# taz.de -- Jelinek-Premiere in Zürich: Auf Bräune folgt Schwärze | |
> „Sonne, los jetzt!“ heißt eine Endzeitrevue in Zürich über Dummheit, | |
> Furcht und Schuld in Sachen Klimakatastrophe. Geschrieben hat sie | |
> Elfriede Jelinek. | |
Bild: „Sonne los jetzt“ nach Elfriede Jelinek am Schauspielhaus Zürich | |
Seit rund 4,5 Milliarden Jahren scheint die Sonne, und vermutlich wird sie | |
dies noch weitere 5 Milliarden Jahre tun. Gut möglich, dass das Leben auf | |
dem die Sonne umkreisenden Planeten Erde innerhalb dieser unvorstellbar | |
langen Endlichkeit nur eine kleine Episode ist, und dass es, aus | |
Perspektive der Sonne, keine Rolle spielt, ob die Spezies Mensch zur | |
vorzeitigen Auslöschung dieses Lebens beiträgt. | |
Denn was ist Zeit? Etwas, das uns erst durch Kommen und Gehen der Sonne | |
bewusst wird, so [1][Elfriede Jelinek] in „Sonne/Luft“, zwei von der | |
Lektüre altgriechischer Philosophen inspirierten Reflektionsschleifenfolgen | |
zu diesen Elementen, geschrieben teils aus deren Perspektive. „Sonne“ ist | |
ein Monolog des Himmelskörpers, mit dem die Autorin der Klimaangst ins | |
Gesicht leuchtet: „Ich bin da, um den Menschen Bräune zu geben. Und danach | |
Schwärze.“ | |
Jelineks Versuch, die Sonne als nichtmenschliches Bewusstsein zu denken, | |
hat jetzt Nicolas Stemann unter dem Titel „Sonne, los jetzt!“ auf die Bühne | |
des Zürcher Schauspielhauses gebracht. Der 1968 geborene Regisseur und | |
Co-Intendant blickt auf eine lange Geschichte mit der österreichischen | |
Dramatikerin zurück; vor allem in den nuller Jahren wurden seine | |
Uraufführungen ihrer Texte wie [2][„Das Werk“ (2003)], „Ulrike Maria | |
Stuart“ (2006) oder [3][„Die Kontrakte des Kaufmanns“ (2009)] zum Berliner | |
Theatertreffen oder den Mülheimer Stücken eingeladen. | |
Stemann und seine Schauspieler:innen übersetzten und verstärkten das | |
Politische von Jelineks Textflächen, die sich schon damals auf | |
menschengemachte Katastrophen und Hybris einschließlich der eigenen | |
bezogen, mit einer Mischung aus Neugier, Spiellust und Popmusik. | |
## Wer ist jetzt der größere Zerstörer? | |
„Sonne, los jetzt!“ auf der Zürcher Pfauen-Bühne schlägt zunächst düst… | |
Töne an. Im dunklen Zuschauerraum stimmt der amerikanischen Dichter T. S. | |
Eliot mit feinem Singsang vom Band sein Gedicht „The Hollow Men“ an, das | |
mit den bitteren Zeilen endet: „This is how the world ends / Not with a | |
bang but a whimper“. | |
Dann liest Karin Pfammatter mit schöner, klarer Stimme die ersten Seiten | |
Jelinek, die Musiker Thomas Kürstner und Sebastian Vogel rühren dazu leise | |
Fetzen eines Soundtracks an, und vom Bühnenhimmel klappt langsam eine | |
große, mit dünnem Zellstoff bespannte Sonnenskulptur, die sich im | |
Sprühnebel der nächsten zwei Stunden auflösen wird. | |
In Auflösung gerät auch der anfänglich puristische Fokus auf den Text. | |
Natürlich ist Jelineks Projekt, mithilfe eines Perspektivwechsels von der | |
eigenen Selbstzentriertheit abzusehen, hoffnungslos, denn ihre Sonne ist | |
allzu menschlich: „Gewordenes zu zerstören ist lustiger. Jedes Kind, das | |
vor seinem drei Meter hohen Legoturm steht, weiß das“, räsoniert sie. Wer | |
aber ist jetzt der große Zerstörer, die Sonne, der Mensch? Oder sind vor | |
dem Kosmos eh alle gleich? | |
Mit der Dummheit, Furcht und den Schuldgefühlen in Sachen Klimakatastrophe, | |
die Jelineks Sonne genüsslich aus der Draufsicht beschreibt, können Stemann | |
und sein furioses Ensemble am meisten anfangen. Dabei schlüpfen die | |
Schauspieler:innen Alicia Aumüller, Lena Schwarz, Patrycia Ziolkowska, | |
Daniel Lommatzsch und Sebastian Rudolph, allesamt vor 1984 geboren, neben | |
Karin Pfammatter abwechselnd in die Rolle der Sonne, lassen ihr Gesicht auf | |
die Sonnenscheibe projizieren, spielen aber auch unbelehrbare Urlauber, die | |
mit Plastikplanen Meer markieren und Globus-Wasserbälle ins Publikum | |
werfen. | |
## Viel Elektroschrott | |
Sie singen, dass es „zu spät“ sei, greifen später als grellbunte | |
Louis-XIV.-Sonnenkönig:innen zu E-Gitarren und kreischen „Highway to Hell“ | |
oder hauchen liebevoll das Gutenachtlied „Schmetterling / kommt nach Haus“ | |
ins Mikro. | |
Zur Materialsammlung für die Endzeitrevue gehört ein sicher teures | |
Kulissenteil voller Elektroschrott mit nichts als der Funktion, Konsumwahn | |
zu symbolisieren. In immer neuen raffinierten Kostümen von Katrin | |
Wolfermann treten die Performer:innen auf, schwarze Kluften, die sich | |
per Reißverschluss in schillernde Abendgewänder verwandeln; hoffen wir mal, | |
dass das alles recycelt ist. | |
Apropos, wie geht eigentlich die reiche Schweiz mit dem Klimawandel um? Ein | |
Schweizerfähnchen wird in einen namenlosen Planetenboden gerammt, doch | |
schmerzhafte Provokationen braucht das Schauspielhauspublikum nicht zu | |
fürchten. | |
## Aussterbende Arten | |
Wie [4][zuletzt öfter im Theater] zählen die Spieler:innen ausgestorbene | |
Arten auf, verlängern die Liste in die Zukunft – 2059 ist es nach Pferd und | |
Kuh auch um den Mensch geschehen, doch das Schwein kehrt zurück. Ein | |
Lacher. Schnell noch in Tierfelle und -masken geschlüpft. | |
Klar ist Theater Verschwendung, entschuldigt sich das Programmheft, aber | |
kein Theater sei schließlich auch keine Lösung. Sicher? Auch Elfriede | |
Jelinek, die in „Sonne/Luft“ nicht nur die Erde untergehen, sondern auch | |
die Sonne bis auf einen Kiesel verglühen lässt, würde jederzeit zugeben, | |
dass sie nichts als weitermachen kann. „Bis dahin wälzen wir wie Mistkäfer | |
unsre Schuld, am Leben zu sein. Doch auch das führt zu gar nichts. Zu | |
nichts“, sind ihre letzten Worte. | |
Stemann hält zwar mit Greta Thunbergs aus dem Off eingespieltem „How dare | |
you?“ dagegen. Aber es ist eben nicht seine, sondern die Stimme der hier | |
sonst ganz abwesenden nächsten Generation. | |
18 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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