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# taz.de -- Tschechow am Deutschen Theater: Altern als Vollzeitbeschäftigung
> Auf der Bühne ein Mummenschanz. Der exilrussische Gastregisseur Timofej
> Kuljabin inszeniert Tschechows „Platonow“ als Liebesdrama im Altersheim.
Bild: Sehen beide alt aus: Katrin Wichmann und Alexander Khuon in Kuljabins Pla…
„Platonow“ ist [1][nicht Anton Tschechows allerbestes Stück]. Er schrieb es
als Gymnasiast und vernichtete das Manuskript, nachdem es nicht zur
Aufführung angenommen worden war. Die Urfassung, die man später in seinem
Nachlass entdeckte, wäre etwa sieben Stunden lang, würde man sie ganz
spielen, und hat daher wohl noch nie eine Inszenierung in voller Länge
erlebt. Das macht sie zu einem lohnenswerten Steinbruch für das
Regietheater.
Jeder Regisseur (und jede Regisseurin theoretisch auch; aber aus bestimmten
Gründen ist das Stück für Frauen weniger reizvoll) kann und muss sich
seinen eigenen Platonow basteln. Das hat auch Timofej Kuljabin getan,
exilrussischer Gastregisseur am Deutschen Theater, dem ein Ruf als
Tschechow-Runderneuerer vorausgeht. Kuljabin ist, unerschrocken vor diesem
Titanen der Weltliteratur, noch über das Steinbruchprinzip hinausgegangen
und hat, zusammen mit Co-Autor Roman Dolzhanskiy, eine eigene, adaptierte
Version des Dramas (das allgemein als „Komödie“ geführt wird) erstellt.
Bei Kuljabin/Dolzhanskiy ist Platonow kein zynischer junger
Dorfintellektueller, der wie ein zerstörerischer Komet in eine öde
Gesellschaft niederen Landadels platzt, sondern ein alter Mann, ein
einstiger Starschauspieler, der das Leben im Altersheim nicht erträgt. Auch
alle anderen Charaktere sind InsassInnen dieser Institution, einer
speziellen Seniorenresidenz für ehemalige BühnenkünstlerInnen.
In Russland, so ist im Programmheft zu lesen, soll es zahlreiche solcher
spezialisierten Heime geben. Ein Bühnenstück mit genau diesem Setting hat
übrigens Dustin Hoffman vor zehn Jahren ganz hinreißend verfilmt
(„Quartett“, nach einer Vorlage des Autors Ronald Harwood) und dabei
gezeigt, dass dem Alter sowohl komische als auch romantische Seiten
abzugewinnen sind, ohne dass man gleichzeitig die Tragik der menschlichen
Endlichkeit aus dem Auge verlieren muss. Vermutlich hat Timofej Kuljabin
Vergleichbares im Sinn gehabt.
## Bemüht gebeugte Haltung
Tragikomisch genug ist die Geschichte um den überheblichen Platonow, der
aus reiner Langeweile alle Frauen in sich verliebt macht, die nicht bei
drei auf den Bäumen sind, auf jeden Fall. Und sicherlich ist auch an dem
Gedanken etwas dran, dass die grundlegenden Sehnsüchte, Toll- und Torheiten
der Menschen in jedem Lebensalter dieselben sind. Eine schöne
Inszenierungsidee, auf jeden Fall.
Warum der Regisseur der Ansicht war, man müsste diese Idee noch weiter
verfremden, ist rätselhaft. (Oder wäre es schlicht zu teuer gewesen, für
die Inszenierung [2][freischaffende DarstellerInnen zu verpflichten, die im
richtigen Alter] – deutlich jenseits der Pensionsgrenze – gewesen wären?)
Die hochbetagten Bühnencharaktere werden sämtlich von in der Blüte ihrer
Jahre stehenden Ensemblemitgliedern des Deutschen Theaters Berlin gegeben,
die von den MaskenbildnerInnen in sicherlich stundenlanger Kleinarbeit mit
Falten, Schlabberkinnen und gräulicher Gesichtsfarbe versehen worden sind.
Alle bemühen sich um eine gebeugte Haltung und einen gezügelten
Bewegungsablauf; manche sind mit Gehhilfen versehen worden. Und man kann
nicht sagen, dass sie ihre Sache schlecht machen. Doch vor allem wirken
alle auffällig verkleidet. Vielleicht ist das sogar Absicht (aber warum),
wer weiß? Vielleicht ist es auch Absicht, dass die meisten von ihnen ihren
Text irgendwie [3][so diffus brechtisch] vor sich hertragen?
Das könnte aber auch daran liegen, dass sie alle so sehr damit beschäftigt
sind, „alt“ zu spielen, dass der eigentliche Inhalt des Stückes dabei zur
Nebensache wird. Und auf der anderen Seite der Rampe wird man als
Zuschauerin so davon in Anspruch genommen, die Diskrepanz zwischen dem
künstlich greisen Agieren und dem jüngeren Stimmklang der DarstellerInnen
zu verarbeiten, dass es daneben kaum noch möglich ist, die behaupteten
zwischenmenschlichen Probleme dieser verkleideten Personen ernstzunehmen.
Liebe? Leiden? Eifersucht? Ach was. Es ist ein stinklangweiliger
Mummenschanz. Nicht mal erschossen wird der Mistkerl am Schluss. Und
Oldfacing im Theater gehört einfach verboten.
28 Sep 2022
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## AUTOREN
Katharina Granzin
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