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# taz.de -- Notizen aus dem Krieg in der Ukraine: Furcht vor der Stille
> Georgy Zeykov glaubt auch am 23. Februar noch nicht, dass Krieg ist. Bis
> ihn um fünf Uhr morgens das Geräusch einschlagender Bomben weckt.
Bild: „Am 23. Februar evakuierte ich keine Menschen“: Selfie am Tag vor dem…
Der 35-jährige Georgy Zeykov engagiert sich seit Kriegsbeginn bei der
Planung und Durchführung von Evakuierungen in und um Charkiw, seiner
Heimatstadt. Er arbeitet als Freiwilliger für die humanitäre Organisation
Rescue Now UA. Während eines Einsatzes geriet er am Fabrikgelände Proton in
Charkiw in einen Raketenangriff. Seither hört er auf einem Ohr nur noch
schlecht. Georgy war vor dem Krieg Unternehmer, designte Mode und
Accessoires – er beschreibt sich selbst als „Modefreak“, dem seine äuße…
Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig war.
Der 23. Februar war der letzte Tag, an dem ich eine selbstgekochte Mahlzeit
aß.
Am 23. Februar hatte ich noch immer nur im Fernsehen gesehen, dass Menschen
Regenwasser sammeln.
Am 23. Februar habe ich mir die Nachrichten nicht alle halbe Stunde
angeschaut.
Am 23. Februar habe ich die ukrainische Landkarte nicht besonders gut
gekannt.
Am 23. Februar hätte ich nie gedacht, dass ich je so einen großen Respekt
vor meinem Präsidenten haben würde.
Am 23. Februar wusste ich nicht, dass ich Dosenmais hassen kann.
Am 23. Februar roch ich zum letzten Mal nach Parfüm.
Am 23. Februar hatte ich noch nie in einem Hausflur übernachtet.
Am 23. Februar konnte ich noch nicht zwischen den Geräuschen einschlagender
Granaten unterscheiden.
Am 23. Februar wusste ich nicht, wie ein Luftschutzbunker von innen
aussieht.
Am 23. Februar bin ich noch mit der U-Bahn gefahren, anstatt mich in sie zu
retten.
Am 23. Februar kannte ich die Regel der „zwei Wände“ noch nicht.
Am 23. Februar hatte ich am Ende des Tages keine Rückenschmerzen von der
kugelsicheren Weste.
Am 23. Februar war ich kein Freiwilliger.
Am 23. Februar evakuierte ich keine Menschen.
Am 23. Februar war ich Modedesigner.
Am 23. Februar konnte ich mit beiden meiner Ohren noch sehr gut hören.
Am 23. Februar war ich nicht geübt darin, schnell auf den Boden zu fallen.
Am 23. Februar habe ich das letzte Mal geträumt.
Am 23. Februar glaubte ich nicht, dass der Beschuss von Städten im 21.
Jahrhundert möglich ist.
Am 23. Februar wusste ich nicht, dass 40 Männer innerhalb von 10 Stunden
15.000 Molotowcocktails herstellen können.
Am 23. Februar hatte ich das viele zerbrochene Glas noch nicht gesehen.
Am 23. Februar fürchtete ich mich noch nicht vor der Stille.
Am 23. Februar war die Schutzweste noch nicht meine zweite Haut.
Am 23. Februar lebten all meine Angestellten noch.
Am 23. Februar maß ich meiner äußeren Erscheinung Bedeutung bei.
Am 23. Februar gehörte ich mir selbst.
Am 23. Februar war ich in Sicherheit.
Am 23. Februar war ich nicht allein.
Am 23. Februar war ich glücklich.
Am 23. Februar war ich anders.
Am 23. Februar habe ich nicht an den Krieg geglaubt.
ZIVILIST, männlich, eine Person, die zur ständigen Bevölkerung eines
bestimmten Staates gehört, alle durch die Verfassung garantierten Rechte
genießt und alle durch die Verfassung festgelegten Pflichten erfüllt.
„Die Verteidigung des Vaterlandes ist die heilige Pflicht eines jeden
Bürgers.“
© Oxford Languages
Hätte die russische Regierung diese Definition wenigstens einmal gelesen –
vielleicht hätte der Krieg vermieden werden können.
Hätte das russische Volk seine Rechte gekannt und sich als ein freies Volk
verstanden – vielleicht hätte der Krieg vermieden werden können.
Hätte sich Russland daran erinnert, dass der ukrainische Mut bereits acht
Jahre zuvor die Besetzung des Landes verhindert hat, würde es nun nicht den
„Kosaken-drive“ (Anm. d. Red.: Das Sinnbild des „kämpfenden Kosaken“ s…
für den Widerstandsgeist der Ukrainer:innen, schon 2013/14 nutzten es die
Demonstrant:innen auf dem Maidan. Kosaken gelten historisch als
Mitbegründer des ukrainischen Staats) zu spüren bekommen.
Weder mein Land, noch meine Leute, meine Familie oder ich sind dem Krieg
entkommen. Um fünf Uhr in der Früh habe ich von ihm erfahren. Wie viele
andere [1][in Charkiw], bin ich vom Geräusch explodierender Bomben
aufgewacht. Ich stand auf dem Balkon und habe mir die Blitze angesehen.
Dann holte ich mein Smartphone aus der Tasche, um die Stoppuhr
einzuschalten. Geräusche legen in drei Sekunden einen Kilometer zurück.
Wenn die Sekunden zwischen Blitz und Donner gemessen werden, kann die
Distanz von einem selbst bis zum Einschlagsort ungefähr eingeschätzt
werden. Der Abstand zwischen mir und den Bomben betrug nur 11 Kilometer.
Um ehrlich zu sein, war ich weder innerlich auf den Krieg vorbereitet, noch
auf ihn materiell eingestellt. Ich hatte keinen Erste-Hilfe-Kasten gekauft
und nicht einmal einen Wasservorrat angelegt. Die Vorstellung, in einem
europäischen Land einen Wasservorrat für den Fall eines feindlichen
Angriffes anlegen zu müssen, erschien mir abwegig und verrückt.
Mittlerweile verlasse ich das Haus nicht mehr ohne kugelsichere Weste und
eben jenen Erste-Hilfe-Kasten, den ich damals nicht hatte. Ich bin
fokussiert. Ich habe ein Ziel.
„Das einzige, was Sie mir nicht nehmen können, ist die Art und Weise, wie
ich auf das reagiere, was Sie mir antun. Die letzte Freiheit besteht darin,
die Einstellung unter bestimmten Umständen zu wählen.“
So die Worte [2][des österreichischen Psychiaters Viktor Frankl], ein
Überlebender der Nazilager. Ich verstehe ihre Bedeutung jetzt aus eigener
Erfahrung.
Nur auf die allerwichtigste Frage kann ich mir selbst keine Antwort geben:
Wer bin ich? Ich war zehn Jahre lang in der Modebranche tätig, habe bei der
ukrainischen Fashion Week mitgewirkt. Ich hatte Produktionsverträge für
Kleidung und Accessoires mit dem Unternehmen Philip Morris International.
Pro Jahr habe ich bis zu 20.000 Teile produziert und für die Vogue UA habe
ich immer noch ein Abonnement. Das habe ich im März erneuert, aber
praktisch seit Februar nichts mehr über Mode gelesen.
All diese Hinweise leiten wie Fäden in mein früheres Leben. Jetzt liegen
auf dem Boden meiner Wohnung Bücher, die sich mit dem Thema Krieg
beschäftigen. Sie liegen dort, weil die Sicherheitsregularien das
vorschreiben. Nichts, was aus einer bestimmten Höhe fallen könnte, darf
hochgestellt werden. Dementsprechend liegt vieles auf dem Boden. Die
Fenster sind rund um die Uhr geöffnet – im Spalt klemmen
Trinkwasserflaschen. Wenn eine Granate in der Nähe des Hauses einschlägt,
öffnet die Druckwelle die Fenster. Die Trinkwasserflaschen fallen in
solchen Momenten zwar zu Boden, aber so besteht die Chance, dass die
Fenster nicht zerspringen.
In meiner neuen Wohnung gibt es keine Küche; sie wurde bis zum Kriegsbeginn
am 24. Februar nicht geliefert. Und nun ist sie zusammen mit der
Möbelproduktion abgebrannt, ebenso mein Kleiderschrank für den Flur. Jetzt
stehen dort ein Schreibtisch und ein Computer, und zwar hinter zwei Wänden
– das ist aktuell der sicherste Ort in der Wohnung. Hier arbeite ich für
Rescue Now und hier schlafe ich.
Seit dem 5. März habe ich mir keinen Tag freigenommen; ich bin arbeitslos.
Aber ohne freie Tage. Die Freiwilligenarbeit ist jetzt mein ganzes Leben.
Es ist meine Daseinsberechtigung, die mich vor dem Zusammenbruch bewahrt.
Ich evakuiere Menschen.
Jeden Tag.
Aus dem Englischen von Frederike Grund
Seit Kriegsbeginn ist die humanitäre, auf Spenden angewiesene
[3][Organisation Rescue Now UA] in und um Charkiw tätig. 150 Freiwillige
arbeiten mit.
10 Jun 2022
## LINKS
[1] /Osten-der-Ukraine-ruestet-sich/!5843465
[2] /Debatte-Teilhabegesetz/!5307295
[3] /Notizen-aus-dem-Krieg/!5848536
## AUTOREN
Georgy Zeykov
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