# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: „Durch das Loch im Vorhang“ | |
> Fünf Tage lang versteckte sich Maria Tarasenko mit ihrer Familie vor den | |
> russischen Soldaten in Butscha. Der Bericht einer Überlebenden. | |
Bild: Butscha: Zwei Schwestern, die voneinander nicht wussten, ob sie überlebt… | |
Maria Tarasenko ist 23 Jahre alt. Sie wohnte mit ihrer Familie [1][in | |
Butscha], einem Vorort von Kiew, studierte Kulturwissenschaften an der | |
Kiew-Mohyla-Akademie sowie Journalistik an der Universität von Mariupol. | |
Daneben jobbte sie als Model – sie nennt Modeling ihr Hobby. Dann begann | |
der Krieg. Sie war in Butscha, als die Russen kamen. Mit Glück überlebte | |
sie die Massaker an der Zivilbevölkerung. Doch sie wurde Augenzeugin der | |
Gewalt. | |
Ja, ich habe weite Zukunftspläne gehabt. Nein, ich erwartete keinen | |
[2][Krieg]. Dann war alles anders. | |
Ich zähle nicht mehr, wie viele Male ich schon versuchte, meine Geschichte | |
zu erzählen. Meine Familie (Mutter, Vater und Hund) und ich waren in | |
Butscha Gefangene der russischen Faschisten. Gefangene in unserem Versteck. | |
Es dauerte fünf Tage. Fünf Tage Hölle. | |
Es begann damit, dass mein Vater, ein Nachbar und ich auf der Straße | |
beobachteten, wie die russischen Panzer in unserem Gebiet auffuhren. Als | |
sie uns sahen, fingen sie an, auf uns zu schießen. | |
Danach ist alles wie im Traum. | |
Wir haben uns in unserer Wohnung versteckt; ein Großteil der Einwohner von | |
Butscha dagegen versteckte sich in Kellern – das war ein großer Fehler. | |
Die russischen Faschisten verteilten sich wie Kakerlaken über unser | |
Viertel. Sie bezogen Stellungen. Einer von ihnen rannte ins Erdgeschoss | |
unseres zweistöckigen Mehrfamilienhauses, schlug alle Fenster mit seiner | |
Kalaschnikow ein und rief mit viehischer Stimme: „Kommt raus, | |
Bandera-Schlampen, wir werden euch alle finden und töten!“ Der zweite, ein | |
Scharfschütze, kletterte auf den Dachboden, wir hörten jeden seiner | |
Schritte. | |
Wir saßen in der Wohnung im zweiten Stock. Wie erstarrt. | |
Ich werde jetzt nicht ins Detail gehen, wie wir, erschöpft von der | |
schrecklichen Kälte, die Heizung ging schon seit dem vierten Kriegstag | |
nicht mehr, nicht geschlafen haben, überhaupt nicht gegessen haben, Wasser | |
aus einem Glas einmal am Tag getrunken haben, auf Zehenspitzen gelaufen | |
oder gar nicht gelaufen sind. Manchmal hielten wir den Atem an. | |
Wie wir eine dicke Schicht Toilettenpapier in die Toilette legten, damit | |
die Okkupanten das Rieseln des Urins nicht hörten. Wie ich das Maul unserer | |
Hündin zuhielt, weil ein einziges „Wau“ uns den Kopf hätte kosten können. | |
Und manchmal musste ich sie (Gott, wie furchtbar) schlagen, damit sie nicht | |
über den Boden lief. | |
In der Zwischenzeit gelang es mir, den „Kobsar“, eine Gedichtsammlung | |
unseres Nationaldichters Taras Schewtschenko, zu lesen, zu weinen und durch | |
ein Loch im Vorhang vorsichtig zu beobachten, wie die Leute, die sich in | |
den Kellern versteckten, von den Raschisten mit vorgehaltener Waffe | |
herausgeführt wurden. Die Männer wurden weggebracht. Wohin? Unbekannt. | |
Menschen wurden geschlagen, getötet, Frauen vergewaltigt. Ich hörte Schreie | |
und Geheul. | |
Hunde wurden erschossen. | |
Die Wohnungen wurden beschossen oder mit Brecheisen aufgebrochen, Menschen | |
wurden mit vorgehaltenem Maschinengewehr aus ihren Wohnungen herausgezerrt | |
oder vor Ort erschossen. | |
In den Wohnungen machten die Eindringlinge Feuer, tranken, aßen, schissen | |
und schliefen dort. Und sie raubten (natürlich), US-Dollars, ukrainische | |
Hriwna (wozu?), Schmuck, Lebensmittel. Fast allen wurden ihre Telefone | |
gestohlen, kaputt gemacht, wenn die Russen sie nicht brauchen konnten, | |
mitgenommen, wenn sie ihnen gefielen. | |
Im Nachbarhaus wurde Tränengas in die Keller geschossen, damit die Menschen | |
herauskämen. Männer mussten sich in der Kälte nackt ausziehen und über den | |
Asphalt kriechen, und die Raschisten schossen lachend auf sie wie auf | |
Zielscheiben. Ein Junge wurde direkt in die Stirn getroffen. Frauen wurden | |
gezwungen, niederzuknien und sich für ihre Ehemänner zu „entschuldigen“. | |
Eine Frau wurde angeschossen, sie verblutete. Eine ganze Familie wurde dort | |
getötet. Viele wurden weggebracht. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. | |
In der Nähe unseres Hauses war eine Kreuzung, und die Orks fuhren hin und | |
her. Ich sah, wie und wohin sie fuhren und wie viele sie waren. | |
An dem schicksalhaften Tag, als sie in unseren Bezirk kamen, hatte ich mein | |
Telefon zum Aufladen in einem Auto auf der Straße angeschlossen. Im Haus | |
gab es doch keinen Strom mehr. Wasser nahmen wir aus dem Heizkörper. Es war | |
dunkelbraun. Einen Monat lang haben wir uns nicht gewaschen. Es ist | |
unmöglich, wenn es im Hause nur fünf Grad sind. Irgendwann hielt ich schon | |
eine Schere in der Hand, um mir die Haare abzuschneiden. Von Licht konnten | |
wir nur träumen, wir zählten Streichhölzer in Schachteln, um Kerzen | |
anzuzünden. | |
Dann also hatte es angefangen, man schoss aus Panzern auf uns, als wir auf | |
der Straße waren, wo wir die Handys von meiner Mutter und mir angeschlossen | |
hatten. Wir flohen in unsere Wohnung. Ein Nachbar erzählte später, dass er | |
gesehen habe, wie das Auto kaputt geschlagen wurde. Die Telefone hätten sie | |
mitgenommen. | |
Uns blieb nur noch das Handy meines Vaters. Mit dem war ich in Kontakt, mit | |
meiner Schwester und mit den ukrainischen Streitkräften. Denn von uns aus | |
konnte man Irpin, Hostomel und das Zentrum von Butscha gut überschauen. Ich | |
habe ständig den Streitkräften im Chatbot von Telegram Informationen | |
weitergegeben. Ich gab ihnen detaillierte Infos über feindliche Ziele. Mit | |
den Resten der Ladung in der Powerbank gelang es mir, das Telefon meines | |
Vaters fünfmal hintereinander mit drei Prozent aufzuladen. Unter der | |
Bettdecke meldete ich die Positionen der Russen. Mit drei Prozent Ladung | |
gab ich immer wieder Hinweise. | |
Ich hörte, wie eine Wohnungstür unseres Hauses nach der anderen | |
eingeschlagen wurde. Ich hörte, wie jetzt wir an der Reihe waren, hörte, | |
wie an unserer Türklinke gezogen wurde. Die Eltern in Tränen, aber die Tür | |
gab nicht nach. Ich schaute stoisch weiter durch das Loch im Vorhang und | |
merkte mir alles, was ich sah und von den Raschisten hörte. Verdammt, bis | |
zuletzt. Ich wusste, dass wir nicht gerettet werden würden, also handelte | |
ich so. | |
Warum die Raschisten die Tür nicht eingeschlagen haben? Wahrscheinlich weil | |
sie gepanzert war und es einfacher ist, gleich das ganze Haus in die Luft | |
zu sprengen als nur die Tür. Und da war auch die alte Frau von nebenan, die | |
die Orks beherzt anlog. Sie war von ihnen anfangs in den Keller gebracht | |
worden, ist aber in ihre Wohnung zurück. | |
Da man mehrmals verdächtige Geräusche aus unserer Wohnung hören konnte, | |
gingen die Orks immer wieder zu ihr und fragten sie, ob jemand hier sei. | |
Und sie wiederholte stets: „Hier ist niemand; ich bin allein.“ Obwohl sie | |
sehr wohl wusste, dass wir alle getötet würden, wenn der Hund, dem ich das | |
Maul zuhielt, bellt. | |
Man kann sagen, dass die Frau uns gerettet hat. Sonst hätten die Orks uns | |
umgebracht. Sie suchten gezielt nach unserer Familie, von den | |
Kollaborateuren hatte uns jemand verraten, hatte erzählt, dass wir mit | |
Mariupol in Kontakt seien. Mariupol ist ein rotes Tuch für sie. | |
Aber wir haben überlebt. | |
Erst später wurde mir gesagt, dass ich wahrscheinlich Hunderte Menschen | |
gerettet habe. Denn diese Banditen bewegten sich von unserem Stadtteil aus | |
auf das Zentrum von Butscha und das Wohnviertel Sklozavod zu. Dank meiner | |
Informationen über die Stellungen und Bewegungen der Besatzer habe die | |
gesamte Kompanie der Russen, die in unserem Viertel stationiert war, das | |
Zentrum nie erreicht. Sie sind, wie der Raketenkreuzer „Moskwa“, | |
untergegangen. | |
In diesen fünf Tagen, eingesperrt in unserer Wohnung, wusste ich nicht, was | |
ich tat und warum. Ich habe es einfach getan. | |
Das ist alles. | |
Meine ältere Schwester hat uns aus dieser Hölle herausgeholt. Während meine | |
Eltern und ich uns jeden Tag in Butscha vom Leben verabschiedeten, konnte | |
ich mir nicht einmal vorstellen, wie viele Menschen sich um uns kümmerten | |
und wie viel Aufwand betrieben wurde, um uns zu retten. | |
Einen offiziellen grünen Korridor aus den Vororten hat es nie gegeben. | |
Alle, die gegangen sind, haben ihr Leben riskiert, wir auch. | |
Es ist meinen Freunden und Kommilitonen aus der Akademie, die Verbindungen | |
zu unserem Militär haben, zu verdanken. Durch sie bekamen wir Kontakt zu | |
einem sehr erfahrenen Freiwilligen aus Worsel, der erst seine Familie aus | |
der Hölle holen konnte, mithilfe des Militärs, das genau koordiniert hat, | |
wo und an welchen Checkpoints Raschisten sind. Danach begann er, anderen zu | |
helfen. Auch uns. | |
Uns wurde eine spezielle SMS mit Codes geschickt, wie und wohin wir gehen, | |
wie wir wem in die Augen sehen und was wir sagen sollen. | |
Dies war der Weg nach Kiew. | |
Also gingen wir ins Nirgendwohin. Mit der Einsicht, dass wir es wohl nicht | |
schaffen werden. Ich erinnere mich, dass ich mich von der Wohnung | |
verabschiedet habe, das war’s. | |
Meine lieben Kiew-Mohyla-Studienfreunde, ich werde es immer wieder | |
wiederholen: Vielen Dank für alles, was ihr für mich und meine Familie | |
getan habt. Vielen Dank für eure moralische und finanzielle Unterstützung. | |
Ihr seid unglaublich, und ich liebe euch sehr. | |
Wir sind nicht weit gelaufen, bis nach Kiew. Und wir planen nicht weiter. | |
Butscha, der einst wohlhabende Vorort Kiews, existiert nicht mehr. Er wurde | |
mit den Einwohnern zusammen dem Erdboden gleichgemacht. | |
Ich weiß nicht, wie ich es jetzt doch geschafft habe, alles, was wir | |
durchgemacht haben, Buchstabe für Buchstabe herauszuquetschen. Vielleicht | |
wird mir danach etwas leichter zumute. | |
Dies ist jedoch nicht unsere einzige Tragödie. Es gibt noch eine – [3][mein | |
liebes Mariupol]. Meine Mutter stammt von dort. | |
Aus dem Ukrainischen Ljuba Danylenko | |
1 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Moegliche-russische-Kriegsverbrechen/!5848369 | |
[2] /-Nachrichten-zum-Ukrainekrieg-/!5851489 | |
[3] /Solidaritaetsbesuch-in-der-Ukraine/!5850103 | |
## AUTOREN | |
Ljuba Danylenko | |
Maria Tarasenko | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ukraine-Krise | |
Ukraine | |
Serie: Notizen aus dem Krieg | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Kolumne Krieg und Frieden | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Charkiw | |
Lwiw | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Notizen aus dem Krieg in der Ukraine: Furcht vor der Stille | |
Georgy Zeykov glaubt auch am 23. Februar noch nicht, dass Krieg ist. Bis | |
ihn um fünf Uhr morgens das Geräusch einschlagender Bomben weckt. | |
Borodjanka nach dem russischen Abzug: Menschliche Schutzschilde | |
Wie verhält man sich gegenüber Menschen, die wochenlang unter russischer | |
Besatzung gelitten haben? Während man selbst in Sicherheit war? | |
Notizen aus dem Krieg: Zum Teufel mit den „Raschisten“ | |
Raketen schlagen ein, Tarnnetze werden geknüpft. Im Theater ist Vorstellung | |
– und im Café träumen sie vom Urlaub. Ein Telefon-Tagebuch aus Lwiw. | |
Der Krieg nimmt die Worte: „Mariupol war die Hölle auf Erden“ | |
Weil die ukrainische Historikerin Ljuba Danylenko keine Worte mehr findet, | |
bittet sie andere, für sie zu sprechen – über den Alltag im Krieg. | |
Evakuierungen aus Mariupol: „Ihr müsst sie holen“ | |
Mehr als Hundert Zivilisten können aus dem Asowstal-Komplex in Mariupol | |
gerettet werden. Selenski hofft auf eine Fortsetzung der Aktion. | |
Digitale Kulturgüter in der Ukraine: Das große Backup | |
Nicht nur analoge, auch digitale Kulturgüter in der Ukraine sind durch den | |
Krieg bedroht. Hunderte Archivar*innen versuchen nun, sie zu retten. | |
Ukrainische Stadt nach russischem Abzug: Der Schrecken bleibt | |
Einen Monat lang war Trostjanez im Osten der Ukraine von russischen | |
Kämpfern besetzt. Sie hinterlassen Tote, eine zerstörte Stadt und viele | |
Fragen. | |
Militärische Lage im Osten der Ukraine: Krieg im Donbass steckt fest | |
Bei den Kämpfen in der Ostukraine können weder Moskau noch Kiew | |
Fortschritte erzielen. US-Analysten sprechen von einer „Pattsituation“. | |
Notizen aus dem Krieg: Routine und kleine Dinge | |
Im März hatte unsere Autorin an dieser Stelle ihren Alltag in der Ukraine | |
beschrieben. Nun hat sie Kyiv verlassen. Wie geht es ihr jetzt? | |
Notizen aus dem Krieg: Sie haben Angst vor ihren Schatten | |
Misha Chernomorets bringt Hilfsgüter in die umkämpfte Stadt Charkiw und | |
evakuiert Menschen. Eine Suche nach Worten zwischen Leid und Hoffnung. | |
Notizen aus dem Krieg: „Ich schreibe sehr viele Gedichte“ | |
Nach fünf Wochen Krieg hat Alma L. zwei Freunde verloren. Trotz ihrer | |
Erschöpfung engagiert sie sich auch weiter für die humanitäre Hilfe in | |
Lwiw. |