# taz.de -- Kunstfest Weimar: Wenn wir ausgestorben wären | |
> Hitze, Fluten, Ausbeutung: Die Sorgen der Welt lasten auf dem Kunstfest | |
> Weimar. Mit allen Mitteln sucht es nach Erkenntnis. | |
Bild: Ohne Worte erzählt das Théâtre Les Tanneurs in „Dimanche“ von eine… | |
Wie lange noch? Wie lange noch wird die Zeit des Menschen auf der Erde | |
sein? Wann wird seine Art den anderen Arten gefolgt sein, die dank seiner | |
tatkräftigen Hilfe schon ausgestorben sind? Thomas Köcks Text „Und alle | |
Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“, der auf dem | |
Kunstfest Weimar seine Uraufführung erlebte, zündet solche Fragen wie | |
Raketen im Kopf des Zuschauers. | |
Vier Schauspieler:innen, Astrid Meyerfeldt, Sarah Sophia Meyer, Nico Link | |
und Janus Torp, arbeiten sich in der Regie von Marie Bues nacheinander an | |
langen Listen der Verluste ab, die auf die Rechnung des Menschen gehen. Mal | |
klagend, mal wütend, mal schmerzvoll traurig. | |
Das Abwesende, das Fehlende, das nie gewesen sein Werdende, bekommt in | |
dieser Performance, in der die Manuskriptblätter eines nach dem anderen zu | |
Boden segeln, ein Gesicht. Die Reunion-Schildkröte, der Kaukasus-Hirsch, | |
die japanische Seelöwin, die algerische Gazelle, der sardinische Pfeifhase: | |
der Text fragt nach ihren Träumen und Erinnerungen. Und er lässt die Tiere, | |
die nie existiert haben werden, herankriechen und brüllen: „Keine | |
Vergebung“. | |
Obwohl die Inszenierung allein auf die Sprache setzt, so ist sie doch sehr | |
bildmächtig. Die Rhetorik der Sätze, die Poesie der Tiernamen erzeugen | |
unentwegt Vorstellungsräume. Die Aufzählungen der nach kolonialen | |
Eroberungen ausgerotteten und dank unseres Natur verschlingenden | |
Wirtschaftssystems verdrängten Arten bilden einen langen Zug, der imaginär | |
die Bühne kreuzt im E-Werk in Weimar. | |
Weimar ist eine idyllische Stadt, dank des langen Grünzugs des Illtals. | |
Schafe weiden in der gepflegten Landschaft, Pferde galoppieren über ihre | |
Koppel, Radfahrern und Spaziergängern fallen die paar toten Bäume im | |
sommerlichen Grün kaum auf. Hier begann draußen am 24. August das Kunstfest | |
Weimar mit über den Park verstreuten Stationen in einer Choreographie von | |
Robyn Orlin, in der Tanzstudierende mit kleinen Zelten Szenen zum Leben mit | |
der Natur entwickelten. | |
## Die ganz großen Existenzfragen | |
Was, wenn wir nie gewesen wären? Wäre die Erde dann nicht besser dran? Auf | |
die eine oder andere Art stellten einige Projekte des dreiwöchigen | |
Kunstfest Weimar, das ich an einem verlängerten Wochenende besuchte, diese | |
Frage. | |
Es geht um nicht weniger als den Klimawandel in „Dimanche“, einer | |
Produktion ganz ohne Worte des Théâtre Les Tanneurs aus Frankreich. Mit | |
Puppen und Spielzeugen erzählen drei Performerinnen von einem kleinen | |
Filmteam und dessen Expeditionen in bedrohte Naturräume. Als das Eis in der | |
Arkis bricht, versinkt der Kameramann, und ein Eisbärenjunges treibt von | |
der Mutter weg. | |
Eine Familie leidet unter extremer Hitze, aber nach und nach fallen die | |
Ventilatoren aus, und die Großmutter bricht zusammen. Ein Zugvogel gerät in | |
einen Orkan und wird durch das Fenster eines Wohnzimmers geschleudert. | |
Dessen Bewohner kann den Vogel zwar noch braten, bevor ein Tsunami auch ihn | |
erwischt. Am Ende sieht man Teekanne, Tisch, Toaster und den Mann, der den | |
Vogel briet, mit den Fischen im Meer driften, nach all den Stürmen in einer | |
sanften Bewegung. | |
Alles Schreckliche, was in dem kurzen Stück geschieht, ist real schon | |
einmal geschehen, und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass es sich | |
wiederholen könnte. Ob es noch andere Möglichkeiten geben kann als dieses | |
beschleunigte Schlittern in die Katastrophe, deutet sich allein durch die | |
sehr reduzierten und poetischen Mittel der Aufführung an. | |
Die Körper der Performenden bilden die Landschaften, über die das kleine | |
Spielzeugauto des Expeditionsteams kreuzt. Die Hände der Spielenden | |
arbeiten perfekt im Team, reichen sich die Requisiten. Handwerklich ist es | |
eine ständige, sanfte Unterbietung des Effektvollen. | |
## Schwerindustrie im Kongo und im Ruhrgebiet | |
Um die Zerstörung der Umwelt und der Lebensgrundlagen des Menschen geht es | |
auch „Bodies and Landscapes“ von Daniel Kötter, Elisa Limberg und Sarah | |
Israel. In mehreren Kapiteln widmen sie sich dem Bergbau. Die Besucher | |
durchqueren in kleinen Gruppen mehrere Räume, in denen sich dokumentarische | |
Filme, die man mit VR-Brille sieht und also in 360-Grad-Panoramen | |
eintaucht, mit vor Ort gespielten Szenen abwechseln. | |
Im Kapitel „Water and Coltan“ geht es um das Ruhrgebiet und den Kongo. | |
Minenarbeiterinnen aus dem Kongo erzählen von ihren schweren | |
Arbeitsbedingungen, von notgedrungener Prostitution, von dem Wasser, das | |
sie krank macht, der Gewalt von militärischen Gruppen, der sie ausgesetzt | |
sind. Kleine Verschiebungen zwischen dem Realen und dem Fantastischen | |
verschränken diese Szenarien [1][mit Bildern aus dem Ruhrgebiet, von | |
Wasserleitungen und -becken.] | |
Das Ruhrgebiet werde absaufen, wenn eines Tages die Pumpen ausfallen, | |
erklärt in einer Spielszene ein Experte, und dann werden die wenigen | |
Überlebenden an den Stränden zelten. Wer denkt da jetzt nicht an die | |
jüngsten Überschwemmungen in NRW. | |
## NSU als Reenactment | |
[2][Rolf C. Hemke] ist der Leiter des Kunstfest Weimar seit drei Jahren. Er | |
sieht es als seine Aufgabe, den Status des Festivals als größtes | |
interdisziplinäres Festival im Osten Deutschlands für eine klare | |
Positionierung zu nutzen. Viele der künstlerischen Projekte docken an | |
politisch relevante Themen an. So greift etwa das Reenactment des | |
NSU-Prozesses, in dem an jedem Tag Schauspieler und Gäste aus der Lokal – | |
und der Bundespolitik aus Protokollen von Beweisaufnahmen und | |
Zeugenvernehmungen lesen und darüber diskutieren, die Vertuschung und | |
Verschleppung von Erkenntnissen auf, die auf einen strukturellen Rassismus | |
der Ermittelnden schließen lassen. | |
Jeden Tag geht es um einen anderen der Ermordeten. Vor dem Gerichtssaal, | |
eingerichtet in einem ehemaligen Rundfunkgebäude in Weimar, durchquert man | |
einen Saal mit ihren Porträts. In der Form ist dies ein ungeheuer | |
sachliches Theater, das dennoch in Ausschnitten viel von den Emotionen | |
erahnen lässt, die die Angehörigen der ermordeten Opfer erfahren haben | |
müssen. | |
Mit dieser theatralen Spurensuche, die der Regisseur Nuran David Calis und | |
der Dramaturg Tuncay Kulaoglu eingerichtet haben, schafft das Festival eine | |
neue Schnittstelle zwischen Kunst und Politik, einen Dialog in kleinen | |
Schritten, der auf Details schaut und kaum ein Verstecken hinter Floskeln | |
ermöglicht. | |
## Tesla als Heiliger | |
Auch das Kunstfest Weimar braucht ab und zu einen internationalen Star. | |
Diesmal kam er [3][mit dem internationalen Komponisten Stewart Copeland] | |
und dessen Oper „Electric Saint“, die in die Frühgeschichte der | |
Industrialisierung eintaucht, in den Konkurrenzkampf von Nikola Tesla und | |
Thomas Edison. Die sehr eingängige Musik von Stewart Copeland und die | |
deutliche Figurenzeichnung des Librettisten und Regisseurs Jonathan Moore | |
liefern eine dann doch sehr schlichte Schwarzweißzeichnung. | |
Tesla, der Idealist und Traumtänzer, der in der Wissenschaft das Göttliche | |
erkennt, wird mit himmlischen Klängen zum Heiligen verklärt, während der | |
Intrigant Edison und der Kapitalist JP Morgan, der Edison finanziert, sich | |
vor Lachen die dicken Bäuche halten, als sie Teslas Reputation zerstört | |
haben. Das ist unterhaltsam, aber auch sehr eingängig. Aber auch in | |
Ordnung, denn die meisten Projekte vom Kunstfest Weimar haben eh ein | |
längeres Echo im Erinnerungsraum. | |
8 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Ausstellung-Ruhr-Ding-Klima/!5775854 | |
[2] /Marionettentheater-aus-Mali/!5194772 | |
[3] /Ex-Police-Schlagzeuger-ueber-gute-Musik/!5603347 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
## TAGS | |
Theater | |
Weimar | |
Kunst | |
Bildende Kunst | |
Tesla | |
Thüringen | |
Festival | |
Theater | |
Politisches Theater | |
Milo Rau | |
Theater | |
taz.gazete | |
Theater | |
Oper | |
Theater | |
Theater der Welt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kunstfest Weimar: Gedenken und Gartenflucht | |
Beim Kunstfest in Thüringen kreisen Performances und Aufführungen um | |
private Paradiese, Nietzsches Schwester sowie die Deutschen und den | |
Klimaschutz. | |
Schräge Formen auf dem Kunstfest Weimar: Wenn Putin wie bei Wagner singt | |
Klimawandel, Waldgeschichten, Tyrannen und Populisten: Das alles wird beim | |
Kunstfest Weimar bearbeitet, oft mit originellem Zugriff auf harte Stoffe. | |
Theaterstück über Mensch und Schwein: Manch arme Sau | |
„Pigs“ ist eine Koproduktion der Münchner Kammerspiele und eines | |
Jugendtheaters. Darin kommen Tierschützer, Metzger, Züchter und Philosophen | |
zu Wort. | |
Theater und Klimakrise: „Gretas Panik“ und „Bills Hoffnung“ | |
Frontalunterricht oder Kunst? Die Klimakrise ist kein einfacher Stoff für | |
das Theater, wie „2027 – Die Zeit, die bleibt“ in Mannheim wieder zeigte. | |
Milo Rau über das neue „Kongo Tribunal“: In der zweigeteilten Welt | |
Um Ausbeutung, Gewalt und Umweltzerstörung geht es im „Kongo Tribunal“. Der | |
Initiator Milo Rau berichtet von diesem Weltwirtschaftsgericht. | |
Theaterstück „Klimatrilogie“ in Hannover: Rückblick nach dem Weltuntergang | |
Im Schauspiel Hannover erzählt Thomas Köck eine Geschichte der Ausbeutung. | |
Die „Klimatrilogie“ ist drastisch und vielschichtig zugleich. | |
Theaterstück zur Verkehrspolitik: Stau und Zukunft | |
Die Performance „Asphalt“ in Dresden klopft das emotionale Verhältnis zum | |
Auto ab. Und sucht nach einem Ausweg aus dem Asphaltparadigma. | |
Neustart an der Berliner Volksbühne: Heimkehr unter den Baldachin | |
René Pollesch beginnt seine Intendanz mit einer lustigen Unterforderung. Ob | |
er die Volksbühne nach Dercon und #MeToo wiederbelebt? Offen. | |
Oper über die Erfinder Tesla und Edison: „Sie werden dem Moll glauben“ | |
In Weimar wird Stewart Copelands Oper „Electric Saint“ uraufgeführt. Ein | |
Gespräch über Akkorde, Angst und die Bedeutung großer Erfinder. | |
„Oedipus“ am Deutschen Theater: Der ewig Suchende | |
Ulrich Rasche inszeniert „Oedipus“ in Berlin. Er setzt dabei auf | |
emotionsgeladenen Sound, übergeht aber die politische Dimension des Dramas. | |
„Theater der Welt“ live in Düsseldorf: „Es braucht emotionale Erlebnisse… | |
In Düsseldorf startet das Festival „Theater der Welt“. Programmdirektor | |
Stefan Schmidtke über die Planung in Coronazeiten – und das Reisen der | |
Künstler:innen. |