weltlage an [1][Dušan David Pařízek]s Inszenierung des | |
| Theaterklassikers nicht vorbei. Zwei Jahre lag die Premiere auf Eis, | |
| verschoben erst wegen der Pandemie, angeschlagen von einer schweren | |
| Erkrankung in der Besetzung und schließlich inhaltlich erschüttert vom | |
| russischen Angriff auf die Ukraine. Nun fand sie dennoch endlich statt und | |
| die Verhältnisse haben sich eingeschrieben in die Produktion – subtil zwar, | |
| aber eben doch so, dass es einem über die zweieinhalbstündige Aufführung | |
| keine Ruhe lässt. | |
| Manchmal ist da nur ein seichtes Schaudern, etwa wenn die | |
| Schauspieler:innen sich plötzlich vor eingebildetem Geschützfeuer in | |
| der Ferne wegducken. Da ist schon klar, was das meint, auch wenn der Dialog | |
| noch so harmlos von den Salutschüssen auf Vaters Beerdigung handelt. | |
| Manchmal gerät das aber auch ausgesprochen witzig. Zum Beispiel, wenn | |
| Alexander Schwoboda als Werschinin in deppertem Aufzug und falschem Pathos | |
| „in den Farben der panslawischen Einheit“ posiert: blau seine | |
| unvorteilhafte Jogginghose, rot der Samtvorhang am Bühnenrand und – na ja – | |
| weiß der käsige Bauch. | |
| ## Der Frust der Abgehängten | |
| Tschechow hat den Text auf der Krim geschrieben. Der sehnsuchtsvolle Ruf | |
| „nach Moskau!“ ist in die Literaturgeschichte eingezogen als Marker für | |
| Frust, Leidenschaft und Degeneration der Abgehängten in der Peripherie am | |
| Vorabend der Revolution. Die Eliten hatten abgewirtschaftet, die | |
| Zeitenwende verschlafen und den Anschluss verpasst. Allein von dieser | |
| Gefühls- und Gemengelage handelt der Abend, denn wo schon im Stück der Plot | |
| eher hintansteht, dampft die Figuren streichende Inszenierung die Handlung | |
| noch weiter ein. | |
| Und das, obwohl doch allen ständig irgendwas passiert: Die Schwestern | |
| Irina, Olga und Mascha leben mit Bruder Andrej und ihrer tyrannischen | |
| Schwägerin Natascha zusammen. Sie werden ihrer Zimmer beraubt, verloben | |
| sich und machen unfreiwillig Karriere. Nur in die ersehnte Großstadt kommen | |
| sie eben nicht – und werden auch anderweitig nicht glücklich, obwohl die | |
| ständig vorbeischarwenzelnde Männerwelt doch immer wieder irgendwelche | |
| Angebote macht. | |
| [2][Tschechow verdichtet die beklemmende Atmosphäre einer Klasse in ihrer | |
| Endzeit] zum Kammerspiel im Herrenhaus. Der Tscheche Pařízek, der sich | |
| neben der Regie auch für die Bühne verantwortlich zeigt, macht daraus einen | |
| von weißen Papierbahnen behangenen Würfel. Eine Projektionsfläche im | |
| wahrsten Sinne des Wortes, weil das Licht tatsächlich vor allem von zwei | |
| Overheadprojektoren am vorderen Bühnenrand stammt: metaphorisch – klar – | |
| und klassisches Equipment zielloser Lehrveranstaltungen. | |
| Vor diesem Hintergrund präsentiert sich [3][das Bremer Ensemble] nun in | |
| Höchstform. Der Clou hier: Wie mit Verena Reichhardt und Irene Kleinschmidt | |
| zwei ältere Semester über ihr Leid als früh verbrauchte Twentysomethings | |
| klagen. Während Lisa Guth als bösartige Schwägerin den Laden mit fühlbarer | |
| Fiesheit unter ihre Kontrolle bekommt und dabei schauspielerisch unter | |
| Beweis stellt, dass provinzielle Dumpfheit und aggressive | |
| Allmachtsfantasien mitunter doch das Gleiche sind. | |
| ## Zweitjob der Souffleuse | |
| Wer mitgezählt hat, dürfte die fehlende dritte Schwester bemerkt haben. Die | |
| wird teils von den anderen mitgespielt, aber auch von Souffleuse Anna | |
| Zaorska, die den Zweitjob mehr als nur hinreichend stemmt. Der Hintergrund | |
| ist eine Ansage an den Betrieb: Auch eine lange kranke Kollegin ist nicht | |
| einfach ersetzbar. Das habe man aus der Pandemie gelernt, lässt sich | |
| Pařízek im Programm zitieren. | |
| Blieben noch die Herren, die noch mal ein paar Schippen drauflegen auf ihre | |
| im Text angelegten Krisen, woraus tatsächlich eine schillernde und | |
| tieftraurige Parade brüchiger Männlichkeit erwächst. Im Mittelpunkt steht | |
| Martin Baum, der den hier schwulen Stabskapitän Soljonyj eine hilflose | |
| Travestie aufführen lässt, sich auf hohen Absätzen die Lippen schminkt und | |
| dabei doch gleich selbst ein „Dreck“ auf die Stirn kritzeln muss. Und Baron | |
| Tusenbach, den Matthieu Svetchine mit großem Fingerspitzengefühl so | |
| gutherzig wie einflusslos halbwegs klarkommen lässt – der wird dafür | |
| erschossen. | |
| Ist das der Grund für den Krieg? Nein. Es ist sein Personal: so beschädigt, | |
| so aggressiv, so sexuell frustriert – so wunderbar gespielt zur Musik von | |
| Peter Fasching, der neben Pop von Billy Joel und Roy Black ganz besonders | |
| den russischen Liedermacher Bulat Okudschawa in den Abend zitiert. Auch so | |
| ein Schaudermoment übrigens, der ein wenig am Text und sehr an der Betonung | |
| hängt: „Ach, der erste Krieg – da ist keiner schuld. Und beim zweiten Krieg | |
| – da hat einer Schuld.“ | |
| 31 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
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