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# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Routine und kleine Dinge
> Im März hatte unsere Autorin an dieser Stelle ihren Alltag in der Ukraine
> beschrieben. Nun hat sie Kyiv verlassen. Wie geht es ihr jetzt?
Bild: Polina (M.) mit ihren Freundinnen Ira (l.) und Nastya (r.) in Lwiw
Polina Fedorenko, 21, kommt aus Kyiv. Diese Schreibweise ihrer Heimatstadt
ist ihr wichtig, sie entspricht dem ukrainischen Namen, nicht dem
russischen. Fedorenko studierte früher Informatik. Als der Krieg begann,
pausierte sie gerade mit dem Studium, sie wollte zur Soziologie wechseln.
Sie arbeitete auch als Mathe-Nachhilfelehrerin für Kinder. Sie liebt
Sprachen, gerade lernt sie Norwegisch. Sie überlegt, Deutsch zu lernen,
weil ihre Tante und ihre Cousine nach Deutschland geflohen sind. Sie lebt
derzeit in Lwiw.
Emotionen
Eine Freundin kam gestern Abend zurück in die Wohnung und sagte nur eines
zu mir: „Ich glaube, ich sehe aus wie die Darsteller in den Kriegsfilmen,
die ich immer verachtet habe.“ Sie meinte Männer, deren Emotionen
ausgeschaltet sind. „Und dazu kommt noch meine verschobene Wahrnehmung. Aus
irgendeinem Grund habe ich jetzt Angst vor dem Interview mit einem Musiker,
um das ich mir eigentlich viel weniger Sorgen machen sollte.“
Mir ging es am ersten Tag des Krieges schon so. Für mich ging es in diesem
Winter darum, mir zu erlauben, etwas zu fühlen. Als ich im Januar an einem
Projekt mit Freunden in Odessa teilnahm und mich für kurze Zeit nicht
nervös fühlte, war das ein kleiner Sieg. Aber der Krieg hat meinen
Genesungsprozess unterbrochen. Es fällt mir leichter, mich von den
Nachrichten abzukoppeln, als sie wahrzunehmen. Ich will mich nicht als
schwach bezeichnen, aber immer wieder die Bilder aus Butscha zu sehen, wo
meine Familie und ich am Wochenende oft spazieren gingen, und die Emotionen
dabei nicht abzuschalten – das klingt für mich unrealistisch.
Aber es gibt auch solche Tage, an denen ich unter Tränen oder in Angst
aufwache. Und dann erlaube ich mir, so viel zu weinen, wie ich kann. Ich
fühle mich hier jetzt sicher, zusammen mit meinen Freunden und dem Klang
der Sirenen in Lwiw. Ich habe keine Angst, über all die Nachrichten aus
meiner Heimatstadt zu weinen. Und ich fühle immer noch keine Wut. Nur tiefe
Trauer und Unverständnis. Wie können die Russen nur so wenig Achtung vor
Menschenleben haben? „Believe me when I said to you. I hope the Russians
love their children, too“ (Anm. d. Red.: Zitat aus [1][Liedtext des Songs
„Russians“] von Sting). It doesn’t seem so.
Tod
Heute ist meine Hoffnung offiziell gestorben. Maks Levin wurde tot
aufgefunden. (Anm. d. Red.: Maks Levin war ein ukrainischer Fotograf, er
wurde am 1. April im Dorf Guta Mezhyhirska nördlich von Kiew tot
aufgefunden.) Es ist einfach so verrückt. Ich versuche mir vorzustellen,
wie mein Freund, der sich auf die Suche nach Maks gemacht hat, sich fühlt.
Und ich kann es nicht. Wie füht sich ein Mensch, der gerade vom Mord an
einem engen Freund erfahren hat? Wie würde ich mich fühlen, wenn einer
meiner Freunde auf diese Weise sterben würde? Ich kannte Maks nicht
persönlich. Aber letzten Sommer haben ein guter Freund von mir und ich
freiwillig an seinem Projekt „[2][After Ilovaisk]“ teilgenommen. Maks war
immer freundlich zu uns.
Kyiv
Ich vermisse mein Zuhause.
Zeitplan
Als ich 17 war, habe ich gemerkt, dass Routine mich über Wasser hält.
Damals habe ich jeden Morgen um 6 Uhr ein Tagebuch geschrieben und dann all
die Dinge getan, die meinen Tag ausfüllten. Jetzt beginne ich den Morgen
mit einem Tee mit Milch und mit einer Nachricht an einen Freund: „Wie geht
es dir?“ Dann öffne ich den Laptop und arbeite bis Mitternacht oder noch
länger als Freiwillige im [3][WithUkraine]-Team. Zwischendrin umarme ich
immer wieder meinen guten Freund, mit dem ich seit dem Krieg zusammenwohne.
Vorher trennten uns 600 Kilometer. Am Abend mache ich Yoga und koche.
Irgendwann zwischendurch versuche ich zu studieren und zu arbeiten, denn
ich habe immer noch kein festes Einkommen, von dem ich leben kann (der
Krieg hat mir meinen Job genommen) und ich lebe von meinen Ersparnissen.
Die kleinen Dinge
Es gibt Dinge, in die ich mich während des Krieges verliebt habe. Tee mit
Milch, zum Beispiel. Ich mochte keinen Tee, weil ich es immer nicht
abwarten konnte, das Wasser abkühlen zu lassen, sodass ich mir den Gaumen
verbrühte. Die Milch macht den Tee aber direkt kühler und auch
schmackhafter. Auf dieser „Verliebtheitsliste“ stehen auch Topfpflanzen. Zu
Hause kümmerte sich meine Mutter um sie, nun wurde ich zur Retterin aller
fast Toten. Ich bin froh, zumindest hier eine gewisse Kontrolle über Leben
und Tod zu haben. Und Hunde. Ich habe eine Woche lang mit meiner Familie in
einem Dorf gelebt, bei Freunden. Sie haben dort drei Hunde: zwei Dackel und
einen Mischling. Ich habe es sehr genossen, mit ihnen auf dem Rasen zu
rennen und mich von Kopf bis Fuß abschlecken zu lassen. Nur Katzen mag ich
noch mehr. Und Umarmungen. Ich habe mich selbst nie als taktilen Menschen
wahrgenommen, aber jetzt fühle ich mich nur in den Armen meiner Freunde
sicher. Selbst wenn ich in diesem Moment sterben sollte, was könnte besser
sein, als in den Armen der Person zu sterben, die ich liebe?
Der Sinn für Realität
Er ist wieder weg. Es fühlt sich alles an wie ein endloses Computerspiel,
aus dem man nicht mehr herauskommt. Es ist, als würde ich jeden Tag
versuchen mir einzureden, dass das, was ich tue, genug ist; dass ich mit
meinen Freunden einen Kaffee trinken gehen kann, anstatt den ganzen Tag
hier zu sitzen und die Nachrichten zu übersetzen. Mir einzureden, dass ich
ein eigenes Leben führen kann. Aber so ist das Leben nicht. Mein Gefühl
dafür, wozu ich fähig bin, hat sich sehr verändert. Es schien mir
schwierig, an einem anderen Ort zu leben, weit weg von meiner Familie –
doch es war letztlich die unemotionalste Entscheidung, die ich in letzter
Zeit getroffen habe.
Körper
Mein Körper erkennt den Stress besser als mein Gehirn. Er gibt mir erste
Signale – extreme Müdigkeit. Mein Körper sagt mir, dass es an der Zeit ist,
eine Pause zu machen.
Lwiw
Ich liebe Kyiv mehr als Lwiw. Aber seit fast drei Wochen lebe ich in Lwiw.
Die Stadt hat sich verändert. Im April gab es hier normalerweise viele
Touristen aus aller Welt. Und jetzt sieht man auf den Straßen viele
bekannte Gesichter aus Kyiv, Charkiw, Mariupol … Alles dreht sich darum,
wann man nach Hause zurückkehren kann, wo man Ohrstöpsel findet (denn viele
müssen in Flüchtlingsunterkünften leben – und diese Unterkünfte sind
Turnhallen, Versammlungsräume). Es wird viel über Zeitgefühl gesprochen.
Und die russische und ukrainische Sprache werden vermischt. Aus
irggendeinem Grund erinnert mich das am meisten an Kyiv.
Sprache
Bei einem Gespräch mit meinem Freund, der Philologie studiert, ist mir eine
wichtige Sache klar geworden: Russisch gehört nicht zu den Russen, genauso
wenig, wie Englisch zu den Menschen aus Großbritannien gehört. Russisch
wird in vielen postsowjetischen Ländern gesprochen – in der Ukraine,
Weißrussland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Tadschikistan
und so weiter. Und es ist so unfair, diesen Menschen die Sprache zu nehmen
– in der in all diesen Ländern Gedichte geschrieben und Filme gedreht
werden, in der jemand seine Liebe gesteht – nur weil die Russen sie nutzen,
während sie andere Nationen zerstören. Und ja, ich verehre das Ukrainische.
Ich liebe das Weißrussische, und das Armenische fasziniert mich. Und ich
wünsche mir wirklich, dass wir, die Menschen in der Ukraine, unsere Sprache
aus den Kellern holen, in denen sie all die Jahre versteckt war, und sie
mit Fehlern und nervösem Lachen zu sprechen beginnen.
Meine abschließende These dazu: Es sollte nur eine offizielle Staatssprache
in der Ukraine geben, Ukrainisch. Immer mehr Menschen sollten vom Staat
ermutigt werden, sie zu sprechen. Und im Krieg mit Russland ist unsere
Sprache mit dem schwer auszusprechenden Wort „Palianytsya“ (Anm. d. Red.:
ein typisches ukrainisches Brot, das auf Russisch schwer auszusprechen ist
und dem ukrainischen Wort „polunytsya“ (Erdbeere) ähnelt. Es wurde vom
ukrainischen Militär genutzt, um Saboteure aufzudecken: Man forderte diese
dazu auf, das Wort korrekt auszusprechen). Es ist keine schlechte Waffe.
Aber: Der Übergang zum Ukrainischen braucht seine Zeit.
Städte
Ich war schon fünfmal in Charkiw. Als ich 14 war, fuhren meine Schwester
und meine Mutter zu einem Tanzfestival (meine Schwester war damals in einem
Tanzverein) und mir wurde klar, dass ich Charkiw auch besuchen möchte. Ich
kam das erste Mal mit 17 dorthin. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich
mag die westlichen Städte der Ukraine nicht wirklich, irgendwie fehlt mir
dort immer der Platz. Deshalb mochte ich Charkiw mit seinen breiten
Straßen, mit den Bäumen und den vielen verschiedenen Häusern.
Mein Freund hat immer darüber gelacht, wie viel die Stadtverwaltung in die
übermäßige Begrünung Charkiws investiert – und ich darüber, dass man dort
nicht über die Rasenflächen laufen soll. Es gibt so viele Orte in Charkiw,
die ich liebe. Sarzhin Yar ist einer von ihnen, ein riesiger Park mit einem
Fluss in der Mitte und vielen schönen Bäumen, Sitzgelegenheiten und
Picknickplätzen. Dann gibt es noch die sehr schönen Straßen im Zentrum mit
ihren vierstöckigen Häusern. Und das Haus, in dem meine Freundin wohnte,
direkt an einem kleinen Fluss, in dessen Nähe sie gerne mit ihrem Mops
spazieren ging. Wir haben gestern über Zoom miteinander gesprochen. Sie hat
geweint, und ich versuchte ihr beizustehen. Das Ergebnis: Wir weinten
beide.
Sie ist jetzt in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo ihre Mutter als
Verkäuferin in einem Pelzgeschäft arbeitet. Meine Freundin kommentierte den
Raum im Hintergrund mit den Worten: „Ich sitze hier mit toten Tieren hinter
mir.“ Ich möchte unbedingt gemeinsam mit ihr nach Charkiw fahren. Es gibt
noch viele Menschen dort, die mir wichtig sind. Beispielsweise die, die ich
dort letztes Jahr auf einem Festival kennengelernt habe, denen ich in den
sozialen Medien folge und deren [4][Projekte] ich mir im März ansehen
wollte.
Jeden Tag habe ich Angst, zu erfahren, dass das Hauptquartier der
Freiwilligen bombardiert wurde oder jemand verletzt ist. Das ist eine
ständige Angst um das Leben der vielen Menschen, die in der Stadt geblieben
sind. Über Mariupol schreibe ich erst gar nicht. Die Situation dort ist
tödlich.
Aus dem Englischen von Sara Rahnenführer
23 Apr 2022
## LINKS
[1] https://www.songtexte.com/songtext/sting/russians-23d32097.html
[2] https://afterilovaisk.com/
[3] https://www.instagram.com/withukraine/
[4] https://kharkivhelp.com.ua/
## AUTOREN
Polina Fedorenko
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