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# taz.de -- Digitale Kulturgüter in der Ukraine: Das große Backup
> Nicht nur analoge, auch digitale Kulturgüter in der Ukraine sind durch
> den Krieg bedroht. Hunderte Archivar*innen versuchen nun, sie zu
> retten.
Bild: Mit Plastikfolien sollen Statuen, wie hier in Lviv, vor der Zerstörung g…
Bevor Wladimir Putin den Angriff befahl, sprach er in Fernsehreden der
Ukraine ihre geschichtliche Existenzberechtigung und eigenständige
kulturelle Identität ab. [1][Aber das kulturelle Erbe der Ukraine] steckt
auch in der Architektur, in der Literatur, in der Kunst, in all den
Erzeugnissen aus Papier, Stein und Mörtel, die durch die Bomben bedroht
sind. Dutzende Fälle von beschädigten oder zerstörten Kirchen, Synagogen,
Museen und Bibliotheken dokumentierte die Organisation Blue Shield, die
sich um Schutz von Kulturgut im Kriegsfall kümmert.
„Es ist klar“, sagt Gudrun Wirtz, „dass es Russland darum geht, die Kultu…
die kulturelle Identität der Ukraine zu zerstören.“ Wirtz sitzt in München
in ihrem Büro der Bayerischen Staatsbibliothek, in dem imposanten Bau aus
Stein und Mörtel; und doch ist die Bewahrung ukrainischer Kultur auch Teil
ihrer Arbeit. Sie leitet die Osteuropaabteilung, die eine der größten
Sammlungen osteuropäischer Literatur verwaltet. Ein Regal im Ostlesesaal
ist allein mit den Neuerscheinungen aus der Ukraine gefüllt. Die Rettung
der Originale vor Ort sei die Priorität ihrer ukrainischen Kolleg:innen,
sagt Wirtz. Keine Zeit bliebe da für die Rettung der digitalen Schätze.
Doch auch diese sind bedroht. Die bibliothekarische Akribie kommt durch,
wenn Wirtz erklärt, was es da zu retten gibt: die Digitalisate und das
originär Digitale. Das eine sind die Scans von Büchern, Akten und
Kunstwerken, bei denen die Originale schon zerstört oder verschollen sein
könnten; das andere die im Digitalen geborenen Güter: Museumswebsites,
3D-Kunstprojekte, elektronische Kataloge, ohne die eine große Bibliothek
unbenutzbar wird. Diese digitalen Güter hängen von der physischen Oberwelt
ab: Also beispielsweise vom Strom, von den Servern, aber auch von dem Geld
für die Miete von Speicherplatz, wenn der Server irgendwo im Ausland steht.
Sie sind bedroht durch Bomben, Cyberattacken, durch Ausfälle von
Mietzahlungen [2][und durch die russische Besatzung].
## Die Kulturgüter ins Trockene bringen
Kurz nach Kriegsbeginn versuchte Wirtz, die 1.500 ukrainischen Websites zu
retten, die ihre Abteilung bereits zuvor als wichtig befunden und
katalogisiert hatte. Sie überlegte, es einfach über die Staatsbibliothek zu
machen. Websites aus anderen Ländern zu archivieren, also Backups zu
erstellen, so einfach sei das gar nicht, erklärt Wirtz,
datenschutzrechtlich gesehen. Als der Krieg ausbrach, habe sie zwar
überlegt, es trotzdem zu machen – wer würde sich schon beschweren. Doch sie
entschied sich für „Sucho“. Sucho – Saving Ukrainian Cultural Heritage
Online. Zufällig ist dieser Name nahe am Wort für „trocken“ in den meisten
slawischen Sprachen, bemerkt Wirtz. Das passt, schließlich geht es darum,
bedrohte digitale Kulturgüter ins Trockene zu bringen.
Bei dem Projekt Sucho sammeln und archivieren Freiwillige aus aller Welt
die Websites von ukrainischen Museen, Archiven und anderen
Kultureinrichtungen. Die Freiwilligen sind einerseits
Geschichtswissenschaftler*innen, Archivare oder Bibliothekar*innen wie
Gudrun Wirtz; andere kennen sich gut mit Website-Archivierung aus, sie sind
Programmierer*innen-Nerds.
Sebastian Majstorović ist als Digitalhistoriker in der Überschneidung
dieser beiden Gruppen. Er kommt aus Deutschland, arbeitet an der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und gehört zu dem
Gründungsteam des Projekts.
## Ein Hauch Hackeridealismus
Majstorovićs Motivation für dieses Projekt ist zum Teil geschichtlich
geprägt: Sein Vater kommt aus Bosnien; von ihm weiß er, wie in Sarajevo die
Nationalbibliothek im Kriegsjahr 1992 durch Beschuss in Flammen aufging.
Damals gab es keine digitalen Kopien, ein Großteil der Bücher ging damals
für immer verloren. Kultur könne Ziel eines Angriffskrieges sein,
Kulturzerstörung könne zum Missbrauch der Geschichte führen, sagt
Majstorović im Gespräch übers Telefon. „Ich bin mir sehr bewusst, wie
fragil Kulturgut sein kann.“
Aber es gibt noch die andere Seite seiner Motivation, die originär aus dem
Digitalen kommt. Majstorović ist ehemaliger Softwareentwickler. Sucho ist
im Geiste des frühen Internets geboren: zusammenkommen, digitale Lösungen
für alle nach dem Open-Source-Prinzip schaffen – einfach mal machen. Schon
die Gründungsgeschichte trägt einen Hauch Hackeridealismus: Wenige Tage
nach Kriegsbeginn entdeckte Majstorović auf Twitter eine Nachricht der
Musikbibliothekarin Anna Kijas, die um Hilfe bei der Rettung ukrainischer
Volksmusik bat. Es folgte eine schlaflose Nacht der wilden
Website-Archivierung; ein Videocall mit Mitstreiter*innen am nächsten
Tag und wenige Stunden später lief das Projekt Sucho, koordiniert von
Kijas, Majstorović und Quinn Dombrowski, einer Spezialistin für akademische
Technologie.
Das Urprojekt der Internetarchivierung ist das Internet Archive, daran
orientiert sich Sucho und nutzt teils dieselben Werkzeuge. Die erfassten
Websites kann jeder einsehen über die sogenannte Wayback Machine, eine Art
Zeitmaschine für Websites, eingefroren im Moment der Archivierung. Das
Internet Archive arbeite nach der Rasenmähermethode alles ab, erklärt
Majstorović, auch für die Ukraine.
## Priorisiert wird auch nach Kriegsgeschehen
Aber das Internet ist sehr groß, auch der ukrainische Teil ist ein weites
Feld für den vergleichsweise kleinen Rasenmäher. Zudem lassen sich manche
komplexe Websites gar nicht so einfach vollautomatisch archivieren, sie
sind sozusagen Gestrüpp auf dem Feld. Bei Sucho müssen sie gezielter
vorgehen, Majstorović nennt das in Analogie zu der Priorisierung bei
medizinischen Notlagen „Triage“: Die Freiwilligen suchen die kulturell
wichtigsten Seiten und Archive raus, dann versucht man es zuerst mit der
automatischen Archivierungssoftware, klappt das nicht, muss nachjustiert
oder programmiert werden, wenn alles fehlschlägt: die Seite händisch
retten.
Priorisiert wird auch nach dem Kriegsgeschehen. Anfang März habe man
hundert Gigabyte Archivmaterial aus dem Staatsarchiv der heftig
[3][beschossenen ostukrainischen Stadt Charkiw] gerettet, Stunden später
seien die Seiten dort offline gewesen, erzählt Majstorović.
Mal ist Programmieren gefragt, mal braucht es gute Kenntnisse der
ukrainischen Sprache oder man muss zumindest mit Kyrillisch klarkommen.
„Das Tollste an Sucho“, sagt Majstorović, „ist das Empowerment.“ Der b…
Graswurzelaktivismus sei eben auch möglich, weil man sich gegenseitig helfe
und weil es nicht notwendig sei, programmieren zu können. Und weil man –
anders als in der Hackersphäre des frühen Internets – nicht nur puristisch
die selbstgeschriebenen komplizierten Programme verwende, sondern auf die
zugänglichen Massenplattformen zugreife, wie Slack für die Kommunikation
oder Google-Spreadsheets für die Organisation.
Die 1.500 katalogisierten Websites schickte Wirtz also an Sucho, da war man
durch das etablierte Internet Archive rechtlich auf der sicheren Seite.
Drei Tage nach dem Start des Projekts habe sie sich ebenfalls daran
beteiligt, erzählt sie. Zunächst privat, sie überprüfte und übersetzte
archivierte Websites, später spannte sie einen Teil ihres Teams zur
Unterstützung ein. Zwei Stellen hat Wirtz für geflüchtete Bibliothekarinnen
geschaffen, sie sollen bald mit der Arbeit beginnen und teils auch Sucho
unterstützen.
Eine Staatsbibliothek muss die rechtlichen und institutionellen Bremsen
respektieren: Arbeitserlaubnis für Geflüchtete, rechtliche Absicherung für
Archivierung, Förderanträge für Zusatzaufgaben. Sucho läuft in einem
anderen Takt. Das sei das Schöne an dem Projekt, sagt Wirtz: Man habe
einfach losgelegt. Das hätte bei öffentlichen Institutionen so schnell nie
funktioniert.
Nun stellen sich Fragen nach der langfristigen Sicherung der Daten, nach
der rechtlichen Lage und auch: Was geschieht mit den Terabytes an
archiviertem Material von inzwischen über 3.500 Websites? Idealerweise
würden die archivierten Websites gar nicht gebraucht, weil die
Institutionen und Server nicht zerstört werden, sagt Wirtz – aber auch sie
hat festgestellt, dass jetzt schon viele Websites nicht mehr erreichbar
sind. In manchen Fällen können die Backups dem Wiederaufbau dienen.
Majstorović ist mit der Unesco, Blue Shield und anderen Organisationen in
Kontakt. Die Frage, was mit dem Archiv geschieht und wo man noch helfen
kann, reicht er auch weiter an diejenigen, deren Kultur gerettet wird. Vor
zwei Wochen konnte das Sucho-Team erstmals ausführlicher mit ukrainischen
Schützer:innen von Kulturgut sprechen. Das Anliegen der Ukrainer:innen:
Helft uns, die Originale schnell zu digitalisieren. Und gebt uns eine
Plattform, um die digitale Kultur auszustellen. Das will Sucho nun machen.
2 May 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Hans Böhringer
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