| # taz.de -- Russischer Dokumentarfilmer: „Bereit, auf Jazz zu verzichten“ | |
| > Witali Manski ist eine Stimme aus dem Exil, die auf die Missstände in der | |
| > russischen Gesellschaft und die Macht des Putinschen Medienapparates | |
| > hinweist. | |
| Bild: Witali Manski, russischer Filmemacher, seit 2014 in Lettland | |
| taz: Herr Manski, Sie leben bereits seit 2014 in Lettland. Wie blicken Sie | |
| auf den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine? | |
| Witali Manski: Eines mal vorweg: Ich lebe seit 2014 hier, weil der Krieg | |
| für mich schon 2014 begonnen hat. Viele haben mich damals nicht verstanden, | |
| als ich gesagt habe, der Krieg, den wir jetzt haben, sei unausweichlich. | |
| Selbst meine liberalen Kolleg*innen in Russland haben mir vorgeworfen, | |
| ich würde emotional überreagieren. | |
| Viele von ihnen sind jetzt übrigens auch emigriert. Bis dahin haben sie | |
| erfolgreich Filme, Serien oder sonst irgendetwas für die russische | |
| Fernsehindustrie gemacht. Aber auch viele Lett*innen konnten damals nicht | |
| nachvollziehen, warum ich Russland verlassen habe. Sie fragten, warum ich | |
| in dieses kleine langweilige Lettland gekommen sei. | |
| Der Kriegsausbruch am 24. Februar hat Sie also nicht wirklich überrascht? | |
| Überrascht hat mich die Form. Auch wenn es zynisch klingt: Ich dachte, ein | |
| derartiger Krieg alter Schule mit Panzerangriffen und Bombardierungen sei | |
| im 21. Jahrhundert nicht mehr möglich. So ein primitiver Krieg, wie wir ihn | |
| aus Geschichtsbüchern über die Ereignisse der letzten Jahrhunderte kennen. | |
| Putin nennt ja als Grund die Befreiung der Ukraine vom Faschismus … | |
| Man stelle sich vor, Putin hätte diesen Krieg mit dem Argument | |
| gerechtfertigt, Russland wolle seine Einflusszone in Europa ausdehnen. | |
| Hätte die russische Gesellschaft diese Pille geschluckt? Keinesfalls. Damit | |
| das passiert, musste diese Pille möglichst süß sein. Was ist für die | |
| russische Gesellschaft das Schrecklichste? Der Faschismus. Und was ist das | |
| Größte? Der Sieg über den Faschismus. Putin benutzt diese beiden Marken, um | |
| seine wahren Ziele durchzusetzen. Er bemäntelt sie mit diesen | |
| Kleidungsstücken. Das ist absolut zynisch, doch einen anderen Ausweg hat er | |
| nicht. | |
| Es werden ja immer gerne Zahlen [1][russischer Umfrageinstitute] bemüht, | |
| wonach angeblich 80 Prozent der Bevölkerung den Krieg unterstützen. Ist das | |
| nicht zu unterkomplex? | |
| Meine Sichtweise ist so populär wie banal: Die Gesellschaft ist | |
| hypnotisiert. Der Einzelne ist nicht in der Lage, seine wirklichen | |
| Vorstellungen und Ansichten auszudrücken. Um ein reales Bild zu bekommen, | |
| muss die Gesellschaft aufgeweckt werden. Das heißt jedoch nicht, dass sie | |
| dann besser wird und alle verstehen, dass der Krieg etwas Schlechtes und | |
| Wladimir Putin ein Diktator ist. | |
| Im Gegenteil. Es könnten Ansichten zum Vorschein kommen, die noch | |
| schrecklicher sind als das, was die Welt jetzt sieht. Doch dass die | |
| Menschen nicht das aussprechen, was ihrem Wesen entspricht, ist | |
| offensichtlich. Denn ihre Vorstellungen vom Leben fallen mit der | |
| propagandistischen Rhetorik des Kreml zusammen. Die Menschen formulieren | |
| ihre Gedanken mit Zitaten aus dem Fernsehen. | |
| Wie könnte die Gesellschaft aufgeweckt werden? | |
| Wir haben es hier mit einer Art Drogensucht zu tun, der Abhängigkeit von | |
| bestimmten Präparaten. Dagegen gibt es in der Medizin bestimmte Rezepte, | |
| wie den knallharten Entzug. In diesen Kontext übersetzt heißt das: die | |
| Leute von der ständigen Propaganda abschneiden. | |
| Was heißt das genau? | |
| Nehmen wir Lettland: Ein Großteil der Anhänger*innen des Kremls findet | |
| sich unter der russischsprachigen Bevölkerung. Eine Erklärung dafür ist, | |
| dass russische Fernsehkanäle hier sehr populär waren. Ihnen gegenüber waren | |
| die lettischen Programme keine Konkurrenz. Der Staat hat die russischen | |
| Kanäle abschalten lassen; wer sich darüber hinwegsetzt und sie trotzdem | |
| guckt, riskiert Strafen. | |
| Aber das ist doch Zensur! | |
| Natürlich ist es das. Und in einer liberalen demokratischen Gesellschaft | |
| ist so etwas eine unzulässige Maßnahme. Doch jetzt herrscht Krieg, und da | |
| befindet sich auch eine liberale Gesellschaft in einer Art Kriegszustand. | |
| Vor Kurzem habe ich mir in Russland eine spezielle Software besorgen lassen | |
| – [2][Yandex Alisa], einen russischen Sprachassistenten. Als ich das Ding | |
| installieren wollte, funktionierte es nicht. | |
| Stattdessen kam eine telefonische Ansage: Diese russische Suchmaschine | |
| erlaubt es, auf Seiten mit propagandistischen Informationen zu gelangen. | |
| Daher ist sie auf dem Territorium Lettlands verboten. Einerseits war ich | |
| enttäuscht. Doch andererseits: Wenn ich mir vorstelle, dass ich Jazz höre, | |
| aber neben mir zehn Leute sitzen und russische Propaganda konsumieren, bin | |
| ich gerne bereit, auf Jazz zu verzichten. | |
| In Lettland gibt es von jeher eine große russische Minderheit. Wie ist das | |
| Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Gruppen? | |
| Ich beobachte, dass ein Prozess der Normalisierung stattgefunden hat. | |
| Allein diese Aussage bedeutet, dass diese beiden Teile der Gesellschaft | |
| nicht immer miteinander verbunden waren. Doch jetzt haben sie sich einander | |
| angenähert. Parteien wie Soglasie, die sich als Vertretung der Interessen | |
| der russischsprachigen Bevölkerung begriffen haben, verlieren an Zustimmung | |
| und Einfluss. Der Krieg hat die Situation jedoch in Bewegung gebracht. Das | |
| ist wie eine Art Rückwärtsrolle. Nationalistische Interessen gewinnen in | |
| Lettland wieder an Bedeutung. Das zeigt sich an einigen Vorschlägen für | |
| neue Gesetze. | |
| Zum Beispiel? | |
| Früher war es möglich für jemanden, der in Lettland investieren oder dort | |
| in einer Firma arbeiten wollte, einen befristeten Aufenthaltstitel zu | |
| bekommen. Kurz nach dem Beginn des Krieges hat das Parlament ein Gesetz | |
| verabschiedet, dass das für russische Staatsbürger*innen jetzt nicht | |
| mehr gilt. Diese Norm ist mehr als zweifelhaft. | |
| Wie sieht es auf der Ebene des alltäglichen Zusammenlebens aus? | |
| Einige reagieren scharf auf russische Autokennzeichen. Nach dem 24. Februar | |
| fuhren hier fast alle Fahrzeuge, die russische Nummernschilder haben, mit | |
| ukrainischen Flaggen herum. Das diente allerdings nicht nur dazu, | |
| Unterstützung für die Ukraine auszudrücken. Es geschah auch aus Angst, das | |
| Auto könnte beschädigt werden. | |
| In Deutschland wird diskutiert, ob auch Kontakte zu russischen | |
| Künstler*innen abgebrochen werden sollten. | |
| In Zeiten des Krieges sollten die zwischenstaatlichen Beziehungen | |
| abgebrochen werden, das gilt auch für den Bereich der Kultur. Das heißt: | |
| Keine Nachsicht mit Kulturschaffenden, die mit staatlichen Strukturen wie | |
| zum Beispiel Stiftungen verbunden sind. Doch mit der gleichen | |
| Entschlossenheit müssen diejenigen unterstützt werden, die die Kraft | |
| aufbringen, sich dem Staat, seiner Aggression und seinem antidemokratischen | |
| Vorgehen entgegenzustellen. Das ist leider eine deutliche Minderheit. | |
| Haben Sie noch viele Beziehungen zu ukrainischen Künstler*innen? Wenn ja, | |
| wie wirkt sich der Krieg darauf aus? | |
| Ich habe im Prinzip immer noch gute und vertrauensvolle Beziehungen. Ich | |
| bin in Lwiw geboren und habe lange vor dem Ausbruch des Krieges meine | |
| Position klar gemacht. Ich habe in der Ukraine gearbeitet und bin immer | |
| noch Mitglied der ukrainischen Filmakademie. Ukrainische | |
| Filmemacher*innen schicken mir ihr Material und bitten um Rat. Aber es | |
| ist schwieriger geworden. | |
| Könnte der Krieg für Sie Thema für einen neuen Film sein? | |
| Für mich als Dokumentarfilmer ist das sehr kompliziert. Ich spüre, wie ich | |
| einen solchen Film machen müsste. Doch das müsste in Russland passieren. | |
| Dorthin zu fahren ist jetzt jedoch unmöglich. | |
| Wollen Sie irgendwann nach Russland zurück? | |
| Ich werde wohl in Lettland bleiben, denn ich sehe für mich in Russland auf | |
| absehbare Zeit keine Perspektive. Sollte sich das ändern, würde ich mich | |
| gerne für Russland nützlich machen. Doch ich fürchte, der Krieg wird noch | |
| lange dauern. | |
| Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat sich seit Kriegsbeginn | |
| nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Ausland viel Respekt verschafft. | |
| Wie nehmen Sie ihn wahr? | |
| Für jemandem auf einem so wichtigen Posten zu stimmen, weil man ihn | |
| sympathisch findet, ist nicht die beste Methode, um wichtige Fragen | |
| anzugehen. Man kann seine Probleme nicht lösen, indem man ein Lotterielos | |
| kauft. Selbst, wenn man gewinnt, so wie das bei Selenski der Fall war, | |
| heißt das nicht, dass es das nächste Mal wieder so laufen muss. | |
| Die Wahl Selenskis zeigt, dass es mit der politischen Kultur in der Ukraine | |
| nicht weit her ist. Jetzt füllt er aber seine Rolle sehr professionell und | |
| mit Würde aus. Er hat ein mediales Umfeld geschaffen, das dabei hilft, die | |
| Gesellschaft zu konsolidieren. Er trifft mit seinen Ansprachen den | |
| richtigen Ton. | |
| Was bedeutet diese Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft | |
| perspektivisch? | |
| Patriotismus und nationales Selbstbewusstsein sind gewachsen. Letzteres ist | |
| mit nationalistischen Ausrichtungen verbunden, das ist ein untrennbarer | |
| Teil davon. Wenn wir jetzt von Perspektiven sprechen, ist eines wichtig: | |
| dass die ukrainische Gesellschaft im Moment des Sieges nicht in einen | |
| nationalistischen Rausch verfällt, sondern zivilisiert und tolerant | |
| auftritt. Denn viele, die jetzt die Ukraine mit der Waffe verteidigen, sind | |
| russischsprachige Ukrainer*innen. | |
| Sie glauben also an einen Sieg der Ukraine? | |
| Eine andere Entwicklung kann ich mir nicht vorstellen. Ein Sieg bedeutet | |
| eine Niederlage von Putins Armee. Diese geschlagene Armee muss nach | |
| Russland zurückkehren und der Staatsmacht Fragen stellen. Als Ergebnis | |
| dieses Plebiszits muss sich das Land verändern. Sollte das nicht der Fall | |
| sein, wird Russland eine Bedrohung für die Welt bleiben. | |
| 29 Jul 2022 | |
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| [1] https://www.heise.de/tp/features/Steigt-in-Russland-die-Kriegsbegeisterung-… | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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