# taz.de -- „Bedrock“ von Kinga Michalska: Belasteter Boden | |
> Der Film „Bedrock“ von Kinga Michalska spürt den Menschen nach, die auf | |
> den Ruinen von KZs in Polen leben. Über Orte, auf denen die Geschichte | |
> lastet. | |
Bild: Geschichte und Gegenwart durchdringen sich in diesem Film. Szene aus „B… | |
In Berlin ist man gewohnt, mit der Geschichte zu leben. Gar nicht so selten | |
findet man sich in Wohnungen wieder, deren Panoramafenster einen Blick auf | |
den ehemaligen Todesstreifen offenbaren, oder klingelt an Türen, wo der | |
Reichsadler an der Hauswand statt eines Hakenkreuzes eine Hausnummer | |
festhält. | |
Wie es sich auf historisch belastetem Boden lebt, davon handelt auch der | |
Dokumentarfilm „Bedrock“. Die Filmemacherin Kinga Michalska reist dafür an | |
Orte, die wirklich schwer an der Geschichte tragen: die Schauplätze | |
ehemaliger KZs in Polen. | |
Die Nationalsozialisten brachten den Großteil der europäischen Juden auf | |
polnischem Boden um. Dass im [1][KZ Rosen] einst etwa 40.000 Menschen | |
starben, daran erinnert heute jedoch wenig. In den von den Nazis | |
errichteten Gebäuden, hier, in dieser südwestlichsten Ecke Polens, sind | |
Wohnungen untergebracht. Ein kleines Mädchen streift durch die Wiesen, mit | |
einer Freundin telefonierend. | |
Es spielt sich ein kleines Drama ab, denn die Freundin darf nicht raus. | |
Warum nicht, erfährt man, als sich die beiden Mädchen gegenüberstehen, von | |
einer Fensterscheibe getrennt. Das eingesperrte Mädchen lebt in einer | |
psychiatrischen Anstalt, die sich unfassbarerweise im KZ-Außenlager | |
befindet. Ruinen der Vergangenheit, Ruinen der Zukunft: Unweit des | |
einstigen Lagers Großrosen erstrecken sich tote Landschaften. Hier wird | |
großflächig Kohle abgebaut. | |
Wenn Stätten des rituellen Massenmordes zur bloßen Kulisse des Alltags | |
verkommen, dann ist es womöglich besser, sie verschwinden ganz. Ruhe | |
garantiert das den Toten allerdings nicht. Denn auf dem Gelände des | |
Zwangsarbeiterlagers Starachowice soll eine Autobahn gebaut werden. | |
Umsichtig erklärt der beruflich mit derlei Angelegenheiten befasste Filip | |
Szczepánski einem Baggerfahrer, er solle beim Schaufeln auf Knochen | |
achten; hier lägen nämlich 3.000 Menschen begraben. | |
## Nachkommen der Überlebenden | |
Es ist auch dieser sympathische, bärenhaft große Mann, der dem Film einen | |
leichteren Anstrich gibt, scheint er doch, obwohl sichtlich getrieben, in | |
sich zu ruhen. Unermüdlich reist er durchs Land, spürt Überreste ermordeter | |
Juden:Jüdinnen auf und stellt sicher, dass die Knochen begraben werden. | |
Szczepánski weiß, dass die Schoah auch Generationen später in den | |
Nachkommen der Überlebenden nachhallt. „Einmal wirst du auch hier sitzen | |
und zum Holocaust forschen“, scherzt er mit seiner Tochter, die noch nicht | |
alt genug ist, um sich an seinem Bürostuhl hochzuziehen. | |
Dass so einigen Pol:innen nicht besonders viel daran liegt, die | |
NS-Geschichte aufzuarbeiten, macht der Film auch deutlich. Eindrücklich ist | |
das Gespräch, das Michalska wie immer kommentarlos einfängt und das um | |
polnische Kooperation bei dem Massenmord an den Juden:Jüdinnen kreist. | |
Gefilmt wurde das Gespräch ausgerechnet in Jedwabane, dem Ort, an dem bei | |
einem Pogrom 1941 1.600 jüdische Menschen ermordet wurden – und das fast | |
vergessen war. Jedenfalls bis der Historiker [2][Jan Tomasz Gross] 2001 die | |
Ereignisse in seinem Buch „Nachbarn“ aufarbeitete und damit eine | |
landesweite Debatte über Antisemitismus in Polen anstieß. | |
## Gleichzeitigkeit von Geschichten | |
Wirklich genug von der Geschichte haben die [3][Bewohner:innen von | |
Auschwitz.] An einer Stelle hört man ein Paar im Auto über Jugendliche | |
schimpfen, die, wenn sie über die Straße gehen, „alle nicht gucken“. Dabei | |
sind natürlich sie es, die niemals gucken, und auch die Kamera zeigt es | |
erst spät, das größte deutsche Vernichtungslager auf der anderen | |
Straßenseite. Indes hat der örtliche Fußballklub das Derby gewonnen. | |
„Letzte Station Auschwitz-Birkenau“, grölt man fröhlich auf dem Rasen, | |
„hier werdet ihr entsorgt.“ | |
Es ist diese Gleichzeitigkeit von Geschichte, von Geschichten, die | |
„Bedrock“ gut vermittelt. Während hier die einen Geschichte vergessen, wird | |
sie an anderer Stelle neu geschrieben. Hunderte von Geflüchteten irren etwa | |
durch die Wälder, die Polen von Belarus trennen, so erzählt es eine | |
unbekannt bleibende Aktivistin. Einige verhungern, erfrieren. | |
Und selbst wenn sie es über die Grenze nach Europa schaffen, Hilfe ist | |
ihnen längst nicht gewiss. Die meisten Dorfbewohner:innen nahe der | |
Grenze rufen sofort die Polizei, wenn sie einen Geflüchteten sehen, sagt | |
die Aktivistin. Der Weg zurück über die Grenze – überquert zuvor in | |
wochenlangen Gewaltmärschen – ist plötzlich in einer Stunde zurückgelegt. | |
24 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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