# taz.de -- Ukrainische Stadt nach russischem Abzug: Der Schrecken bleibt | |
> Einen Monat lang war Trostjanez im Osten der Ukraine von russischen | |
> Kämpfern besetzt. Sie hinterlassen Tote, eine zerstörte Stadt und viele | |
> Fragen. | |
Bild: Ukrainische Soldaten am Bahnhof von Trostjanez am 25. März | |
TROSTJANEZ taz | Die Zeugnisse schwerer Kämpfe und grausamer | |
Kriegsverbrechen der russischen Truppen sind in Trostjanez allgegenwärtig: | |
Der Platz vor dem Bahnhof liegt in Trümmern. Kein einziges Gebäude ist | |
stehen geblieben. Betriebe wurden nieder gebrannt genauso wie | |
Verwaltungsgebäude und mehrstöckige Wohnhäuser. Die in der ganzen Ukraine | |
bekannte Schokoladenfabrik ist schwer beschädigt. Auch die Räume des Ende | |
2021 neu sanierten städtischen Krankenhauses sind zerstört. | |
Trostjanez liegt 350 Kilometer östlich von Kiew entfernt. Bis Charkiw sind | |
es 130 Kilometer, bis zur russischen Grenze nur 30 Kilometer. Am 24. | |
Februar hatten russische Truppen die Stadt besetzt. [1][Doch nach der | |
vorerst verhinderten russischen Offensive auf Kiew], mobilisierte Moskau | |
auch seine Einheiten aus Trostjanez [2][für die Fronten im Süden und Osten | |
der Ukraine.] Allein der Gedanke, sie könnten wieder zurückkommen, versetzt | |
die Menschen hier in Panik. | |
Vera ist 64 Jahre alt und hat die Belagerung überstanden. Sie erzählt: „Die | |
Russen gingen von einer Wohnung zur nächsten. Einem neunjährigen Jungen aus | |
dem Nachbarhaus hielten sie eine Waffe an den Kopf.“ Sie hätten das Kind | |
gefragt, wer Schewtschenko sei. Der Junge habe geantwortet: „[3][Andrei | |
Schewtschenko] war Stürmer bei Dinamo Kiew, einen anderen Schewtschenko | |
kenne ich nicht.“ „Klasse, Junge“, habe einer der Russen gesagt, erzählt | |
Vera. Dann versagt ihr die Stimme: „Unter vorgehaltener Waffe … nur damit | |
dieses Kind ja nicht unseren Dichter Taras Schewtschenko erwähnt. | |
Vera will ihren Nachnamen nicht nennen. Gemeinsam mit ihrem Mann wohnt sie | |
in der Neskutschanski-Straße, unweit des Krankenhauses der Stadt. Während | |
der russischen Besetzung wurde die Klinik mindestens von zwei Granaten | |
getroffen. | |
## Das Krankenhaus wurde beschossen | |
Nach Trostjanez seien verschiedene Gruppen russischer Soldaten gekommen, | |
erinnert sich die Frau. „Die ersten waren noch ganz jung und kahl | |
geschoren, wahrscheinlich Wehrpflichtige. Mit ihnen konnte man reden, sie | |
waren nicht aggressiv. Sie wirkten irgendwie orientierungslos und verwirrt. | |
Aber dann die zweiten und dritten, die waren schrecklich“, sagt Vera. | |
Ihr Mann Nikolai schaltet sich ein. Die zweite Gruppe, das seien alt | |
gediente Soldaten gewesen, die dritte Gruppe, Einwohner der sogenannten | |
Donezker Volksrepublik im Osten der Ukraine und russische Söldner. „Die | |
bösartigsten waren die aus Donezk.“ Nikolai sagt, er habe mit einem der | |
Besatzer ein Gespräch geführt. „Ich habe ihn gefragt, wie er hierher | |
gekommen sei.“ Der Mann habe erzählt: „Sie nahmen einen nach dem anderen | |
mit, auch Frauen, einfach alle, die im wehrfähigen Alter waren. Sie | |
brachten uns zum Einberufungsbüro, verteilten Waffen. Dann ging es weiter | |
zum Schießstand und von da aus direkt in den Kampf. Studenten, auch fünf | |
junge Frauen waren dabei.“ | |
Vera erinnert sich auch daran, wie russische Soldaten in ein benachbartes | |
mehrstöckiges Haus gingen und Einheimische einfach zwangen, ihre Wohnungen | |
zu verlassen – bei 15 Grad unter null. Unweit des Hauses errichteten die | |
Besatzer einen Checkpoint, wo zwei Panzer standen und bewaffnete Soldaten | |
Position bezogen. | |
Juri Bowa, Bürgermeister von Trostjanez, sagt, dass an einem weiteren | |
Checkpoint beim Krankenhaus außer den Ärzt*innen niemand durchgelassen | |
wurde. Von dem Ort, an dem der russische Checkpoint gestanden hat, weist | |
Bürgermeister Bowa auf zwei riesige Löcher in der Wand des Krankenhauses. | |
Zum Zeitpunkt des Beschusses hätten sich 30 Mitarbeiter*innen und | |
zwölf Patient*innen in dem Gebäude befunden. „Während der Besatzung | |
wurden hier sieben Kinder geboren, auf den Fluren, weil dauernd geschossen | |
wurde“, sagt er. | |
Nach Angaben des Bürgermeisters hätten russische Truppen das Krankenhaus am | |
17. März ohne ersichtlichen Grund unter Beschuss genommen. Danach sei ein | |
Offizier der russischen Armee gekommen und sei durch die Klinik gegangen, | |
um sich zu vergewissern, dass es dort keine ukrainischen Soldaten gebe. | |
Sechs Tage später hätten zwei Panzer die Klinik erneut angegriffen. „Am | |
Abend des 23. März haben unsere Truppen einen russischen Panzer vom Typ | |
T-80 mit einem Panzerabwehr-Granatwerfer gesprengt. Ich weiß nicht, was mit | |
der Besatzung geschehen ist, aber zwei Tage danach haben wir ein Notizheft | |
mit allen ihren Namen gefunden“, erzählt Bowa. | |
Er kann den Sinn des Angriffes nicht verstehen. Das Krankenhaus war eines | |
der modernsten seiner Art in der Ukraine. Gleich nebenan stehen die Reste | |
eines fünfstöckigen Gebäudes mit Wohnungen für die Mitarbeiter*innen | |
der Klinik. Nach einem Angriff gingen Teile davon in Flammen auf. | |
## Die ganze Stadt ist vermint | |
Während der Besatzung, sagt der Bürgermeister, seien 50 Menschen gestorben | |
und 30 spurlos verschwunden. Sechs Leichen hätten Spuren von Folter | |
aufgewiesen – ihnen seien die Augen ausgestochen oder die Hände auf dem | |
Rücken gefesselt worden. [4][Die genaue Todesursachen würden ermittelt.] 30 | |
bis 40 Menschen seien verletzt worden, 5 nach dem Abzug der russischen | |
Truppen durch Minen umgekommen. | |
Bowa zeigt die Umgebung in der Nähe des Krankenhauses. Alle Büsche und | |
Zugänge zu dem Checkpoint sind vermint. Auf dem Gelände eines | |
Forstwirtschaftsbetriebes hätten sie eine Grube gefunden, dort seien | |
Schaufeln zurückgelassen worden. Minenseile tauchten jeden Tag auf. Erst | |
vor Kurzem sei ein junger Mann von einer Antipersonenmine zerfetzt worden. | |
„Sie haben auch den Friedhof vermint. 14 Tage lang durfte dort niemand | |
beerdigt werden. Die Toten lagen herum. Die Leiche eines Mannes, den eine | |
Mine getötet hatte, lag mehr als eine Woche in einer Garage“, sagt der | |
Bürgermeister. Die russischen Soldaten hätten alles gestohlen. Was sie | |
nicht hätten mitnehmen können, sei beschossen worden. Als ein humanitärer | |
Korridor geöffnet worden sei, hätten sie alle Krankenwagen weggebracht – | |
bis auf einen und den hätten sie unter Feuer genommen. | |
„Eine Frau wurde von einem Scharfschützen erschossen. Sie war einfach nur | |
durch die Stadt gelaufen. Mehrere Tage lang lag der tote Körper auf der | |
Straße, sobald sich jemand näherte, wurde der Ort beschossen. So haben sie | |
versucht, die einheimische Bevölkerung zu verspotten und zu demoralisieren. | |
Ein russischer Soldat warf einfach eine Granate, zwei Personen wurden | |
getötet“, sagt Bowa. Auch Hilfsgüter und Lebensmittel hätten die Besatzer | |
nicht in die Stadt gelassen, obwohl dort rund 12.000 Menschen lebten. Doch | |
eins der schlimmsten Verbrechen seien die Angriffe auf das Krankenhaus | |
gewesen. | |
Auf die Frage, ob die russischen Truppen kapiert hätten, dass sie nicht für | |
eine Militärübung ins Land gekommen seien, sondern um Krieg zu führen, | |
zeigt Bowa das Tagebuch eines Soldaten. „3. März, wir haben uns in der | |
Stadt verschanzt. Alle haben verstanden, dass wir das tun müssen“, steht da | |
geschrieben. | |
## Der Zynismus der Angreifer | |
Während der Angriffe auf das Krankenhaus hielt sich dort auch die | |
Chefärztin Anna Schwezowa auf. „Ab dem 24. Februar kamen Frauen auf die | |
Geburtsstation, die außerhalb der Stadt leben. Sie hatten Angst, dass sie | |
es sonst nicht mehr rechtzeitig in die Klinik schaffen würden. Es waren | |
sechs oder sieben. Eine Geburt fand statt, als wir beschossen wurden. Wir | |
verließen den Luftschutzkeller, die Fruchtblase platzte, die Wehen setzten | |
ein und 20 bis 25 Minuten später ging es schon los. Alles ohne Wasser, ohne | |
Licht und im Kalten, draußen herrschte Frost, minus 17 Grad. Wir schalteten | |
den Generator ein, um uns etwas aufzuwärmen. Wir haben die Frau nicht im | |
Kreißsaal, sondern im Untersuchungszimmer entbunden. Zum Glück hatten wir | |
zwei Anästhesisten im Team, so konnten wir schnell und sicher zwei Mädchen | |
auf die Welt holen“, sagt Schwezowa. | |
Derzeit bemühen sich die örtlichen Behörden, Fakten über russische | |
Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung zu sammeln. Angaben des Direktors | |
des staatlichen Ermittlungsbüros der Territorialverwaltung, Denis | |
Mankowski, zufolge seien bislang erst 40 Prozent des Stadtgebietes | |
untersucht, jedoch bereits viele Verbrechen dokumentiert worden. „Wir haben | |
es mit Folter, Mord und Fällen von Hinrichtungen zu tun. Bis heute haben | |
wir in Trostjanez 40 Gräber gefunden. Diese Verbrechen haben eindeutig | |
Angehörige der russischen Streitkräfte begangen“, sagt Mankowski. Ihm | |
zufolge hätten die Ermittler Listen mit Namen russischer Soldaten gefunden, | |
die an den Kriegshandlungen in Trostjanez, in der Umgebung, aber auch in | |
der Stadt Ochtyrka beteiligt gewesen seien. | |
Besonders viele Beweise gebe es von Folter an der Zivilbevölkerung. Die sei | |
immer gleich abgelaufen: Einheimische – in der Regel Männer, die auf dem | |
Weg zu einem Lebensmittelgeschäft waren – seien von der Straße weg | |
festgenommen worden. Dann seien Papiere und Mobiltelefone überprüft worden. | |
Wenn etwas Verdächtiges gefunden worden sei, etwa Fotos von militärischer | |
Ausrüstung, seien die Menschen festgenommen und in einen Keller gebracht | |
worden. Einer dieser Keller habe sich auf dem Gelände des Bahnhofes | |
befunden. Fünf Personen seien dort unter unmenschlichen Bedingungen | |
festgehalten worden – angekettet oder die Hände hinter dem Rücken | |
gefesselt, und das bis zu fünf Tage lang. Keiner dieser Leute habe etwas | |
mit der ukrainischen Armee zu tun gehabt. „Dreimal pro Tag bekamen sie | |
einen Schluck Wasser und ein Stück Gebäck. Die Toilette war ein Karton in | |
einer Ecke des Kellers. Sie durften sich nicht bewegen. Sie wurden | |
gefoltert und auf den Kopf und Oberkörper geschlagen, mit was auch immer: | |
Gewehrkolben, Gummiknüppeln oder den bloßen Händen. Glücklicherweise haben | |
alle überlebt“, sagt Mankowski. | |
## Als sei ein Angriff nur ein Spiel | |
Nina Babina ist 63 Jahre alt und wohnt in einem dreistöckigen Haus | |
gegenüber des Krankenhauses. In der Nähe ihrer Garage explodierte eine | |
Mine. Den Angriff auf die Klinik habe sie nicht mit eigenen Augen gesehen, | |
weil sich die Familie zu diesem Zeitpunkt im Keller aufgehalten habe, sagt | |
sie. Dann zeigt sie ihr Haus und ihre Garage. Dort sind ein Auto und zwei | |
Motorräder verbrannt. „Die Russen haben zu mir gesagt: Nimm das nicht so | |
schwer, Mutter, wir sind gekommen, um dich zu beschützen.“ Auf ihre Frage | |
vor wem, hätten sie geantwortet: „Eure werden kommen, euch vergewaltigen | |
und töten. Und ich habe gesagt: Dass mal nicht ihr uns tötet, unsere werden | |
das nicht tun.“ | |
Im Stadtzentrum sitzt Vera Jachno auf einer Parkbank. Sie ist 69 Jahre alt, | |
34 davon hat sie direkt neben dem Krankenhaus gewohnt. Nach Hause gehen | |
kann sie nicht, denn es wurde beschossen. „Für die Angreifer war das ein | |
Spiel. 24 Wohnungen und so viele Treffer. Es wäre besser gewesen, sie | |
hätten sich selbst das Gehirn aus dem Kopf gepustet“, sagt sie. Jachno lebt | |
jetzt bei ihrem Schwiegersohn, dessen Haus weniger beschädigt wurde. Ihre | |
Kinder sind ins Ausland geflüchtet. | |
Mit Grauen erinnert sie sich an den Tag, als sie Trostjanez über einen | |
humanitären Korridor verließ. Am Checkpoint wurde das Auto, in dem sie saß, | |
von einem russischen Soldaten gestoppt. Wo es denn hin ginge, habe er | |
gefragt. „Wir antworteten: Nach Poltawtschino. Darauf er: Da kommen wir | |
auch noch hin.“ Die 69-Jährige ruft: „Nein, genug dieser Arroganz und | |
dieses Zynismus! Wie ich vergeben soll, ich weiß es nicht. Zwei Monate | |
dauert dieser Horror nun schon und es gab keinen Tag, an dem ich nicht | |
geweint habe.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Warum das alles? Kann | |
ein Mensch auf so eine Art und Weise wirklich 140 Millionen Menschen | |
regieren?“ | |
Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter-Stiftung. | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel. | |
1 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Juri Larin | |
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