# taz.de -- „Die Möwe“ in London: „Keine Subventionen mehr für Künstle… | |
> Thomas Ostermeier inszeniert mit Cate Blanchett am Barbican Centre in | |
> London Tschechows „Möwe“ als britische Komödie. Bitterkomisch und | |
> herzerweichend. | |
Bild: Medvenko (Zachary Hart) und Arkadina (Cate Blanchett) in „Die Möwe“ | |
Eine überschaubare grüne Schilfinsel wächst inmitten der Bühne des Londoner | |
Barbican Centre. Vielleicht auch ein Miniaturmaisfeld. Hübsche Idee für | |
die ländliche Sommerfrische in Tschechows „Möwe“ – aber nichts gegen die | |
wunderschöne Platane, die Jan Pappelbaum vor zwei Jahren für dasselbe Stück | |
in die Schaubühne gebaut hat. Dort sitzt das Publikum unter den ausladenden | |
Zweigen des Sommerbaums und lauscht dem (künstlichen) Vogelgezwitscher. | |
Auch in London zwitschern die Vögel nun über die kleine Insel (von Magda | |
Willi). Was ist das, die Berliner Fassung im Kleinformat? Schließlich heißt | |
der Regisseur beider Arbeiten: Thomas Ostermeier. Insgesamt ist es sogar | |
seine vierte Inszenierung der „Möwe“ – in Paris, Amsterdam, Berlin und | |
jetzt in London. | |
Aber der erste Eindruck stimmt eben nicht immer. Diese Londoner „Möwe“ ist | |
weitaus ausgereifter, genauer, politischer und nicht zuletzt: anrührender | |
als Ostermeiers doch arg brachial-komödiantische Berliner Variante. Mit | |
einem britisch-australischen Ensemble, das einem schlicht und ergreifend | |
das Herz bricht an diesem erfrischend heiteren, bitterkomischen Abend. Wer | |
hätte gedacht, dass in Tschechow so viel feine, schwarzhumorige, britische | |
Komödie steckt? | |
Auf dem verarmten Landgut von Peter (nicht „Pjotr“, wir befinden uns in | |
England) irgendwo im Nirgendwo treffen jeden Sommer zwei Generationen und | |
soziale Klassen aufeinander. Peters Schwester, die große Schauspieldiva | |
Irina, diesmal mit ihrem Liebhaber, dem berühmten Schriftsteller Alexander | |
Trigorin angereist, besucht hier ihren Sohn Kostja – ein junger Mann, der | |
das Theater als Regisseur und Autor neu erfinden will. | |
Der australische [1][Filmschauspieler Kodi Smit-McPhee („The Power of the | |
Dog“)] gibt hier sein Bühnendebüt als verletzlicher Teenager, in Hassliebe | |
zu seiner omnipotenten Mutter entbrannt und in Seelenverwandtschaft mit der | |
jungen Schauspielerin Nina verbunden. Emma Corrin, die junge Lady Diana in | |
der Serie „The Crown“, porträtiert diese Nina scheu und verunsichert von | |
ihrer aufkeimenden Amour fou zu Trigorin. | |
## Ganz die selbstoptimierte Frau | |
Und dann ist da natürlich sie: Cate Blanchett, Oscar-Gewinnerin, Superstar, | |
in der Rolle der Schauspielqueen Irina Arkadina, die mit dem Altern hadert | |
und für das Kunstverständnis der nachwachsenden Generation nur Spott übrig | |
hat. Aus purer Langweile macht sie sich über die deprimierte Mascha her. | |
Doppelt so alt wie Mascha, und schaue doch jünger aus, findet sie und | |
schwingt die Hüften. Tanzt wie ein Zirkuspferd über die Bühne und lässt | |
sich zum Applaus des Publikums in den Spagat fallen. Ganz die | |
selbstoptimierte Frau, die aus sich, wie sie sagt, ein „Business“ gemacht | |
habe, das es kostspielig zu unterhalten gelte. | |
Blanchett stand zum Beginn ihrer Karriere in der Rolle der Nina in der | |
„Möwe“ auf der Bühne – jetzt gibt sie, selbst ein Star, die Arkadina. A… | |
Schauspielerin, die nicht mehr weiß, wo die Bühne aufhört und das Leben | |
anfängt. Wenn Trigorin sie für Nina verlassen möchte, weigert sie sich | |
zunächst, die „Rolle“ der verlassenen Frau anzunehmen. „Bitte, nicht die… | |
Szene“, sagt sie – und spielt sie dann gleich zweimal. Zuerst mit großen | |
Gesten. Dann reißt sie sich den Mikroport vom Leib, kauert wimmernd am | |
Boden. Es funktioniert: Trigorin bleibt bei ihr. Vorerst. | |
Ostermeier und Blanchett kennen sich seit 2011, als sein „Hamlet“ an | |
Blanchetts Theater in Sidney gastierte. Seitdem, sagen beide, wollten sie | |
zusammenarbeiten. Dass das nun Wirklichkeit geworden ist, ist ein Glück: | |
Wie Blanchett ihr Spiel mit den Rollen bricht, wie sie Arkadina | |
komödiantisch auftrumpfen lässt und ihr dann (in den Kämpfen mit ihrem | |
Sohn) einen menschlichen Moment gönnt, das ist exzellente Schauspielkunst. | |
Allerdings: Wirklich nah kommt einem ihre Figur nicht. | |
## Ein zutiefst unglückliches Paar | |
Das Herz der Aufführung schlägt bei Tanya Reynolds, bekannt aus der Serie | |
„Sex Education“, und Zachary Hart („Peaky Blinders“). Als zutiefst | |
unglückliches Paar Mascha und Simon sind sie in ihrer Mischung aus | |
Liebeskummer, Depression und Weltschmerz steinerweichend. Zum Lachen und | |
zum Heulen ist das, wie Mascha mit Simon ihre Liebe zu Kostja begraben | |
möchte. „Ich werde ein Leben ohne Liebe leben“, offenbart sie Trigorin. | |
Wie? „Ich werde heiraten!“ | |
Mit Simon kommt die Inszenierung zudem bei den sozialen Problemen im Heute | |
an. Simon, bei Tschechow ein Lehrer, ist hier ein Fabrikarbeiter, working | |
class aus dem armen Norden, mit einem harten nordenglischen Akzent, der die | |
Protestsongs von Billy Bragg schöner singt als Billy Bragg und sich über | |
die gestiegenen Lebenshaltungskosten beschwert. Eine Seele von Mensch. | |
Bei aller feiner Psychologie kommt der Generationenkonflikt, die | |
Kunstdebatte, nicht zu kurz. Kostja möchte das elitäre Traditionstheater | |
seiner Mutter niederreißen – hat aber selbst nur verstiegene | |
Performancekunst zu bieten. Lustig, wie Ostermeier die Ästhetik der neuen | |
Generation mit einer VR-Brillenszene augenzwinkernd kommentiert. | |
„Die Kulturindustrie muss niedergerissen werden!“, wettert Kostja. „Keine | |
Subventionen mehr für Künstler über 40!“ Letzteres ist ein Zitat von | |
Ostermeier selbst, damals, als er noch zu den jungen Wilden gehörte. Und | |
sich nun selbst auf die Schippe nimmt. Die Welt mit Theater verändern? | |
Daran glaubt Ostermeier schon lange nicht mehr. | |
## Synonym für Avantgardetheater | |
Wofür heute noch Kunst, fragt auch Trigorin. Tom Burke gibt ihn als | |
sympathischen Schluffi – bis er sich zum introvertierten Vollnarzissten | |
entpuppt. Eine wunderbare Understatement-Performance. Die Welt brauche, | |
sagt er in dieser pointierten neuen Fassung des Briten Duncan McMillan, | |
keine Romanciers, sie brauche mutige Menschen wie den ukrainischen | |
Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. „Kunst war noch nie weniger relevant als | |
heute.“ | |
Dass Ostermeier in London als Synonym für Avantgardetheater steht, hat mehr | |
mit dem theatertraditionellen Großbritannien zu tun als mit Ostermeier. In | |
dieser, seiner erst zweiten englischsprachigen Inszenierung, karikiert er | |
zwar mit VR-Brillen, Mikrofonen und Geplänkel mit dem Publikum gängige | |
Theatermoden, bringt aber sicherlich keine ästhetischen Konventionen zu | |
Fall. Doch das ist auch nicht seine Absicht. Mit offenem Herzen schaut | |
Ostermeier den Figuren beim Lieben, Leiden und Sterben zu, in all ihrer | |
Traurigkeit, Lächerlichkeit und Komik. Und wir mit ihm. | |
10 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Behrendt | |
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