# taz.de -- Film „The Zone of Interest“: Angst und Unbehagen | |
> Jonathan Glazers Spielfilm „The Zone of Interest“ sticht aus den Filmen | |
> über den Holocaust heraus. Statt Grauen zu zeigen, macht er Schrecken | |
> hörbar. | |
Bild: Gepflegte Beete: Hedwig Höß (Sandra Hüller) in „The Zone of Interest… | |
Leid darzustellen, ist komplex. Versuche gibt es zuhauf: In | |
dokumentarischen Erzählungen lässt man Fakten, zum Beispiel Bilder, für | |
sich sprechen. Was darauf genau für wie lange oder wie deutlich gezeigt | |
wird, ist Ermessenssache und sensibel. | |
Die fiktionale Erzählung verbildlicht Leid dagegen oft über einen | |
narrativen Weg von Sympathie und Empathie: Die erdachte Helden- wird durch | |
ihre Handlung zur Identifikationsfigur, das Publikum mag sie und bangt um | |
sie. Wird ihr ein Leid zugefügt, fühlt es mit. Und empört sich über die | |
Verantwortlichen. | |
Was einem ganzen Volk, was sechs Millionen Jüdinnen und Juden beim | |
Holocaust von den Deutschen angetan wurde, lässt sich fiktional besonders | |
schwer erfassen. Groß ist die Gefahr, durch eine aufgesetzte Erzählung | |
einerseits den realen Opfergeschichten nicht gerecht zu werden und sie | |
andererseits zum Zwecke einer Form der „Unterhaltung“, zu der die Fiktion | |
gezählt wird, auszubeuten, zu „trivialisieren“. | |
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs streitet man über die Frage einer | |
„angemessenen“ Darstellung ebenso wie über die Verpflichtung gegenüber | |
Überlebenden und Angehörigen der Opfer, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. | |
Unzählige Spielfilme und Serien zum Thema entstanden und entstehen dennoch: | |
Eugen Yorks Drama „Morituri“, wie viele andere Werke danach [1][produziert | |
von Artur Brauner], erzählte 1948 von einem Arzt, der Häftlingen in einem | |
Konzentrationslager zur Flucht verhilft; Frank Beyers Defa-Spielfilm | |
„Nackt unter Wölfen“ von 1963 spielt im Konzentrationslager Buchenwald. | |
## Der Holocaust im Film | |
Andrzej Wajda, Roberto Benigni, Alan J. Pakula, Volker Schlöndorff und Paul | |
Mazursky beschäftigten sich in fiktiven Werken mit dem Thema; Steven | |
Spielberg, Jerzy Hoffman, Agnieszka Holland oder Anna Justice inszenierten | |
fiktionalisierte, auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichten. Marvin J. | |
Chomskys Fernseh-Miniserie „Holocaust“ drehte sich um eine imaginäre | |
jüdische Arztfamilie und war – nachdem ihre Ausstrahlung lange in Frage | |
stand – Ende der 1970er Jahre ein wichtiger Punkt, wenn auch noch lange | |
kein Meilenstein in der hiesigen gesellschaftlichen Aufarbeitung der | |
eigenen Vergangenheit. | |
Doch egal, ob die Dargestellten historische oder sinnbildliche Personen | |
sein sollen: Für die Idee, sich menschliche Qual und monströse Situationen | |
auszudenken und diese abzubilden, bleibt der Ausbeutungsverdacht bestehen. | |
Was Regisseur Jonathan Glazer in seiner sehr freien Kinoadaption von | |
[2][Martin Amis’ Roman „The Zone of Interes]t“ (einer mit einer Romanze | |
angereicherten Fiktionalisierung des Lebens des Auschwitz-Kommandanten | |
Rudolf Höß) tut, könnte darum die erste angemessene Annäherung an das | |
komplizierte Sujet sein. Denn Glazer zeigt das Unzeigbare – ohne es | |
auszustellen. Er schafft „unfassbare“, nicht zu fassende Bilder des | |
Verbrechens. Dennoch sind sie es nicht, die einem den Magen umdrehen, und | |
das Grauen haptisch nahebringen: Es ist die Tonebene. | |
Der Film beginnt bereits mit dem Klang menschlicher Stimmen und darin | |
wohnenden Abgründen: Während die Kamera (Łukasz Żal) sich durch idyllisches | |
Grün tastet, Kindern folgt und langsam eine Menschengruppe bei einem | |
Picknick ausmacht, artikuliert sich das Gemurmel – man spricht Deutsch. | |
## Zaun an Zaun zum Konzentrationslager | |
Zusammen mit Kostüm und Setting wird die Familie von Rudolf Höß (Christian | |
Friedel) und dessen Frau Hedwig (Sandra Hüller) identifizierbar. Höß lebt | |
Zaun an Zaun zum Konzentrationslager, seine Frau hat sich diesseits, vor | |
der Kulisse der hohen Mauer, einen „Paradiesgarten“ für Gemüse angelegt. | |
Sie gießt, pflanzt und jätet, stolz führt sie später ihre Mutter (Imogen | |
Kogge) bei deren Besuch durch die Rabatten. | |
Aber jenseits des „Paradieses“ tobt – unsichtbar, nicht unhörbar – die | |
Hölle. Und während die Höß-Kinder sich durch die Villa bewegen und von der | |
Mutter zur Ordnung gerufen werden, während (jüdische) Bedienstete Höß’ | |
Stiefel polieren, Hedwig sich mit gestohlenen Gütern von KZ-Häftlingen | |
schmückt und in einem raren verbalen Ausbruch Menschenverachtung und | |
Übermachtsfantasien wie selbstverständlich manifestiert, während das | |
Ehepaar abends im Bett liegt und Hedwig im Plauderton unverschämt | |
belangloses Zeug schnattert (er soll versetzt werden, sie will in der | |
„schönen“ Villa bleiben), ist der Klang des Todes stets präsent: | |
Die Hochöfen, deren Schornsteine hinter der Mauer aufragen, werden | |
lautstark angefacht, und man scheint den dicken Rauch zu riechen, der das | |
Gräuel in sich trägt. Kampfflieger knattern über den Himmel, Befehle werden | |
gebrüllt, Hunde bellen, ohne Ende hallen Schmerzschreie und Schüsse | |
herüber. | |
Johnnie Burn, der (wie viele andere Gewerke, überhaupt der gesamte Film | |
oscarnominierte) Sounddesigner der Produktion, hatte vorher 600 Seiten | |
Erinnerungen von Lagerinsassen konsultiert sowie die Distanzen zwischen den | |
Schauplätzen genau ausgerechnet, um ein realistisches Klangbild zu | |
erzeugen. Mit der soundlichen Allgegenwärtigkeit des Verbrechens, das sich | |
mit dem Schall über Sichtgrenzen hinweg ausbreitet, macht Glazer so auch | |
dessen moralische Allgegenwärtigkeit deutlich: Nur weil man etwas nicht | |
(mehr) sieht, ist es noch lange nicht verschwunden. | |
## Sound wirkt schneller als Bilder | |
Damit nutzt „The Zone of Interest“ eine unmittelbarere Methode zur | |
Rezeption, als Kinofilme zuvor. Denn Sound wirkt schneller als Bilder, die | |
den langen Weg über das Gehirn nehmen und dort zunächst analysiert werden – | |
bis der Schrecken erkannt ist, kann es dauern. Klang dagegen fährt ohne | |
Umleitung in die Eingeweide: Er überträgt Angst und Unbehagen direkt. Bei | |
einem ungewohnten Geräusch zuckt man zusammen, lange bevor man Herkunft und | |
Bedeutung erforscht. | |
Neben den Bildern vom und um das Haus herum, deren | |
Überwachungskamera-Statik das Fehlen von Menschlichkeit subtil | |
verdeutlicht, sickert auch an anderen Orten Verstörung in die Erzählung: | |
Beim Baden erkennt Höß im trüben Fluss massenweise menschliche Überreste, | |
die aus Richtung KZ angeschwemmt kommen, und jagt seine Kinder aus dem | |
Wasser. | |
Höß’ Tochter spielt am Klavier ein Stück, das von einem Opfer aus dem Lager | |
stammt. In unwirklichen Nachtbildkamera-Sequenzen hatte man sie zuvor | |
Lebensmittel im Freien verstecken sehen, an Orten, an denen die Insassen | |
ihre Gräber ausheben müssen: eine kleine, wichtige, aber nicht wirkmächtige | |
Schwarz-Weiß-Umkehr auf Bild- und Täter-Opfer-Ebene. | |
## Mit Mut und Abscheu gespielt | |
Der aus einer jüdischen Familie stammende Brite Glazer verzichtet | |
konsequent darauf, Rudolf und Hedwig Höß als Figuren erkunden zu wollen – | |
das genuine Interesse gesteht er ihnen nicht zu. Mit Mut und Abscheu | |
meistern Friedel und Hüller ihre schwierigen Rollen und lassen ihre Figuren | |
zwar Menschen ähneln, aber erklären sie nicht. | |
Filmkomponist:in Mica Levi gelingt darüber hinaus das Kunststück, | |
Nicht-Musik zu komponieren – wie sollte man in diese Geschichte auch Musik | |
einbringen? Die wenigen musikalischen Einsätze klingen, als ob ein | |
Orchester zusammengedrückt wird, zermahlen wie die Opfer der Nazis: auch | |
das eine angemessene, folgerichtige und erstaunliche Idee, die Adornos | |
Aussage: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, auf | |
subtile, musikalische Art Tribut zollt. | |
Am Ende nimmt Glazer seine Zuschauer:innen in einer längeren, | |
dokumentarischen Sequenz mit in die Gedenkstätte heute und weist ihnen | |
damit wieder die Rollen zu, die sie üblicherweise einnehmen: beobachten. | |
Dass das nicht reicht, ist momentan so klar wie lange nicht mehr. | |
28 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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