| # taz.de -- Museumsarbeit im Krieg: „Sie stehlen unsere Kultur“ | |
| > Die Kunstwissenschaftlerin Yulia Berdiiarova floh aus der Ukraine nach | |
| > Köln. Ein Gespräch über Kulturerbe im Krieg und Museumsarbeit aus dem | |
| > Exil. | |
| Bild: Blick in das abgebrannte Heimatmuseum von Mariupol nach einem Beschuss im… | |
| taz am wochenende: Frau Berdiiarova, wie sind Sie nach Köln gekommen, und | |
| wie ist die Situation für Museumsleute in der Ukraine zurzeit? | |
| Yulia Berdiiarova: Im Februar habe ich noch im Mystetskyi Arsenal in Kiew | |
| gearbeitet, einer wunderschöne Institution in der Ukraine, ein riesiges | |
| altes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert. Doch am Anfang des Kriegs war ich in | |
| meiner Heimatstadt Odessa. Am ersten Tag der Invasion rief ich meine | |
| Kollegen im Kunstmuseum Odessa an, ob sie Hilfe bräuchten. [1][Zusammen | |
| bereiteten wir die Evakuierung der Kunstwerke vor.] | |
| Im Mystetskyi Arsenal hatten wir schon vorher den Plan eines Netzwerks aus | |
| fünf Museen. Leider sind die meisten von ihnen jetzt in den besetzten | |
| Gebieten. Aber wir machen online weiter. Ironischerweise waren der | |
| Austausch und Zusammenhalt der ukrainischen Museen nie so stark wie jetzt. | |
| Wir helfen uns bei den Evakuierungen, wir finden sichere Orte, wir senden | |
| uns Geld. | |
| Welche sicheren Orte gibt es noch für Museumsmitarbeiter? | |
| Vor allem Dnipro in der Mitte der Ukraine, da haben wir Fluchtorte und | |
| Arbeitsmöglichkeiten organisiert. Es ging in erster Linie um die Rettung | |
| der Museumsmitarbeiter aus Mariupol, Cherson und Mykolajiw. Die meisten | |
| wollen im Land bleiben. Was uns sehr hilft, ist ein regelmäßiges | |
| Onlinemeeting, im letzten waren wir 81 Teilnehmer. Es ist schrecklich, | |
| intensiv und lustig zugleich. | |
| Die Direktorin des historischen Museums in Lugansk etwa hat ihre Sammlung | |
| bereits zum zweiten Mal verloren. Die ukrainischen Soldaten halfen ihr bei | |
| der Evakuierung. Mittendrin wurde ein russisches Kriegsflugzeug | |
| abgeschossen. Sie fand den Fallschirm auf dem Boden. Da sie die Direktorin | |
| eines historischen Museums ist, behielt sie ihn und sagte: „Das ist das | |
| erste Objekt meiner neuen Sammlung.“ Sie und ihr Team sind jetzt in Lwiw, | |
| einem der Orte, die etwas sicherer sind im Moment. Ihr Museum in Lugansk | |
| existiert auf eine Weise noch, sie erhält zurzeit viele evakuierte Objekte | |
| aus den besetzten Gebieten. | |
| Was hat sich in der Museumsarbeit geändert seit der Krim-Annexion 2014? | |
| Ich kann nur erzählen, wie sich die Gesellschaft verändert hat. Das erste | |
| Jahr verbrachten wir in Schockstarre. Wir dachten, der Tod von Menschen | |
| während der Majdan-Revolution sei das Härteste, was uns passieren könnte. | |
| Aber es war erst der Anfang. In der Museumsarbeit war die größte | |
| Veränderung, dass jegliche Zusammenarbeit mit russischen Museen abbrach. | |
| Kooperation mit russischen Institutionen wäre einer Kooperation mit | |
| deren Regierung gleichgekommen. | |
| Welche Museumspolitik wird nun in den besetzten Gebieten gemacht? Wurden | |
| Sammlungen nach der Annexion nach Russland gebracht? | |
| Leider ist es zurzeit unmöglich, mit Museen aus den besetzten Gebieten | |
| zusammenzuarbeiten, denn die Mitarbeiter dort sind in echter Gefahr. An | |
| unseren Onlinemeetings nehmen sie kaum teil. Auch wenn viele von ihnen bis | |
| zuletzt in ihren Museen geblieben sind, können sie jetzt nichts mehr tun. | |
| Ich weiß von einer Museumsmitarbeiterin, die von der neuen | |
| Fake-Administration gekidnappt wurde. | |
| Werden dort auch neue Direktoren eingesetzt? | |
| Vielleicht. Ich höre nur von Zerstörung. [2][Allein aus Mariupol sind | |
| über 2.000 Kunstwerke gestohlen worden.] Das Kuindschi-Kunstmuseum | |
| beherbergte die größte und wichtigste Sammlung von Archip Kuindschi, der in | |
| Mariupol geboren ist, einer der berühmtesten Maler der ukrainischen und | |
| russischen Kunstgeschichte. Sie haben vier Arbeiten von ihm gestohlen. Es | |
| gab einen Typen, der auf Instagram stolz Kuindschis Werk „Abendrot in | |
| Dnjepr“ gepostet hat, von dem sogar eine Version im Metropolitan Museum of | |
| Art in New York hängt. Er hat nur die Kommentarfunktion ausgeschaltet. „Wir | |
| haben es getan!“ Du stiehlst es und postest das auf Instagram? Es scheint | |
| das Einzige, was die russische Fake-Administration tun kann. Sie tun | |
| nichts, um die Stätten wieder aufzubauen. Sie zerstören und stehlen unsere | |
| Kultur, wollen sie in Besitz nehmen, lassen die Ruinen zurück. | |
| Was ist mit den Museumsmitarbeiter:innen geschehen? | |
| Für Russland sind die gefährlichsten Menschen in der Ukraine momentan die | |
| Kulturleute. Ich kenne so viele traurige Geschichten. Leute, die direkt aus | |
| Schulen gekidnappt wurden. Schulen, die in Gefängnisse verwandelt wurden. | |
| Bücher aus den Bibliotheken, über ukrainische Identität und Geschichte, die | |
| verbrannt wurden. Sie versuchen, die Geschichtsschreibung zu verändern. In | |
| neuen russischen Geschichtsbüchern kann man die Information über die Kiewer | |
| Rus nicht mehr finden. Sie nennen es nur noch Rus. Dabei hat alles auf der | |
| Kiewer Rus begonnen. Kiew war die älteste Stadt Osteuropas, der Beginn der | |
| slawischen Zivilisation. Ukrainer in den besetzten Gebieten leben in einer | |
| Art „1984“-Dystopie, in diesem surrealen Horror-Orwell-Universum, dort, wo | |
| Russen ihre Flaggen pflanzen und meinen, sie würden für immer dort bleiben. | |
| Wir wissen nicht, wie es in den besetzten Gebieten aussieht. Kaum zu | |
| glauben, dass manche so mutig waren, zu demonstrieren oder in den | |
| Partisanenkampf zu gehen. | |
| Wie sind Sie ans Museum Ludwig in Köln gekommen? Was können Sie hier tun? | |
| Nach vier Monaten in Odessa bin ich nach Polen geflohen, bin durch Europa | |
| gereist, habe viele Kolleg*innen besucht, war in Berlin. Ukrainische | |
| Kollegen schickten mir das Angebot der Ernst-Siemens-Stiftung, ein Programm | |
| für ukrainische Kulturarbeiter. Ein Netzwerkkollege erzählte mir vom | |
| Ausstellungsprojekt des Ludwig über die ukrainische Moderne, brachte mich | |
| mit der Kuratorin Rita Kersting zusammen. | |
| Jetzt bin ich seit zwei Monaten hier und arbeite ein Jahr lang an der | |
| Vorbereitung der Ausstellung. Gleichzeitig arbeite ich an einem Verzeichnis | |
| aller ukrainischen Künstler:innen in europäischen Sammlungen. Diese | |
| große Liste wird in Zukunft sehr hilfreich sein. Ich hoffe, eines Tages | |
| werden wir einige der Werke in der Ukraine zeigen können, um zu sehen, wie | |
| divers ukrainische Kunstgeschichte ist, wie viele Museen der Welt unsere | |
| Geschichte repräsentieren. | |
| Und was jetzt wirklich wichtig ist: ukrainische Moderne von russischer | |
| Avantgarde zu trennen. Alles wurde in einen Topf geworfen. Jetzt holen wir | |
| manche Künstler:in aus diesem Topf und trennen sie voneinander. Wir | |
| etablieren die ukrainischen Schreibweisen der Namen, ihre Geburtsorte. | |
| „Kyev“ zum Beispiel ist die richtige Schreibweise der ukrainischen | |
| Hauptstadt. Als „Kiew“ präsentiert man die Stadt, als sei sie russisch. | |
| Ein politischer Akt durch Sprache: Sie erzählen europäischen Museen, wie | |
| sie korrekt Ukrainisch schreiben sollen? | |
| Ich diskutiere viel mit internationalen Museen. Mit meinen Kollegen haben | |
| wir einen offiziellen Brief an das Metropolitan geschrieben, um sie zu | |
| bitten, in ihrer Datenbank die Nationalität des Ukrainers Archip Kuindschi | |
| zu ändern. In ihren Archiven ist er ein russischer Künstler. Das ist gerade | |
| jetzt extrem wichtig. Sein Erbe ist bedroht, da seine Geburtsstadt Mariupol | |
| komplett zerstört ist. Wir können vielleicht nicht alle ukrainischen | |
| Kunstwerke retten, aber wir können die Informationen über sie schützen. | |
| Bringt es etwas, von weit weg um den Erhalt des ukrainischen Kulturerbes zu | |
| kämpfen? | |
| Ja, unbedingt. Es fühlt sich an, als sei ein neues Zeitalter ukrainischer | |
| Repräsentation angebrochen. Es ist nur so unglaublich traurig, dass es | |
| dafür Krieg geben musste. Erst wenn alles, was du liebst, in Gefahr ist, | |
| verstehst du, wie viel du zu verlieren hast. | |
| 28 Jul 2022 | |
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| Dorothea Marcus | |
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