# taz.de -- Ukrainische Filme über den Krieg: Zwischen Hoffnung und Trauer | |
> Die Dokus „When Lightning Flashes Over the Sea“ und „Time to the Target… | |
> laufen auf der Berlinale. Sie bringen Vorhangfetzen in einem zerbombten | |
> Hochhaus zum Tanzen. | |
Bild: Szene aus „When Lighting Flashes Over the Sea“ von Eva Neymann | |
Bei Wikipedia wird „Witali Wsewolodowitsch Manski“ als russischer | |
Dokumentarfilmregisseur geführt. Das stimmt insofern, als er – noch zu | |
Sowjetzeiten – am Moskauer Gerassimow-Institut für Kinematographie | |
studierte. [1][Geboren wurde Vitaly Mansky] (so schreibt die | |
Forums-Webseite seinen Namen) 1963 aber im westukrainischen Lwiw, einer | |
Stadt, die er an dieser Stelle „meine Heimat und meine Kraftquelle“ nennt. | |
Dass dort zumindest bis Kriegsbeginn noch ein großer Teil seiner Familie | |
lebte, thematisierte Mansky 2016 in seinem Film „Familienbande“ (Rodnye). | |
Wie viele andere Flüchtlinge aus dem Putin-Russland lebt der altgediente | |
Dokumentarfilmer seit dem Überfall auf die Krim in Riga. | |
Doch seitdem das Land im „dramatischsten Moment seiner modernen Geschichte | |
[…] einem kriminellen, umfassenden Krieg gegen die Existenz der Ukraine und | |
ihres Volkes“ ausgesetzt ist, „ging Mansky auch wegen dieses Angriffs | |
wiederholt in die alte Heimat zurück“. Um die Gefühle zu sortieren. Und für | |
einen Film, der die Stadt in klassischer Manier im Kreislauf eines Jahres | |
zeigt, das hier in sommerlichem Flirren beginnt. | |
## Quirliger Alltag | |
Lwiw (in Zeiten deutschsprachiger Herrschaft auch Lemberg) ist eine alte | |
Stadt mit erhaltenem historischem Zentrum, die tausend Kilometer entfernt | |
von den Frontlinien liegt. Doch auch wenn die Menschen der Stadt am | |
quirligen Alltag um Straßencafés, Plätze und Straßenbahnen festhalten, ist | |
der Krieg dennoch in jedem Moment präsent. | |
Und die Männer des Militärorchesters, das einen der roten Fäden durch den | |
Film legt, proben zwar noch einmal im Theater pfeffrige Rhythmen. Doch bei | |
ihren Auftritten schreiten sie zu getragenen Trauermärschen und immer auch | |
der mit großem Pathos intonierten Nationalhymne. Oft bei | |
Beerdigungsprozessionen hinter dem Sarg über den Friedhof, zu dem sie in | |
einem ausrangierten Linienbus anreisen. | |
Dieser Friedhof (der zweite durchgehende Faden) ist zu Beginn des Films nur | |
eine kleine Freifläche mit Bagger, erweitert sich aber durch dessen Zutun – | |
und unter obrigkeitskritisch bissigen Kommentaren der Totengräber – | |
zusehends massiv: Ein anschwellendes Meer an Blumen, patriotischen Flaggen | |
(dabei sind neben den blau-gelben der Ukraine auch häufig die rot-schwarzen | |
der nationalistischen UPA zu sehen) und Grabsteinen, auf die nach | |
orthodoxer Tradition Fotos der Verstorbenen gesetzt sind. | |
## Ausdruckslose Gesichter | |
Neben diesen Erinnerungsbildern an jene, die als Leichen von der Front | |
zurückkamen, und Auftritten der „Musiksoldaten“ und versehrter Veteranen | |
kommen in Manskys Film die ausdruckslosen Gesichter der jungen Menschen, | |
die vor ihrer Einziehung stehen und von der Kamera von Roman Petrusyak, dem | |
Director of Photography, in unbewegten Einstellungen festgehalten werden. | |
Nur als einmal auf dem Friedhof ein Flugkörper vernehmlich direkt über dem | |
Drehort hinwegzischt, bewegt sich die Kamera auf der (vergeblichen) Suche | |
nach dem Objekt. Doch auch hier verweigert Manskys Film sich jedem | |
journalistischen Ansinnen. | |
Angriffe gibt es auch in Odessa am anderen Ende der Ukraine, einer Stadt, | |
[2][die Eva Neymann] als ihre Heimat bezeichnet, auch wenn sie 1974 in | |
Saporischschja geboren wurde. Seit Studien in Marburg und Berlin lebt | |
Neymann in Deutschland, ging aber wie Mansky schon mehrfach für | |
Filmprojekte nach Odessa zurück. 2006 hatte sie mit „Wege Gottes“ einen | |
Dokumentarfilm mit Straßenkindern gedreht, der vollkommen auf | |
Mitleidsgesten verzichtet. | |
## Träume als Kapitän | |
Nun führt wieder ein Kind durch den Film, ein ebenso übermütiger wie | |
zurückhaltender, vielleicht zehn Jahre alter Junge, der ohne Begleitung | |
beim Streunen durch die Hafenstadt von einer Zukunft als Kapitän träumt und | |
im Gespräch mit einigen schwarzhumorigen alten Männern erklärt, wie er ein | |
schwer zerbombtes Auto wieder zum Glanz bringen würde. | |
Träume sind auch sonst Neymanns Stichwort. Dabei geht es bald zu anderen | |
Menschen oft in fortgeschrittenem Alter wie einem vollbärtigen Mönch, der | |
sehr freigiebig mit seiner kleinen Habe umgeht. Eine alte Dame wechselt ins | |
Jiddische, als sie Gott für die Rettung vor den Nachstellungen der | |
Verfolger dankt. | |
Eine jüngere erzählt in einer zentralen Totale beim Kochen von der eigenen | |
Flucht und ihrem Sohn, der an der Front kämpft. Und wenn eine | |
Blumenverkäuferin am Straßenrand mit aller Ruhe in ihren Schätzen nach der | |
einen richtigen Blume für den gerade gebastelten Strauß sucht, verstehen | |
wir, was es eigentlich für ein gelingendes Leben braucht. | |
## Ikonen im Keller | |
Mal ist der Takt des Films und auch die (insgesamt sehr variantenreiche) | |
Musik gewichtig schwer, wenn eine Ikone unter Mönchsgesängen in einer | |
Prozession zur Sicherheit in den Keller getragen wird. Dann sind die | |
Rhythmen verspielt tänzerisch wie ein Katzenballett in dem auch sonst | |
tierreichen Film. | |
Neymann gelingt die Kunst, selbst Vorhangfetzen in einem zerbombten | |
Hochhaus zum Tanzen zu bringen. Doch wenn eine Wahrsagerin zu Sitarklängen | |
verspricht, im Frühjahr würden Verhandlungen für das Ende des Krieges | |
beginnen, zeigt uns das, wie nahe Hoffnung und bitterer Trugschluss | |
zusammenliegen können. | |
Das letzte Wort hat der Junge vom Anfang, der auf einer Bank am Meer seinem | |
Vater gerade seinen größten Traum ins Ohr geflüstert hat: „Wenn Nebel und | |
Schnee verschwinden und Blitze über das Meer gehen“ werde dieser auch wahr | |
werden, heißt es dann. Und es fängt wirklich zu Gewittern an in der Stadt. | |
20 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Russischer-Dokumentarfilmer/!5867550 | |
[2] /First-Steps-Award/!5195837 | |
## AUTOREN | |
Silvia Hallensleben | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Dokumentarfilm | |
wochentaz | |
Theater | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Russland | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Erwiderung auf FAZ-Autor Egon Flaig: Auch im Krieg braucht es Lebensfreude | |
In der FAZ wird von den Ukrainer*innen mehr Opferbereitschaft gefordert. | |
Dabei reagieren sie genau richtig auf die Situation. Eindrücke aus Kyjiw. | |
„Bülowstraße“ im Grips-Theater Berlin: Das Leben ist ein U-Bahnhof | |
Das Grips schickt drei FreundInnen um die „Bülowstraße“ auf Selbstsuche. | |
Als Textgrundlage diente Autor Juri Sternburg das gleichnamige Album von | |
LEA. | |
„Little Boy“ von James Benning: Die Modellbauten und die Atombombe | |
Der Regisseur James Benning verknüpft in seinem Film „Little Boy“ kindliche | |
Bildwelt und Politik. Fragen von Macht und Krieg werden so umkreist. | |
Dokumentarfilm zum Aufwachsen im Krieg: Trump, Putin und die Kinder der Ukraine | |
Der Berlinale-Film „Timestamp“ (Wettbewerb) dokumentiert den | |
Widerstandswillen der Ukraine. Es regnet russische Bomben, doch der | |
Unterricht geht weiter. | |
Deutsch-russische Beziehungen: Austausch mit Russland? Ist nicht mehr! | |
Spätestens mit Putins Invasion in der Ukraine liegen auch | |
Austauschprogramme mit Russland auf Eis. | |
Regisseurin über „My Undesirable Friend“: „Es wird immer Menschen geben,… | |
Julia Loktev begleitete für eine Dokumentation unabhängige Journalistinnen | |
in Russland. Nach dem Angriff auf die Ukraine mussten ihre Protagonistinnen | |
das Land verlassen. | |
Berlinale Forum: Rückblicke auf vergangene Katastrophen | |
Mehrere Dokumentarfilme im Programm des Forums untersuchen die | |
Konfliktzonen und Kämpfe früherer Jahrzehnte – und leuchten die | |
Erinnerungen daran aus. | |
Dokumentarfilm „Shidniy front“: Soldaten wider Willen | |
Der Ukraine-Krieg als Dokumentation: Der Film „Shidniy front“ von Vitaly | |
Mansky und Yevhen Titarenko begleitet ein Sanitätsbataillon in der Ukraine. | |
Russischer Dokumentarfilmer: „Bereit, auf Jazz zu verzichten“ | |
Witali Manski ist eine Stimme aus dem Exil, die auf die Missstände in der | |
russischen Gesellschaft und die Macht des Putinschen Medienapparates | |
hinweist. |