# taz.de -- Regisseurin über „My Undesirable Friend“: „Es wird immer Men… | |
> Julia Loktev begleitete für eine Dokumentation unabhängige | |
> Journalistinnen in Russland. Nach dem Angriff auf die Ukraine mussten | |
> ihre Protagonistinnen das Land verlassen. | |
Bild: Regisseurin Julia Loktev | |
taz: Frau Loktev, Sie haben kurz vor Beginn des Ukrainekriegs angefangen, | |
Doschd, einen unabhängigen TV-Sender in Russland, mit der Kamera bei der | |
Arbeit zu begleiten. Die Journalist:innen mussten stets damit rechnen, | |
verhaftet zu werden. Wie gefährlich war das Ganze für Sie als | |
US-amerikanische Filmemacherin? | |
Julia Loktev: Also Brittney Griner wurde ungefähr zu der Zeit verhaftet, | |
als ich da war, aber ich dachte mir – ich bin ja keine berühmte | |
Basketballspielerin. Die US-Botschaft hat alle Amerikaner:innen | |
aufgefordert, Russland zu verlassen, ja. Aber ich wollte so lange bleiben, | |
wie meine Protagonist:innen bleiben. Die Risiken, die ich eingegangen | |
bin, sind vernachlässigbar im Vergleich zu den Risiken, die sie jeden Tag | |
bei ihrer Arbeit eingegangen sind, und sicherlich vernachlässigbar im | |
Vergleich zu dem Risiko, damals und jetzt in der Ukraine zu leben. Ich habe | |
Russland am 2. März 2022 verlassen, eine Woche nach Ausbruch des Krieges, | |
denn zu diesem Zeitpunkt war keine einzige Person mehr in Russland, die ich | |
filmen konnte. | |
taz: Als Sie anfingen zu drehen, wussten Sie da schon, dass die | |
Journalist:innen nur noch eine gewisse Zeit in Russland würden arbeiten | |
können? | |
Loktev: Ich habe mit den Dreharbeiten begonnen, als die russische Regierung | |
im Sommer 2021 anfing, Journalist:innen als ausländische Agent:innen | |
zu bezeichnen. Damals ahnte niemand, dass Russland wirklich einen [1][Krieg | |
in der Ukraine] anzetteln würde. Natürlich gab es seit 2014 den Krieg in | |
der Ostukraine und auf der Krim, aber niemand rechnete mit einer | |
„full-scale-invasion“. Alle erwarteten, dass etwas passieren würde – aber | |
eher, dass das Monster sie fressen und nicht in das Nachbarland | |
einmarschieren würde. | |
taz: Die Menschenrechtslage in Russland war nicht immer so schlecht wie in | |
den letzten Jahren. | |
Loktev: Nein. Im Film zeigt die Journalistin Sonya Groysman alte | |
Zeitschriftencover aus der Zeit, als sie 15 Jahre alt war und in Russland | |
regelmäßig protestiert wurde. Damals konnten Zeitschriften Texte drucken | |
über [2][die Rechte von Homosexuellen.] All das änderte sich 2011, 2012, | |
als Putin wieder an die Macht kam. Ich habe angefangen, einen Film über | |
unabhängige Journalist:innen in Russland zu machen. Daraus wurde ein | |
anderer Film, als Russland die Ukraine angriff. Worum es in dem Film geht, | |
hat sich wiederum im letzten Monat für mich als US-Amerikanerin verändert. | |
Ich muss ständig über die Parallelen zu den USA nachdenken. Wir bewegen uns | |
unglaublich schnell in Richtung Autoritarismus. | |
taz: Die Geschehnisse lassen sich vergleichen? | |
Loktev: Für mich ist das kein Film, der nur von Russland handelt. Bei mir | |
zu Hause in New York habe ich zu Testvorführungen eingeladen. | |
Freund:innen aus dem Iran, aus Tunesien waren da, Freund:innen, die unter | |
der Diktatur in Argentinien aufgewachsen sind, die sagten: Das ist unsere | |
Geschichte. Sie hatten noch nie einen Film gesehen, der so deutlich | |
vermittelte, wie es ist, in einer autoritären Gesellschaft zu leben und zu | |
versuchen, in der Opposition zu sein. Auch das wird für mich als | |
US-Amerikanerin immer wichtiger. | |
taz: Haben die Doschd-Journalist:innen Ihnen sofort vertraut? | |
Loktev: Ja. Sie waren von Anfang an sehr offen, vielleicht, weil sie alle | |
selbst Geschichtenerzähler und Journalisten sind. Es spielt sicher auch | |
eine Rolle, dass ich ursprünglich aus Russland komme. Russisch ist meine | |
Muttersprache, aber ich bin in die USA gezogen, als ich neun Jahre alt war, | |
und spreche Russisch daher ein bisschen wie ein Kind. Vielleicht bin ich | |
deshalb weniger einschüchternd. Außer Anya Nemzer, die ich schon lange | |
kenne, lernt man praktisch alle Figuren als Zuschauer:in ungefähr zur | |
gleichen Zeit kennen wie ich. Ich trete mit der Kamera in ihre Wohnung und | |
dann geht es einfach los. | |
taz: Warum sind Ihre Protagonistinnen alle Frauen? | |
Loktev: Ich habe auch einige Männer gefilmt, aber die Geschichten, die gut | |
funktionierten, waren zufällig alle die, in denen Frauen im Mittelpunkt | |
standen. Außerdem gibt es im russischen Journalismus einen unglaublich | |
hohen Anteil an Frauen. Wenn man sich im Studio von Doschd umschaut, liegt | |
ihr Anteil dort bei 80 Prozent. | |
taz: Wie geht es ihnen jetzt? | |
Loktev: Alle sind im Exil. Ich habe direkt weiter gefilmt, zwei Tage | |
später, als viele von ihnen in Istanbul ankamen [3][und keine Ahnung | |
hatten, wie ihr Leben weitergehen sollte.] Diesen zweiten Teil des Films | |
bearbeite ich gerade. In den letzten drei Jahren sind die meisten von ihnen | |
viele Male umgezogen. Und keine von ihnen hat in ihrem neuen Leben wirklich | |
ein Gefühl von Stabilität. Sie alle sind weiter journalistisch für Russland | |
tätig, versuchen, den Menschen dort die Wahrheit zu vermitteln, arbeiten | |
für ein Land, von dem sie nicht wissen, wann oder ob sie jemals | |
zurückkehren können. Das finde ich herzzerreißend und unglaublich mutig. | |
taz: Keine der Journalistinnen hat Russland seitdem wieder betreten, | |
nehme ich an? | |
Loktev: Die meisten würden verhaftet werden, wenn sie zurückkehrten. Gegen | |
sie laufen Strafverfahren. Tatsächlich war die einzige meiner | |
Protagonistinnen, die zurückkehrte, Ksenia Mironova, um die Verurteilung | |
ihres Verlobten mitanzusehen, eines Journalisten, der wegen „Hochverrats“ | |
zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie kehrte für ein paar Tage nach | |
Russland zurück, einfach weil das ihre letzte Chance war, ihn zu sehen. | |
taz: Die Protagonistinnen in Ihrem Film sind alle recht jung und hatten | |
einmal davon geträumt, als Journalistinnen die Übel der Welt aufzudecken. | |
Wollen heute noch Menschen in Russland journalistisch tätig werden? | |
Loktev: Ich bin sicher, dass es immer noch Menschen gibt, die träumen, und | |
ich bin auch sicher, dass es eine junge Generation gibt, die einen Weg | |
finden wird. Der Wunsch der Menschen, die Wahrheit herauszufinden und nicht | |
in dieser verrückten orwellschen Lüge zu leben, wird immer da sein. Es wird | |
immer Menschen geben, die Nein sagen. Die klar sagen wollen, schwarz ist | |
schwarz und weiß ist weiß. | |
taz: Ihr Film zeigt die Entwicklungen wie in Echtzeit, er ist fast sechs | |
Stunden lang geworden. | |
Loktev: Nun ja, mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ist während der | |
Dreharbeiten etwas nicht Unerhebliches passiert. Ursprünglich wollte ich | |
einen Film über Journalisten machen, die zu ausländischen Agent:innen | |
erklärt werden, was ich schon an sich für interessant hielt. Wenn eine | |
Gesellschaft anfängt, Menschen aus ihrer eigenen Gesellschaft zu markieren, | |
dann fallen einem automatisch historische Fälle ein, in denen Menschen sich | |
selbst als „other“ kennzeichnen mussten. Da die Doschd-Journalist:innen zu | |
ausländischen Agent:innen erklärt wurden, mussten sie das auf jedem ihrer | |
Texte, auf jedem Social-Media-Post vermerken. Sie mussten der Regierung | |
ihre persönlichen Finanzen offenlegen. Das war es, worum es in dem Film | |
ging: eine Gesellschaft, die Menschen „othert“, also zu „anderen“ erkl�… | |
Und noch Anfang Februar 2022 dachte ich: Vielleicht wird das ein Film über | |
Menschen, die herausfinden wollen, mit wie viel Repression sie leben | |
können. | |
taz: Es gibt eine Stelle im Film, über die ich länger nachdenken musste. Da | |
sagt die Journalistin Anya Nemzer, dass Ressentiments wie | |
Fremdenfeindlichkeit und Homophobie keine Dinge seien, die Menschen einfach | |
so empfänden, sondern dass sie nach demTop-down-Prinzip implementiert | |
würden, die Menschen diese Ressentiments dann aber bereitwillig übernähmen. | |
Glauben Sie, dass das stimmt? | |
Loktev: Ich möchte gern glauben, dass es stimmt. Es gibt eine Szene, die | |
ich aus dem Film geschnitten habe, über die ich wiederum immer wieder | |
nachdenke. Anya erzählt, wie 2014 eine Reihe von Professor:innen und | |
Theaterregisseur:innen einen Brief zur Unterstützung der Invasion der | |
Krim unterschrieben haben. Anständige Leute eigentlich. Und sie begründeten | |
den Schritt damit, dass sie ein Theater oder eine Institution zu schützen | |
hätten. Darüber denke ich aktuell als Amerikanerin oft nach, da sich in den | |
USA immer mehr Unternehmen und Organisationen, einschließlich der Medien, | |
anstellen und im – wie [4][Timothy Snyder] es nennt – „vorauseilenden | |
Gehorsam“ in die Knie gehen. Alle finden natürlich Ausreden, sie versuchten | |
bloß ihr Unternehmen oder ihre Organisation zu retten. Es wird nicht gut | |
für sie ausgehen. | |
20 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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