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# taz.de -- Schräge Formen auf dem Kunstfest Weimar: Wenn Putin wie bei Wagner…
> Klimawandel, Waldgeschichten, Tyrannen und Populisten: Das alles wird
> beim Kunstfest Weimar bearbeitet, oft mit originellem Zugriff auf harte
> Stoffe.
Bild: In der Verknüpfung mit der Oper erhalten politische Reden ein neues Gesi…
Verwittert ragen die Bobbahn-Bögen aus dem Waldboden, Brombeeren ranken
sich um die alten Kurven, abwärts führt der Wanderweg. 1909 wurde die
Spießbergbahn erbaut, der ganze Stolz der Region im Thüringer Wald. Der zur
Euphorie wurde, als auf dieser Bahn am 5. Februar 1966 die Rennrodel-WM
geplant war – die DDR ganz vorne dabei im internationalen Wintersportwesen.
Doch wegen Tauwetter musste die WM schließlich kläglich abgesagt werden.
Seit Beginn des Weimarer Kunstfests 2022 hat die Künstlerin Kristin Wenzel
einen Schriftzug auf die Zielhütte unten im Wald montiert, „1000 Melodien“,
eben jene, die das Radio DDR am Renntag live erklingen lassen wollte. Nun
erklingen im Wald geisterhaft die Überschriften der Tagespresse von damals:
„Vereisung hat begonnen – 100.000 Bratwürste für die Zuschauer – Gestern
neun Grad Wärme – Mühen der fleißigen Bahnbauern umsonst“. Sie erzählen…
Wanderer eine rührende wie verheerende Geschichte menschlicher Hybris und
davon, wie sich die Natur tröstlich doch alles zurücknimmt.
Nur wenige Kilometer weiter in Friedrichsroda ragt ein Bergtheater mitten
in waldige Felsen und da liegt der Schauspieler Dominique Horwitz auf einer
Stuhlreihe. Voll besetzt ist das Theater am nach Tannen duftenden
Sonntagmorgen. Horwitz streckt sich, erst mal ein Schluck Wodka, und läuft
sich warm als „Tribun“ in Mauricio Kagels Theatermonolog. Horwitz in
Unterhemd und Boxershorts ist ein Diktator oder ein armer Irrer, der eine
Volksrede probt: „Die Politik wird ganz oben gemacht, weil sie ganz unten
gebraucht wird.“
## Dirty Talking reist übers Land
Ekstatisch, manipulativ, euphorisch ist er, breitet jovial die Arme aus,
drückt einer Zuschauerin väterlich die Hand oder sich selbst einen blutigen
Schwamm an die Brust, performt bravourös Inhalt vortäuschende
Versatzstücke. Durch winzige Wortverschiebungen kippen sie in
Menschenverachtung: „Ich dulde keine Feinde in Freiheit.“ Zum Schluss steht
er als durchtriebener Mafiaboss triumphierend im Siegeslicht.
Im Format „Dirty Talking – Thüringer Verführungen“ reist er damit durch
Dörfer und Kleinstädte, das Publikumsgespräch danach ist obligatorisch, für
Schauspielstar Horwitz der eigentliche Grund, das Projekt angenommen zu
haben. Eine Zuschauerin der regen Diskussion fühlt sich an Hitlers
Auftritte vom Balkon des Weimarer Hotels „Elefant“ erinnert. Doch so
irrwitzig Horwitz auch über die Freiluftbühne saust, am verstörendsten ist
wohl, wie aktuell der Monolog von 1979 erscheint.
Doch auch wenn es spannend ist, wie das Kunstfest Weimar scheinbar
vergessene Ecken des Landes bespielt, finden die ganz großen Premieren im
Weimarer Nationaltheater statt. Thematisch hängt allerdings alles eng
zusammen. Denn auch im grandiosen Musiktheater „Aria di Potenza“, Arien der
Macht, geht es um Mechanismen der Manipulation.
Uraufgeführt wurde die Koproduktion mit dem Studio Teatr drei Tage zuvor in
Warschau. Regisseur Krystian Lada lässt drei Opernsänger, ihre Geschlechter
sind fluide, Reden von Putin, Trump oder auch Angela Merkel nachspielen.
Sie gehen in berühmte Arien der Operngeschichte über, die radikal und
erschreckend populistische Konzepte entlarven. Bravourös performt wird die
hetzerische Trump-Rede vor dem Sturm auf das Kapitol vom trans
Heldenbariton Lucia Lucas in glitzernder Abendrobe, [1][mit Richard Wagners
„Rheingold“ tritt er ab] – der Griff zur Weltherrschaft ist wie bei
Alberich nur aufgeschoben – und macht Platz für Putins kalte, bedrohliche
Kriegserklärung an die Ukraine.
## Es zischt und brodelt im Ton
Trumps pathetische weiße Fahne wird zur riesigen schwarzen Flagge der
Vernichtung, geschwungen vom Countertenor Théo Imart, in der Tonspur zischt
und brodelt es, geht über in die Rache-Arie der Händel-Oper „Xerxes“:
„Grausame Furien aus schrecklichen Tiefen“. Das Böse, das Trump
verkörperte, wird eben weit übertroffen im Angesicht des machtpolitischen
Höllenschlunds, den der Ukrainekrieg geöffnet hat.
Riesige Scheinwerfer tasten die Bühne ab, eine Inszenierung von Pathos und
Grauen. Und doch wird der Bombast immer wieder ironisch gebrochen: etwa mit
Boris Johnsons clownesk stammelnden Rechtfertigungsversuchen. Oder
Selenskis schulmeisterlichen Bewertungen europäischer Hilfeleistungen.
Angela Merkels „Wir schaffen das“ kommt etwas gnädiger weg, dafür wird ihr
Abschiedstanz mit Emmanuel Macron zum verschlagenen Liebesduett des
skrupellosen Kaiserpaars Nero und Poppea aus der Monteverdi-Oper. Ein
präziser Abend, der mit vermeintlich unpolitischer Oper den Blick für die
Welt schärft.
Ähnliches versucht am nächsten Abend die Uraufführung „Welcome to Paradise
Lost“ von Jörg Arnecke und [2][Falk Richter]. Inspiriert wurde sie von
persischer Sufi-Dichtung, Farid ud-Din Attars „Konferenz der Vögel“, in der
Vögel zum Gott Simurgh ziehen, damit er ihnen aus der katastrophalen
Weltlage helfe, aber letztlich können nur sie selbst sich helfen.
Arneckes Komposition, gespielt von der Staatskapelle Weimar, ist ein
heterogenes Gesamtkunstwerk aus Vogelstimmen und Volksliedern,
orientalischen Klängen und großen Arien. Auf eine Weltkugel im Raum werden
Vogelbabys oder Feuersbrünste projiziert, dazu setzt Regisseurin Andrea
Moses uns an Kaffeehaustische.
## Fridays-for-Future naht
Bald schon werden wir hochgescheucht: Vögel stürmen herein, der Chor aus
Weimarer Jugendlichen mit Vogelmasken und grellgelben Schutzanzügen
verkörpert zugleich Fridays-for-Future-Kämpferinnen. Sie skandieren
Parolen, rücken uns auf die Pelle, erst im Maschinenraum des E-Werks, dann
auf dem Vorhof. Ein riesiges Vogelhäuschen ist aufgebaut, davor
Aktivisten-Zelte.
Sie rappen die Botschaften heraus, zielen mit Molotowcocktails auf uns, so
nah ist man Operndarstellern selten gekommen. Die Sopranistin Heike
Porstein singt eine entrüstete Greta Thunberg, die Altistin Noa Frenkel ist
eine schwarzgekleidete, warmherzige Mahnerin, die am Ende zum Zusammenhalt
auffordert.
Es ist eine aktivistisch gemeinte Oper, ein groß angelegter Appell.
[3][Trotzdem hat man ihn auf dem Theater irgendwie zu oft gehört, sind die
Botschaften längst eingedrungen,] widerspricht die komplexe
Darsteller-Choreografie dem so dringlich gewollten Alarmismus. Eher würde
man sich nach konkreten Handlungshebeln sehnen.
So sind es letztlich die kleineren Formate zum Thema Klimaschutz, die in
Weimar mehr berühren. Etwa der Abend „Sea Sick“ der kanadischen
Journalistin Alanna Mitchell, die in Alltagskleidung ganz schlicht ihren
persönlichen Kampf für den Ozean schildert: Ganz allein auf der Bühne
operiert sie mit Zahlen und Tabellen, berichtet von ihren Interviews mit
Forscherinnen und einem Erweckungserlebnis in 900 Meter Tiefe.
Tief im Körper kann man die Bedrohung der Welt durch Klimawandel dann auch
im VR-Stück „Animate“ des US-Künstlers und Professor für Computerkunst
Chris Salter erleben. In einer alten Fabrik sitzen Judith Rosmair und Steve
Karier und lesen eine Kurzgeschichte von Kate Story. Zunächst wirkt sie wie
ein missglücktes Ausflugs-Date aus zwei Perspektiven, gemischt mit Trauer
und Verlust.
Immer deutlicher aber wird, dass die zwei auf einer Klimakrisen-Flucht
sind. Und dann können wir mithilfe von VR-Brillen selbst auf eine extrem
lebensecht wirkende Wanderung gehen und uns am Seil durch die Halle tasten.
Wenn sich dann die virtuellen Steine auf dem Weg erheben zu einem
Endzeit-Sturm und durch uns durchrasen, kann der Körper kaum anders, als
sich zu ducken, fliehen zu wollen, zu erkennen, dass es keinen sicheren Ort
mehr gibt.
8 Sep 2022
## LINKS
[1] /Oper-Rheingold-bei-der-Ruhrtriennale/!5231914
[2] /Falk-Richter-ueber-toxische-Maennlichkeit/!5652457
[3] /Kunstfest-Weimar/!5799356
## AUTOREN
Dorothea Marcus
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