| # taz.de -- „Kirschgarten“ im Schauspielhaus Hamburg: „Wir haben Nachtfro… | |
| > Kann man Theater aus der Sicht von Kirsche, Fuchs und Baum erzählen? Die | |
| > Regisseurin Katie Mitchel versucht es in Hamburg mit dem „Kirschgarten“. | |
| Bild: Bilder, Geräusche, Sprache und Musik werden im „Kirschgarten“ live g… | |
| Seit Generationen befindet er sich im Familienbesitz, birgt unvergessliche | |
| Erinnerungen. Im Frühling gleicht er einem riesigen Blütenmeer. Er habe | |
| sogar einen Wikipedia-Eintrag, heißt es einmal. Doch er wird verkauft | |
| werden, dieser „Kirschgarten“, den die Regisseurin Katie Mitchell sehr frei | |
| nach Anton Tschechow am Schauspielhaus Hamburg inszeniert. Verkauft und | |
| abgeholzt. | |
| Jahrelang hat die Guts- und Gartenbesitzerin Ranjewskaja ihr Geld zum | |
| Fenster rausgeworfen und Schuldenberge angehäuft. Zu deren Tilgung schlägt | |
| der Unternehmer Lopachin vor, den Kirschgarten abzuholzen und auf dem | |
| Grundstück gewinnbringende Wochenendhäuser zu errichten. Der Kapitalismus | |
| als zerstörerische Kraft. | |
| Eine Komödie hat [1][Tschechow] sein letztes, 1903 entstandenes Stück | |
| genannt. Eine Komödie und ein Zeitgemälde über den Machtverlust des Adels | |
| und das Erstarken des Bürgertums mit ironisch und einfühlsam gezeichneten | |
| Figuren, angesiedelt irgendwo zwischen Nostalgie und Erwartung. Doch diese | |
| Figuren, kommen bei [2][Katie Mitchell] quasi nicht vor. Trotz der elf | |
| Spieler*innen Paul Behren, Eva Bühnen, Sandra Gerling, Ute Hannig, | |
| Sachiko Hara, Jonas Hellenkemper, Christoph Jöde (in der Premiere | |
| krankheitsbedingt ersetzt durch Tilmann Strauß), Alan Naylor, Joël | |
| Schnabel, Michael Weber und Julia Wieninger. | |
| Diese sind instruiert zum Livegeräuschemachen und werden reduziert auf eine | |
| Handvoll künstlich ausgeleuchteter Spielskizzen vor Green Screen. Ihre | |
| Textpassagen sind komprimiert auf wenige Satzfetzen. „Wir haben Nachtfrost. | |
| Drei Grad unter null, und die Kirschbäume stehen in voller Blüte“ oder „Am | |
| 22. Oktober wird der Kirschgarten verkauft“ sind Fragmente, die aus dem | |
| vielen unverständlichen Zwischengemurmel herausbrechen. | |
| ## Reise durch die Natur | |
| Eine Rollenzuordnung ist hier zweitrangig, psychologisches Spiel oder | |
| nachvollziehbare Handlungen sind unerwünscht. Denn statt Ranjewskaja, | |
| Lopachim, Varja und Co macht Mitchell die Bäume des „Kirschgartens“ zum | |
| Protagonisten ihrer Inszenierung. | |
| Das ist ein eigenwilliger, aber mit [3][Blick auf den Klimawandel | |
| sicherlich zeitgemäßer Zugriff] auf das Stück, dessen Inhalt die | |
| Regisseurin voraussetzt. Doch dieser Zugriff ist zugleich auch eine | |
| Zumutung. Zum einen für die Darsteller*innen, die eineinhalb Stunden mit | |
| Tüchern, Pfeifen und Papieren in einem der beiden puristischen Glaskuben | |
| (Bühne: Alex Eales) die eingeblendeten Naturfilme akustisch untermalen, zum | |
| anderen für die Zuschauer*innen, die statt eines Theaterstücks eine | |
| bilderreiche Reise durch die Natur erleben, begleitet von einem | |
| Live-Quartett (im zweiten Glaskubus). | |
| Denn oberhalb der beiden Glaskästen, auf einer dreigeteilten | |
| Projektionsfläche, wechseln Fuchs und Hase, Biene und Eule, Sonne und Mond | |
| einander ab. Feiern Grant Gree (Video Director) und Ellie Thompson | |
| (Videodesign) die Schönheit des Kirschgartens und damit der Natur. Führen | |
| in höchst eindrucksvollen Nahaufnahmen durch die vier Jahreszeiten, | |
| porträtieren wippende Amseln auf blühenden Kirschbaumzweigen, surrende | |
| Bienen an roten, prallen Früchten, zeigen faulende Kirschen im Gras und | |
| Eichhörnchen auf kahlen, froststarren Zweigen. Die Darsteller*innen | |
| erschaffen jeweils die Geräusche dazu. | |
| Bald wirkt das Ganze gerade so, als wohne man einer Hörspielaufzeichnung | |
| mit Livevideo bei, deren Soundtrack das Streichquartett mit treibenden, | |
| atonalen Kompositionen liefert. Diese filmisch-musikalischen Eloge an die | |
| Natur ist mehr Installation als anbindendes Theatererlebnis. | |
| ## Alles ist exakt choreografiert | |
| Ihre Setzung, das Stück aus der Perspektive der Natur zu erzählen, verfolgt | |
| Mitchell mit enormer Konsequenz. An diesem Abend ist nichts dem Zufall | |
| überlassen, jede Bewegung ist mit höchster Exaktheit choreografiert. | |
| Das wird allerspätestens dann deutlich, wenn das Stück nach dem ersten | |
| Baumfällen – mit Kettensäge und flirrenden Sägespänen – wieder rückwä… | |
| läuft. Wenn sich die Zeit zurückzudrehen scheint und mit ihr Text, Bilder, | |
| Sounds. Einen Zwischenstopp, eine andere Abzweigung wird es nicht geben, | |
| das gesamte Stück wird rückwärts erzählt; im Fast-Reverse-Modus bis zu | |
| dessen Anfang, der mit großen Lettern von nichts weniger als vom drohenden | |
| Untergang erzählt: „Wenn wir weiter die Natur misshandeln, wird sie | |
| kollabieren und wir mit ihr.“ | |
| Man bewundert ein fein funktionierendes Getriebe und wundert sich, dass es | |
| streckenweise einem Horrortrip gleicht. Man bewundert eine auf die Spitze | |
| getriebene Perfektion und wundert sich, warum darin statt eines Kirschbaums | |
| eine Birke gefällt wird. Man bewundert ein nahezu hermetisches, aseptisches | |
| Kunstwerk und wundert sich nicht, dass es einen vollkommen kalt lässt. | |
| 29 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Ullmann | |
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