# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Es hilft mir, wütend zu sein | |
> Früher glaubte sie, sie könne ihr Leben gestalten. Aber im Krieg habe man | |
> keine Kontrolle mehr über das Leben, schreibt Iryna Kramarenko. | |
Bild: Eine ukrainische Fahne liegt nach einem Raketeneinschlag in den Trümmern | |
Anders als viele in der Ukraine glaubten mein Mann und ich dem | |
US-amerikanischen und britischen Geheimdienst. Wir packten ein paar Sachen | |
und verließen die Wohnung, zehn Tage bevor der Krieg begann. Bis heute | |
kenne ich niemanden, der so reagiert hat. Die Leute konnten einfach nicht | |
glauben, dass die Gefahr echt war. Seither ist mein Leben in zwei Teile | |
gerissen. Vor dem Krieg wohnte ich mit Mann und Sohn in Brovary, einer | |
Stadt nahe Kiew. Ich übersetzte Sachbücher vom Englischen ins Ukrainische. | |
Jetzt lebe ich mit meiner Familie im Haus meiner Eltern in Rivne in der | |
Westukraine. Vor Kurzem habe ich einen Job als Verwalterin in einem Hotel | |
gefunden. | |
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemanden in der Ukraine gibt, | |
der nicht unter diesem Krieg leidet. Auch wenn man in einer relativ | |
sicheren Stadt lebt, heißt das nicht, dass man nicht Menschen verliert, die | |
einem nahestehen. Oder dass man seine Wohnung verliert. Oder dass man | |
selbst stirbt. Man kann im Krieg seine Zukunft nicht gestalten, geschweige | |
denn kontrollieren. Das zermürbt. Und trotzdem halten die Leute es | |
irgendwie aus – auch jetzt, wo schon bald vier Monate Krieg ist. | |
Für alle waren die ersten Wochen [1][nach dem 24. Februar] unerträglich. | |
Dieser Horror überall. Wir konnten nicht schlafen, nicht essen, nicht ruhig | |
handeln. Ich konnte nicht glauben, dass das jetzt unsere Wirklichkeit ist. | |
Dieser Albtraum. Wollte ich schlafen, sah ich die immer neuen Opfer, sah | |
die Toten vor mir. Was passiert, wenn eine Bombe auf das Haus fällt? Werden | |
wir darunter begraben? Werden andere unsere Leichen finden? Wenn ich nachts | |
im Stockdunkeln neben meinem Mann und meinem Sohn lag, fragte ich mich, ob | |
ich ihre Gesichter je wiedersehe. | |
Um nicht verrückt zu werden, um zu funktionieren, für das Kind, für die, | |
die man liebt, entwickelt man Überlebensstrategien. Mir hilft, dass ich | |
wütend auf die Russen bin, die mein glückliches Leben zerstörten. Wenn ich | |
während eines Bombenalarms angstgeschüttelt zum Schutzraum renne, an einer | |
Hand meinen Sohn, in der anderen das Telefon, mit dem ich leuchte – die | |
Straßen sind dunkel –, kann ich nur denken: Wir werden es schaffen. Wir | |
überleben. Ich lebe noch, obwohl die Russen mich töten wollen. Genau, wie | |
die Deutschen meine Großeltern im Zweiten Weltkrieg töten wollten. Wenn | |
meine Großmütter da durchkamen, komme ich auch durch. | |
Jede Woche versuche ich neu, mich an diese Wirklichkeit voller | |
Abscheulichkeiten, die jetzt mein Leben ist, zu gewöhnen. Ich habe gemerkt, | |
dass ich besser atmen kann, wenn ich nicht ständig Nachrichten höre. Ich | |
versuche, mich zu beschäftigen. Zu tun, was ich kann. Und zu kontrollieren, | |
was ich kann. Auch wenn das bedeutet, dass ich manchmal nur meinen Atem | |
kontrolliere oder meine Lippen, um meinem Sohn zu sagen, dass alles in | |
Ordnung ist, dass alles gut wird. | |
## 2. April | |
Manchmal schaue ich mir Filme von ausländischen Bloggern an. Dann sehe ich, | |
dass sie in Frieden leben, und ich denke, auch bei uns wird der Krieg nicht | |
ewig dauern. Aber als ich heute ein holländisches Model über veganen | |
Lippenbalsam, produziert ohne Tierquälerei, sprechen hörte, fragte ich | |
mich, ob sie weiß, wie viele Menschen nur 2.000 Kilometer von ihr entfernt | |
täglich gequält werden oder sterben. Interessiert sie unser Schicksal? | |
Interessiert es sie, was für eine Riesenumweltverschmutzung in Europa | |
gerade passiert – all diese brennenden Panzer, Flugzeuge, Öldepots. Weiß | |
sie um die Bodenvergiftung mit Ammonium und anderen Chemikalien durch den | |
Krieg? Warum schweigt sie zum Krieg in Europa? Geht es sie nichts an? Ist | |
es so, wie man so schön sagt: „Das Einzige, was für den Triumph des Bösen | |
notwendig ist, ist, dass gute Menschen nichts tun.“ | |
## 10. April | |
Wir wohnen zwei Nächte bei meiner Tante in einem Dorf bei Rivne. Mein Sohn | |
wollte dorthin, weil ihn die Sirenenalarme nachts fertigmachen. Auch hier | |
ist es nicht sicher, aber wenigstens ohne Sirenengeheul. Mein Mann und mein | |
Bruder sind in der Stadt geblieben; sie machen Freiwilligenarbeit. Sie | |
helfen beim Auspacken der Lastwagen mit Hilfsgütern. Sie kommen müde nach | |
Hause, aber glücklich, etwas tun zu können. Auch meine Tante macht | |
Freiwilligenarbeit. Sie und andere sammeln Kleidung und Lebensmittel im | |
Dorfzentrum und bringen sie in die [2][Region Tschernihiw]. Als sie das | |
letzte Mal Hilfe schickten, meinte eine ihrer Freundinnen, sie habe im | |
Fernsehen gesehen, wie eine Frau aus Tschernihiw genau das Brot in den | |
Händen hielt, das sie gebacken habe, das mache sie stolz. | |
Auch ich helfe beim Sortieren der Hilfsgüter und verbreite die Nachrichten | |
in den sozialen Medien auf Englisch. Meine Freunde backen Kekse für die | |
Soldaten, kaufen Munition, Medikamente, sammeln Geld. Wir tun, was wir | |
können. Wir müssen diesen Krieg gewinnen. Es muss der letzte sein. | |
## 29. April | |
Wir fahren zu unserer Wohnung bei Kiew, um Kleidung und andere Dinge zu | |
holen, die wir im Februar nicht eingepackt haben. Nicht die verbrannten | |
Panzer auf den Straßen fallen uns ins Auge, sondern die vielen beschädigten | |
Häuser. Es sieht so aus, als hätten die Russen vor allem auf die schönsten | |
geschossen. Die neuesten, die mit zwei, drei Stockwerken, die frisch | |
gestrichenen. Natürlich sind auch ältere und nicht so schöne Häuser kaputt. | |
Auch Tankstellen und Krankenhäuser. Im Entbindungskrankenhaus in der Nähe | |
unserer Wohnung klafft ein riesiges Loch. Die Russen wollten unsere | |
schwangeren Frauen und Babys töten. | |
Es ist schwer, nicht zu weinen, als wir unsere Wohnung betreten. Alle meine | |
Pflanzen sind tot, alles ist verstaubt, verwahrlost. Trotzdem bin ich froh, | |
zu Hause zu sein. Wir zahlen Rechnungen dafür, aber niemand kann uns | |
versprechen, dass wir die Wohnung je wiedersehen. Ich hoffe, dass es sie | |
beim nächsten Besuch noch gibt. | |
## 7. Mai | |
Mein erster Tag auf der Arbeit im Hotel. Heute ist es kaum noch möglich, | |
eine zu finden, und viele haben ihre Arbeit verloren. Ich hatte Glück. Fast | |
alle Frauen, die in unserem Hotel arbeiten, sagen, ihre Männer seien | |
arbeitslos oder in Teilzeit. Mein Mann ist auch einer von ihnen. Er | |
arbeitet immer noch für ein Kiewer Unternehmen, im Homeoffice, aber sein | |
Gehalt ist jetzt höchstens ein Drittel von früher. Jeden Tag fragen wir | |
uns, ob er entlassen wird. Hier in der Westukraine hat er bisher nichts | |
gefunden. | |
## 12. Mai | |
Heute ist der 9. Geburtstag meines Sohnes. Ich habe einen Kuchen für ihn | |
und seine Freunde gekauft und bete, dass wir nicht in den Luftschutzkeller | |
rennen müssen. Die Kinder essen schnell, denn ihre Eltern haben ihnen | |
gesagt, sie sollen nicht lange bleiben. Gott sei Dank ist es ruhig. | |
## 16. Mai | |
Wir haben einen neuen Arbeitskollegen. Er ist mit zwei Schwestern und | |
seinem Vater aus Charkiw gekommen. Ihre Wohnung liegt in Saltowka, dem | |
wahrscheinlich am stärksten zerstörten Teil der Stadt. Er redet wenig, aber | |
dann erzählt er doch, wie beängstigend und gefährlich es war, dort drei | |
Wochen lang auszuharren, und wie unglaublich schwer es war, seine Stadt zu | |
verlassen. Am Bahnhof wollte man ihn nicht in den Zug lassen. Kinder, | |
Frauen und ältere Menschen haben Vorrang. Also nahmen sie ein Taxi und | |
fuhren in die andere Regionalstadt, Poltawa. Es kostete einen Monatslohn. | |
Ich traf heute eine ukrainische Familie, die seit fast zwei Monaten in | |
Österreich lebt. Sie wollen trotz der Gefahr in ihre Heimat nach Gostomel | |
zurück. Sie haben Österreich vor dem Krieg oft besucht, aber das Leben als | |
Tourist unterscheide sich sehr vom Leben als Flüchtling. Sie wurden krank | |
vor Heimweh, erzählt Nadia. Außerdem möchten sie ans Grab eines Verwandten. | |
Sie erzählt von zwei Männern ihrer Familie, die in der Garage waren, als | |
die Russen kamen und zu schießen begannen. Der Jüngere schoss mit seiner | |
Flinte zurück, wurde aber kurz darauf erschossen. Der Ältere entkam durch | |
das Fenster, verlor seine Schuhe und lief barfuß durch den Schnee nach Kiew | |
zu Leuten, die er kannte. Die Leiche des Jüngeren lag Wochen in der Garage, | |
bis sie ihn endlich begraben konnten. | |
## 25. Mai | |
Heute bringt mein Bruder meinen Vater aus der Klinik in Lwiw. Kurz nach | |
Beginn des Kriegs wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Ich fürchte, ich | |
finde nicht die richtigen Worte, um zu beschreiben, was wir an diesem Tag | |
fühlten. Seitdem wurde er in verschiedenen Krankenhäusern behandelt, aber | |
wir zögerten, ob er nach Lwiw soll, da die Stadt schon mehrmals bombardiert | |
wurde. Zum Glück kam er wohlbehalten zurück. Gott sei Dank ist mein Vater | |
Optimist. Sein Glaube, dass alles gut werden wird, gibt auch mir Hoffnung. | |
## 10. Juni | |
Ich habe gerade mit meinem Cousin gesprochen, einem Soldaten der | |
ukrainischen Streitkräfte. Er ist ein wunderbarer, freundlicher, | |
intelligenter Mann. Ich liebe ihn, und es bricht mir das Herz, wenn ich an | |
die Gefahren denke, die ihm als Soldat drohen. Jedes Mal, wenn ich | |
schlechte Nachrichten von den Schlachtfeldern sehe, fühle ich einen | |
körperlichen Schmerz und kann nicht atmen. Er könnte dort sein. | |
Aber er tut sein Bestes, um diesen Krieg zu gewinnen. Genau wie alle | |
anderen. Und wir sind stolz auf das, was wir tun, denn wir wissen, dass wir | |
für die Zukunft unserer Kinder und unseres Landes kämpfen. | |
Slawa Ukraini! | |
Aus dem Englischen von Waltraud Schwab. | |
19 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Iryna Kramarenko | |
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