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# taz.de -- Theater und Klimakrise: „Gretas Panik“ und „Bills Hoffnung“
> Frontalunterricht oder Kunst? Die Klimakrise ist kein einfacher Stoff für
> das Theater, wie „2027 – Die Zeit, die bleibt“ in Mannheim wieder zeigt…
Bild: Beim Leben zuschauen: Szene aus „2027 – Die Zeit, die bleibt“ am Na…
Sieben Jahre, sechs Monate und etliche Tage, Minuten und Sekunden in
konstanter Bewegung: Für die große runde Scheibe auf der Bühne des
Nationaltheater Mannheim läuft die Zeit ab. Und nicht nur für sie. Bald ist
nach Berechnung des Mercator Research Institute of Global Commons and
Climate Change der Punkt erreicht, an dem die Erde kein Kohlenstoffdioxid
mehr absorbieren kann.
Dann ist unser Kredit beim Planeten aufgebraucht. Wie also den Prozess
verlangsamen? Selbst wenn wir das Fleischessen, Autofahren und Atmen
einstellen würden, liegt die Wahrscheinlichkeit, das im Pariser
Klimaabkommen festgelegte 1,5.Grad-Ziel zu erreichen, bei schlappen 5
Prozent.
„Allein die Emissionen der noch im Betrieb befindlichen fossilen Kraftwerke
reichen aus, um die Welt über 1,5° Grad aufzuheizen“, heißt es in Gernot
Grünewalds Stück „2027 – Die Zeit, die bleibt“, uraufgeführt am
Nationaltheater Mannheim. Und schon ein halbes Grad mehr markiert „den
Unterschied zwischen stark beschädigten und gar keinen Korallenriffen“. 4
Grad: Wüste! 5: Ende der menschlichen Zivilisation! Päng!
## Näher am Point of no Return
Nein, viel Mut macht einem der Mannheimer Abend nicht, der ursprünglich am
14. März 2020 als „Siebenundzwanzig Jahre“ hätte stattfinden sollen. Dann
fuhr die Pandemie dazwischen, in deren Schatten wir 22 Monate näher
herangerückt sind an den Point of no Return für den anthropogenen
Klimawandel.
Mit „2027 – Die Zeit, die bleibt“ signalisieren Autor und Regisseur Gernot
Grünewald und sein Team nun gleich im Titel die Dringlichkeit ihres
Anliegens und gemahnen mit der rückwärts laufenden Uhr an den sich müde
tickenden Lebenspuls des blauen Planeten. Was Sache und wer schuld ist (wir
Älteren!), was wir tun können, müssen – und zwar jetzt sofort –, und sog…
einige halb ironische Anstiftungen zum SUV-Zerkratzen und Pipeline-Sprengen
sind drin im Stück.
Damit nimmt es gewissermaßen die uns blühenden sozialen Unruhen und Kriege
um Wasser und noch bewohnbares Land vorweg. Mit der Zeit verrinnt auch die
Geduld. Auf den Straßen, wo die Lockdowns die militanteren Demonstranten
vorübergehend ausgebremst haben, wie im Theater. Die Münchnerin Maja das
Gupta erfand im Dezember für ihr Jugend-Klimastück „Elias Revolution“ eine
Protagonistin, die ihre Selbstverbrennung als einzigen Ausweg sah.
## Agitpropartiges Mahnen hat Konjunktur
Alles andere als eine markige Radikalisierung wäre der Autorin falsch
erschienen. Geredet hätten die Jugendlichen ja schon genug. Auf den
deutschsprachigen Bühnen hat das Reden über den Klimawandel, das
Informieren, Mahnen und agitpropartige Wachrütteln aber nach wie vor
Konjunktur. Wenn Klimastücke vor 2019 allenfalls in die Spielpläne
tröpfelten – ein Klima-Musical hier, Rimini Protokolls immersive
„Welt-Klimakonferenz“-Simulation da –, haben die Fridays-for-Future-Strei…
zumindest hier viel bewegt.
Produktionen wie Verena Regensburgers „These Teens Will Save the Future“ an
den Münchner Kammerspielen oder Lothar Kittsteins und Volker Löschs
Ibsen-Überschreibung „Volksfeind for Future“ am Düsseldorfer Schauspielha…
holen sich die jungen Aktivisten selbst auf die Bühne. Andere schauen
gezielt auf die Umweltsünden vor der eigenen Haustür – wie das Schauspiel
Leipzig in der Spielzeit 2019/20 auf den Braunkohletagebau.
Dieses thematische Fokussieren ist eine gute Strategie gegenüber einer
strukturellen, politischen und emotionalen Überforderung, wie sie der
Klimawandel ist, und kann helfen, den Zahlen- und Fakten-Dschungel zu
lichten. Die Gefahr, dass die Bühne zur Kanzel gerät und das Theater zur
Volkshochschule, droht aber dennoch. Viele Theater bieten lieber gleich
eigene Diskursformate an, statt, wie etwa das Schauspiel Stuttgart,
wechselnde Experten als Gastredner*innen zu integrieren in Andres
Veiels und Jutta Dobersteins Gerichtsdrama „Ökozid“, in dem der Globale
Süden im Jahr 2034 den Norden verklagt.
## Eigene Klimabilanz
Nicht nur an der Berliner Schaubühne macht das Theater seine eigene
Klimabilanz zum (Neben-)Thema, wo am Rande von Katie Mitchells mauer
Inszenierung von [1][Chris Buschs Klimaaktivistinnen-Collage „(Kein)
Weltuntergang“] zwei Radfahrerinnen den auf der (recycelten) Bühne
verbrauchten Strom live erzeugen.
An unzähligen Bühnen zwischen Landshut und Rostock wird Mary Shelleys 1818
erschienener „Frankenstein“-Roman als Erzählung über die menschliche Hybr…
und Verantwortungslosigkeit wiederentdeckt; oder Texte von [2][Thomas
Köck], der als einer der ersten Theaterautoren die Umweltkatastrophe mit
unserem Wirtschaftssystem und dem globalen Ungleichgewicht verknüpfte.
Am Badischen Staatstheater Karlsruhe inszenierte Patrick Wengenroth
[3][Jonathan Safran Foers lösungsorientierten Bestseller „Wir sind das
Klima!“] Es gibt Pflanzentheater, Dystopien mit und ohne Menschenrest,
hörspielartige Abgesänge auf ausgestorbene Tierarten und immer wieder
platte bildliche Querverweise auf Klimademonstranten in eigentlich tollen
Inszenierungen wie Nicolas Stemanns „Der Besuch der alten Dame“ am
Schauspielhaus Zürich.
Kurz: Die Klimakrise ist omnipräsent – aber wird nur selten künstlerisch
gewinnbringend erzählt. Entweder kollabieren die Abende fast unter dem
unbedingten Willen, dem schweren Thema zum Trotz verspieltes, optisch
überbordendes Theater zu machen – so etwa Jan-Christoph Gockels im übrigen
sehenswerte Frankfurter Ausgrabungsarbeit in Sachen fossiler Brennstoffe
mit Upton Sinclairs „Öl“ – oder weite Strecken von [4][Marie Bues'
Inszenierung der der „Klimatrilogie in Hannove]r, die einen immer dann
überraschend packt, wenn sie auf Thomas Köcks kunstvolle Sprache und die
Präsenz der Schauspieler*innen setzt.
## Dozieren und Frontaltheater
An anderen Abenden wird schlicht doziert. Frontaltheater! Und das Publikum
schaltet ab. [5][Gernot Grünewald] macht in Mannheim beides, dozieren und
davon ablenken, dass er es tut. Er wechselt als gewiefter theatraler
Projektentwickler wiederholt die Erzähl- und ästhetischen Modi, die
Blickwinkel auf und den Abstand zum eigentlich gruselthrillertauglichen
Stoff. Mal verblüfft einen das unverhohlene Pathos und
Betroffenmachenwollen der in den Zuschauerraum gefeuerten Fragen, mal lernt
man Neues. Etwa über die nie gebaute CO2-Abscheideanlage, der das
Mannheimer Großkraftwerk GKM seine Betriebsgenehmigung verdankt.
Grünewald merkt, wann das Predigen mit Zahlen ermüdend zu werden droht und
lässt es Marie Munkert so poetisch tun wie nur irgend möglich. Dann wieder
packt er die faktengespickte Prosa umstandslos in Song-Lyrics, was zu einem
so üblen Fremdschäm-Moment gerät wie jene Szenen, in denen sich die vier
Schauspieler allgemeine Diskurse pseudodialogisch um die Ohren hauen: „Hey,
Sophie …“
Mal flattert Nicolas Fethi Türksever als virenausbrütende Fledermaus durch
die Szene auf der Suche nach dem Wald („Ich hol mir jetzt ’ne Matcha Latte
und wenn ich zurückkomme, ist hier aufgeforstet“), und Patrick Schnicke
macht sich in der Luft hängend über die modifizierten Wachstumsträume von
Bill Gates und Konsorten von grünem Stahl und CO2-Staubsaugern lustig. Wenn
wir sie denn nicht noch beide dringend brauchen: „Gretas Panik“ und „Bills
Hoffnung“!
## Jugendliche an der Rampe
Auf der Habenseite steht die Mitwirkung von 17 Mannheimer Bürgern zwischen
13 und 74 Jahren, die auf der Bühne wie stimmlich aus dem Off zugegen sind.
Mit ihnen erweitert sich das potenzielle Publikum, aber auch die
Einfallschneise für manch naive Schlussfolgerung. Vor allem die
Jugendlichen stehen wiederholt als Publikumsankläger an der Rampe.
Der Clou aber ist das Setting aus über die ganze Bühne verteilten Ess-,
Wohn- und Arbeitsecken, in denen sie dem nachgehen, was sie davon abhält zu
tun, was Wissenschaftler seit Jahrzehnten sagen: Dass es Zeit ist,
aufzustehen! Nichts mit riesigem ökologischem Fußabdruck, nur ganz
gewöhnliche Alltagsdinge: Eine ältere Frau schält eine Karotte, ein
Jugendlicher macht Hausaufgaben am Laptop, jemand liest, ein Mann streicht
die Wände.
Hier schauen wir quasi uns selbst beim Leben und Sitzenbleiben zu – und per
Video werden ihre ruhigen und auch ein wenig ratlosen Gesichter übergroß
auf die zwischenzeitlich als Projektionsfläche dienende Uhrscheibe
geworfen. Da stimmt es dann kurz inhaltlich wie künstlerisch und es kommt
auf der Bühne zusammen, was die Entwicklung auf gesellschaftlicher wie
individueller Ebene lähmt: die Komplexität des Ganzen und die Macht der
Gewohnheit.
17 Jan 2022
## LINKS
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[3] /Feuilletondebatte-zu-Literatur-und-Klima/!5808914
[4] /Theaterstueck-Klimatrilogie-in-Hannover/!5807701
[5] /Dokutheater-in-Hamburg/!5399044
## AUTOREN
Sabine Leucht
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