| # taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Helfende Hippies | |
| > Viele von Aliks alten Hippie-Freunden aus dem Baltikum kommen in die | |
| > Ukraine, um zu helfen. Einzig die russischen Hippies fehlen. | |
| Bild: Alik (2. v. rechts) und seine Freunde | |
| Der Autor dieses Tagebuchs ist 1958 in Lwiw geboren und war einer der | |
| Gründer der dortigen Hippie-Bewegung. Vor die Musterungskommission trat | |
| Alik mit wehendem Haar und Kriegsbemalung. Die Kommission hielt ihn für | |
| „wehrunwürdig“ und wies Alik in die Psychiatrie ein. Nach einem Monat kam | |
| er wieder frei und schlug sich als Nacktmodell an der Kunstakademie durch. | |
| Seit den achtziger Jahren arbeitet er als Beleuchter im Opernhaus. Über | |
| Alik erzählt Andrej Kurkow in seinem Roman „Jimi Hendrix live in Lemberg“ | |
| (Diogenes 2014). | |
| ## Donnerstag, der 9. Juni | |
| Weißt du, wer heute vor zehn Jahren alles in Lwiw war? Miroslav Klose, | |
| Thomas Müller, Jogi Löw, Christiano Ronaldo, Schweinsteiger … Und noch | |
| viele andere Fußballstars. Und Fans. Die ganze Stadt war voll. Damals war | |
| die Fußball-EM in Polen und der Ukraine, und in der Arena Lwiw spielten die | |
| Deutschen ihr erstes Spiel gegen die Portugiesen. Die deutschen Fans hatten | |
| schwarz-rot-goldene Perücken auf und waren mit deutschen Fahnen behängt. | |
| Deutschland hat gewonnen, Mario Gomez hat das Siegestor geschossen. Eine | |
| Woche später hat Deutschland nochmal in Lwiw gegen Dänemark gewonnen. Es | |
| war ein großartiger Sommer. Alles so friedlich. Und jetzt? An Fußball ist | |
| nicht zu denken. Die Arena Lwiw ist ein Flüchtlingszentrum. | |
| ## Montag, der 13. Juni | |
| Aksel aus Estland war heute in Lwiw. Aksel ist ein alter Freund von mir, | |
| wir haben uns in den siebziger Jahren kennengelernt, wir waren beide | |
| sowjetische Hippies. Und jetzt ist Aksel mit seiner Frau Ludmilla gekommen, | |
| um uns zu unterstützen. Sie haben einen Kleinbus gekauft, ihn mit | |
| Hilfsgütern vollgeladen und sind in die Ukraine gefahren. Auf dem Bus, er | |
| gehörte einer Ofenbauerfirma, steht auf Estnisch „Kaminzimmer“. Den haben | |
| sie in Luzk an die ukrainische Armee übergeben und sind mit dem Zug über | |
| Polen zurück. Die beiden wohnen in der Nähe von Tallinn. Ludmilla ist | |
| Russin, doch die beiden sind sich einig: „Wenn wir euch nicht helfen, | |
| werden die Russen mit ihren Panzern bald auch bei uns sein“, sagt Aksel. | |
| Die Hilfe ist großartig. | |
| Ein anderer Hippie ist Andris aus Lettland. Er ist schon 72 Jahre alt und | |
| holt mit seinem Bus immer wieder ukrainische Flüchtlinge nach Riga. Auch | |
| Natalja aus Poltawa treffe ich jetzt regelmäßig im armenischen Café. Wir | |
| alle waren sowjetische Hippies. Das hatte nichts mit Drogen und Alkohol zu | |
| tun, wir träumen einfach davon, frei zu leben. Diesen Traum konnten wir an | |
| den Rändern der Sowjetunion intensiver leben. Wir lebten im Baltikum, in | |
| Lwiw, auch im damaligen Leningrad. Wir haben einander geschrieben, wir sind | |
| getrampt, zur Ostsee oder auf die Krim. In Lwiw haben wir uns in der | |
| Altstadt getroffen oder auf einem alten Friedhof, wir haben Musik gehört. | |
| Unsere Band, das waren die Vujki, Hardrocker aus Lwiw. Love, Peace and | |
| Freedom – das war unsere Parole. Das ist meine immer noch. | |
| Im Mai 2018 war ich das erste Mal im Heimatland aller Hippies, in | |
| Kalifornien. In San Francisco gab es eine Ausstellung über die Hippies in | |
| der Sowjetunion. Ich war als einer der Zeitzeugen zur Eröffnung eingeladen. | |
| Zum ersten Mal war ich in den USA. Dort traf ich auch andere sowjetische | |
| Hippies. Wir haben uns alle gut verstanden, nur mit den Hippies aus | |
| Russland ging das nicht mehr. Sie haben die Annexion der Krim | |
| gerechtfertigt. Sie haben den Tryzub, das ukrainische Staatswappen auf | |
| meinem T-Shirt, als faschistisches Zeichen gewertet, und weil ich für die | |
| Verteidigung der Ukraine eintrat, war ich für sie ein Kriegstreiber, kein | |
| Pazifist. Es war verrückt. Wir, die wir einst dieselben Träume teilten, | |
| dieselbe Sprache sprachen, konnten uns nicht mehr verständigen. | |
| Natürlich bin ich Pazifist und gegen Angriffskriege, so wie die | |
| amerikanischen Hippies gegen den Vietnamkrieg waren, so wie wir in den | |
| achtziger Jahren gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan waren. | |
| Jetzt aber ist die russische Armee brutal in unser Land eingefallen und wir | |
| verteidigen nur unsere Heimat und unsere Familien. Das ist etwas anderes | |
| als Vietnam, als Afghanistan. Ja, ich bin Pazifist, immer noch, aber nicht | |
| in diesem einfältigen Sinne. | |
| ## Donnerstag, 16. Juni | |
| Ich war heute wieder im Opernhaus. Um halb zwölf heulten erneut die | |
| Sirenen. Die Leute sagen, dass es wegen der Besucher in Kiew ist. Olaf | |
| Scholz war heute mit Macron, Draghi und Klaus Johannis bei Selenski. Da | |
| wollten die Raschisten wohl zeigen, was sie draufhaben. Ich nenne die | |
| Russen „Raschisten“, es ist ein Wort aus Russia und Faschisten. | |
| ## Freitag, der 17. Juni | |
| Am Sonntag ist die Schlussvorstellung dieser Opernsaison, „La Bohème“ von | |
| Puccini. Es war eine merkwürdige Saison. Am 24. Februar war erst mal | |
| Schluss, im Mai fingen wir langsam wieder an und mussten uns an Luftalarm | |
| gewöhnen, der die Aufführungen unversehens beenden kann. Außerdem wurden | |
| uns die Gehälter gekürzt, und Stücke von russischen Komponisten führen wir | |
| auch nicht mehr auf. Das ist verboten. Das kann man in Deutschland | |
| vielleicht nicht verstehen. | |
| Was können Tschaikowski oder Prokofjew für den russischen Angriff? Ich | |
| haben mit Kollegen darüber gesprochen. Die sind fast alle dafür. Das sind | |
| alles gute Komponisten. Doch die Leute sind sehr negativ gestimmt gegen | |
| alles Russische und auch gegen Menschen aus Russland. Sie fragen sich: | |
| Warum sagen sie nichts? Finden sie den Krieg etwa gut? Glauben sie der | |
| Propaganda? Nicht nur bei uns im Opernhaus hört man nichts Russisches mehr. | |
| Man hört keine russische Musik mehr in Bars, Cafés oder auf der Straße. | |
| Russisch ist die Sprache des Aggressors. Wir haben viele Konzerte für | |
| Freiwillige veranstaltet. Da sitzen immer Leute auf den Stühlen, die durch | |
| die russische Invasion einen Menschen verloren haben. Kann man denen noch | |
| „Schwanensee“ vorsetzen? Wir haben jetzt mehr Ukrainisches im Programm, | |
| etwa „Koli zvite paporok“ („Wenn der Farn blüht“) von Jewhen Stankowyt… | |
| Es ist Ballett und Oper in einem, mit Videoinstallation und traditionellen | |
| ukrainischen Motiven. Kurz vor seiner Uraufführung 1979 wurde es verboten | |
| und erst 2017 bei uns in Lwiw uraufgeführt. Als Beleuchter haben wir bei | |
| der Inszenierung gut zu tun. | |
| In unserer Abteilung sind wir elf. Die absolute Koryphäe am Lichtpult ist | |
| mein Kollege Oleksandr Mesenzew. Wir sind froh, dass wir ihn haben. Er ist | |
| ein echter Lichtkünstler und hat lange am Opernhaus in Donezk gearbeitet. | |
| Als die „Volksrepublik“ ausgerufen wurde, hat er Donezk verlassen. Seit | |
| eineinhalb Jahren ist er bei uns. Seine Frau lebt mit zwei seiner Töchter | |
| in Polen. | |
| Wir arbeiten im Team und haben eine sehr flache Hierarchie, es gibt keine | |
| Kommandos. Hier gibt es nichts Sowjetisches mehr. In den letzten Jahren | |
| haben wir viel neue Lichttechnik erhalten, unter anderem aus Japan und den | |
| USA. Aber das Wichtigste sind die Leute hier, das ist das Potenzial. Wir | |
| sind ein Teil Europas, weißt du. | |
| ## Dienstag, der 21. Juni | |
| Heute Abend war ein kleines Hippie-Treffen bei Igor „Pencil“. Igor ist | |
| einer der wenigen Hippies der ersten Generation, die noch leben. Er heißt | |
| Pencil, weil er in seiner Jugend mal gezeichnet hat. Jetzt ist Pencil 73 | |
| Jahre alt, und berühmt geworden ist er in Lwiw, weil er ein Biker-Hippie | |
| war. Es gab sechs, sieben Biker in Lwiw, die das Gefühl von „Easy Rider“ | |
| gelebt haben. Natürlich haben sie den Film damals nicht gesehen und sie | |
| hatten auch keine Harley-Davidson, sondern sie fuhren Jawa aus der ČSSR | |
| oder eine Pannonia aus Ungarn. Damit sind sie durch die Sowjetunion | |
| gerollt, in der Hoffnung, ein bisschen Freiheit zu erleben. Aber auch, um | |
| ihren Lebensstil zu zeigen. Liebe, Freundschaft, Freiheit. Pencil hat noch | |
| ein Motorrad, Freunde haben ihm wieder eins geschenkt. 2.500 Griwna Rente | |
| bekommt Pencil, etwa 80 Euro. Geld für Benzin hat er keins mehr. Und | |
| trotzdem spendet Pencil, der „Easy Rider“ von Lwiw, von seiner Rente immer | |
| 1.000 Griwna für die Armee. Jeder von uns will den Sieg. | |
| Nach Telefongesprächen protokolliert von Thomas Gerlach. | |
| 26 Jun 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
| Alik Olisevych | |
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