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# taz.de -- Hochkultur in Odessa: Sinfonien und Sirenen
> Lange haben die Künstler:innen auf die Wiedereröffnung der Oper
> hingearbeitet. Nun erklingen in Odessa wieder Stücke von Chopin oder
> Minkus.
Bild: Wieder für Publikum geöffnet: das Opernhaus von Odessa
Odessa taz | Es sind kaum neun Minuten Ballettaufführung im Opernhaus von
Odessa vergangen, als es passiert: Es gibt Luftalarm. Bei einigen
Zuschauer:innen summen die Smartphones mit der Trivoga-App. Trivoga
heißt auf Ukrainisch Angst. Irgendjemand hat sein Telefon nicht auf lautlos
gestellt und Sirenensound mischt sich mit Chopin. Der Vorhang verhüllt die
Bühne. Das Publikum soll in den Schutzraum gehen oder auf die Straße.
Seit ein paar Tagen ist das „[1][Akademische nationale Theater für Oper und
Ballett Odessa]“, wie es mit vollen Namen heißt, nach nunmehr fast vier
Monaten wieder eröffnet. Die ersten drei Aufführungen waren Soldat:innen
vorbehalten. Anschließend wurden die Karten frei verkauft. 400 Hrywna, etwa
12 Euro, kostet ein Platz in der Beletage, im Parkett etwas weniger. Und
das Publikum kommt zahlreich. Allerdings dürfen nur 400 Besucher:innen
hinein. Das ist die maximale Kapazität des Schutzraums im Keller. Odessa
versucht sich an Normalität in unnormalen Zeiten.
Marina und Oxana sind Stammgäste. Nach Monaten ohne Opernbesuch haben sie
sich festlich gekleidet. Die eine in türkisem Hosenanzug, die andere in
schwarzem Sommerkleid mit Rüschen. An diesem Sonntag steht Ballett auf dem
Programm: Eine Chopiniana nach Musik von Chopin und eine Paquita nach Musik
von Léon Minkus.
Sie seufzen, als der Alarm losgeht. In den Keller möchten sie nicht. Dort
sei es zu warm, mutmaßt Marina. Stattdessen streben sie in ein Café nebenan
im aufwendig gestalteten und schattigen Garten des Palais Royal. Es heißt
„Schastye“, also Glück. Der Manager begrüßt sie mit Namen und bedauert,
dass man sich lange nicht gesehen hat.
## Detonation während des Kaffeetrinkens
Als der Kaffee gerade serviert wird, gibt es irgendwo draußen einen dumpfen
Knall. Die Detonation ist so stark, dass man sie nicht nur hört, sondern
die Druckwelle auch körperlich spürt, aber nicht so sehr, dass die Fenster
klirren. Viele Gäste zucken zusammen, einige schauen erschrocken um sich.
Doch passiert nichts weiter. Oxana sagt: „Das waren unsere“, und meint
damit wohl die ukrainische Armee. Sie kennt das Geräusch und wirkt sehr
ruhig.
Nur ein paar Minuten später gibt es erste Meldungen im Messengerdienst
Telegram, dass die ukrainische Luftabwehr zwei russische Raketen im Anflug
auf Odessa über dem Meer abgeschossen hat. Abgebildet werden sogar Fotos
kleiner, bräunlicher Wölkchen, die sich von den Schäfchenwolken am
Nachmittagshimmel abheben.
Am Morgen waren mehrere [2][Raketen in Kyjiw eingeschlagen]. Seit zwei
Tagen hat Russland seine Raketenangriffe intensiviert. Auch von Schiffen im
Schwarzen Meer aus werden die Raketen gestartet. Wenn sie die Region Odessa
überfliegen, gibt es Luftalarm. In den Tagen vor der Ballettaufführung zwei
bis fünf Mal täglich. Mal dauert es 20 Minuten bis zur Entwarnung, mal drei
Stunden.
Ob die Oper von Odessa nun die weltweit schönste ist oder doch die
Mailänder Scala, sind sich Marina und Oxana nicht ganz sicher. Aber unter
den ersten beiden sei sie auf jeden Fall. Das Gebäude wurde 1887 eröffnet,
gebaut nach Entwürfen der österreichischen Architekten Fellner und Helmer.
Die Fassade im neobarocken Stil ist mit zahlreichen Skulpturen geschmückt.
Es war das erste elektrisch beleuchtete Gebäude der Stadt, das Platz für
1.500 Besucher bietet. Aufgeführt werden Opern, Ballett und Konzerte.
## In einer halben Stunde ist Chorprobe
Vor der Aufführung führt Dirigent Igor Chernetski durch das Haus. Die
Treppenhäuser sind mit Marmor in verschiedenen Farben verkleidet, die
Wandmalereien im Treppenhaus mit Blattgold verziert, der Opernsaal mit
bordeauxrotem Samt ausgestattet. Das Haus strahlt das Selbstbewusstsein
einer aufstrebenden Stadt zur Zeit seiner Erbauung aus. Chernetski ist
sichtlich stolz. „Ist sie nicht schön?“ Seit 22 Jahren arbeitet der
53-Jährige hier. Vorher hatte er unter anderem an der Musikakademie in
Odessa und der Hochschule für Musik in Freiburg studiert.
Ungefähr einen Monat habe man sich auf die Wiedereröffnung vorbereitet,
erzählt er. „Tänzer brauchen nach einem Monat Pause mindestens zwei Wochen,
um wieder ihr professionelles Niveau zu erreichen.“ Vorher habe es nur ein
paar Konzerte ohne Publikum gegeben, die auf Youtube gezeigt wurden.
Chernetski hat es nun eilig. In einer halben Stunde ist Chorprobe. Es geht
hinter die Bühne, durch Gänge und Treppen hinauf. In der fünften Etage
öffnet er eine Tür. Dahinter singt sich der Chor gerade warm. Zwischen 40
und 50 Kehlen bringen es auf eine beachtliche Lautstärke. „Man muss die
Stimmbänder aufwärmen“, erklärt Chernetski. Ein Stockwerk tiefer dehnen
sich die Tänzer:innen vor meterhohen Spiegeln. Eigentlich gehörten rund
90 Tänzer:innen zum Ensemble, aber wegen des Krieges seien besonders die
mit kleinen Kindern aus der Stadt geflohen. Etwa 40 Kolleg:innen seien
noch da.
Künstlerischer Leiter ist Garri Sevoyan. Der Krieg macht auch seiner Arbeit
stark zu schaffen. Für die Laquita habe man viermal proben wollen, doch
immer gab es Alarm, und die Tänzer:innen mussten in den Keller. Dass das
Ensemble nun endlich wieder vor Publikum auftreten kann, bedeute ihm viel.
Er hoffe, dass der Krieg bald ende. Einstweilen müsse man wohl darauf
setzen, dass die ukrainische Armee die Stadt Mykolajiw rund 130 Kilometer
weiter östlich halten kann. „Solange sind wir hier sicher.“
## Alle Zuschauer:innen müssen durch Sicherheitsschleusen
Bei Alarm müsse man in den Schutzraum. Das sei so vorgeschrieben, sagt
Chernetski. Dort sei Platz für das Publikum und das Ensemble. Er führt
durch Gänge im Kellergeschoss, die mit Bürostühlen und Holzbänken
ausstaffiert sind. Es gebe Wasserspender und eine Lüftungsanlage. Die
Chorprobe auf der großen Bühne beginnt mit einem ukrainischen Volkslied,
das gerade wieder recht populär ist. Im Refrain wird jeweils zweimal „hey!“
ausgerufen. Das hätte Igor gern ein bisschen kraftvoller. Er ist noch nicht
ganz zufrieden.
Anderthalb Stunden später öffnen sich die Türen für das Publikum. Der
Beginn ist jeweils am Nachmittag, damit Besucher:innen und Ensemble
nach der Aufführung rechtzeitig vor der Ausgangssperre wieder nach Hause
kommen. Alle müssen durch Sicherheitsschleusen und den Inhalt ihrer Taschen
zeigen.
Zu den ersten, die vor dem Eingang warten, zählen Mary und Ruslan. Sie ist
aus Odessa, er aus dem von Russland besetzten Luhansk. Beide waren schon
mal im Opernhaus, aber das sei lange her. Sie sei Tänzerin, deshalb wolle
sie unbedingt das Ballett sehen, erzählt die 21-Jährige. Es sei toll, dass
das endlich wieder möglich ist. Ruslan meint, dass Kultur trotz des Krieges
aufrechterhalten werden müsse. „Das ist eine Gelegenheit für uns, mal zwei
Stunden an etwas ganz anderes zu denken“, sagt er. Das halte man sonst
nicht aus.
Nach dem Luftalarm wird die Aufführung fortgesetzt. Das sei immer so, es
sei denn, der Alarm dauere länger als eine Stunde, heißt es. Dann könne man
mit dem Ticket später zu einer anderen Aufführung kommen. Besonders viel
Applaus gibt es am Ende der Paquita.
Oxana strahlt übers ganze Gesicht. Marina lächelt zufrieden. Sie sei jetzt
glücklicher als vorher, sagt sie. Am Sonntag steht im Opernhaus wieder
Ballett auf dem Programm. „Giselle“ nach Musik von Adolphe Adam. Das wollen
sie sich nicht entgehen lassen, sagen sie. Schon gar nicht wegen Putin.
27 Jun 2022
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## AUTOREN
Marco Zschieck
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