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# taz.de -- Kinofilme über den Holocaust: Filme für sechs Millionen
> Durch „The Zone of Interest“ wird die Debatte über die Darstellung des
> Holocaust neu geführt. Das belebt den Diskurs über Erinnerungskultur.
Bild: Familiäre Idylle direkt neben der unsagbaren Vernichtung: Szene aus „T…
Kann man sechs Millionen Menschen gleichzeitig gerecht werden? Kann eine
Kunstform eine Katastrophe fassen, für die man selbst keine angemessenen
Worte findet? Seit über 80 Jahren versucht die Kunst, die industrielle
Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten zu verarbeiten. Doch es
bleibt bei Versuchen. Dem Film kommt dabei eine gesonderte Rolle zu, ist er
doch in der Lage, die Gräueltaten zumindest theoretisch in ihrer Gänze zu
zeigen.
Doch jeder Film, der sich mit dem NS-Holocaust beschäftigt, ruft
Diskussionen hervor. Zuletzt wurde [1][„The Zone of Interest“ des
britischen jüdischen Regisseurs Jonathan Glazer] rege diskutiert, [2][mit
dem Auslands-Oscar prämiert], von Wissenschaftler:innen seziert und
von Kulturjournalist:innen kritisiert. Dabei geht die Debatte weit
über die Feuilletons hinaus.
Die Fragen sind dieselben wie in den Jahrzehnten zuvor. Was darf ein Film
über die Shoah zeigen? Was ist der richtige Umgang mit den Opfern? Wie
zeigt man Täter:innen? Gilt ein solcher Film noch als
Unterhaltungsprodukt? Neu dazugekommen: der Begriff
„Holocaust-Entertainment“. „The Zone of Interest“ belebt den Diskurs ü…
Erinnerungskultur neu – der Zeitpunkt könnte kaum passender sein.
Filme über den NS-Holocaust gibt es seit den 1940er Jahren, sowohl als
Spielfilm als auch mit dokumentarischem Ansatz. Westdeutschland hat sich
erst Ende der 1960er Jahre verstärkt mit der Aufarbeitung der
Massenvernichtung beschäftigt, angetrieben durch die Proteste der 68er
Bewegung und die Auschwitzprozesse im selben Jahrzehnt. Inzwischen gibt
es vielfältige Ansätze, sich der Massenvernichtung zu nähern.
1985 erschien der neuneinhalbstündige Dokumentarfilm „Shoah“ von Claude
Lanzmann, der nur auf Interviews und Zeitzeug:innen setzte. Das
US-amerikanische Gerichtsdrama „Das Urteil von Nürnberg“ stellte 1961 den
Prozess um die Täter in den Mittelpunkt. Die Fernsehserie „Holocaust – Die
Geschichte der Familie Weiss“ war wegweisend, indem sie den Begriff des
Holocaust überhaupt erst in ein öffentliches Bewusstsein brachte.
## Die Mörder im Zentrum
„The Zone of Interest“ setzt nun wieder die Mörder in sein Zentrum. Der
Film folgt dem Lagerkommandanten Rudolf Höß und seiner Frau Hedwig und
ihrem Leben nahe dem Vernichtungslager Auschwitz. Nur eine graue Betonwand
trennt sie von der industriellen Vernichtung. Doch Hedwig genießt den
Alltag mit ihren Kindern, dem idyllischen Garten und den Vorteilen, den ihr
der „Beruf“ ihres Mannes bringt.
Die Opfer sind nicht direkt visuell präsent. Dafür werden ihre
Leidensschreie und die Geräusche von Schüssen und heranfahrenden Zügen zu
einem umso deutlicheren grausamen Klangteppich. Neben der positiven
Resonanz bekam der Film auch erhebliche Kritik.
Unter anderen wurde bemängelt, dass die Konfliktlinie zwischen idyllischem
Familienhaus und der unsagbaren Vernichtung als direktem Nachbarn nicht
genügend beleuchtet wird. Durch das Nichtzeigen der Opfer relativiere man
sie, und dadurch schlage der Film in moralischer Hinsicht fehl.
Die Medienwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg sieht bei Filmen über
den NS-Holocaust kein „richtig“ oder „falsch“, kein ja oder nein. Dieses
cäsarische Prinzip, das nur vereinfacht oder reduziert, hat für sie bei
etwas so Komplexen wie der Schoah keinen Platz.
„Erinnerungskultur darf und soll sich verändern. Deswegen ändern sich auch
immer ihre Darstellungsformen mit jeder Generation“, so Wohl von Haselberg
gegenüber der taz. Sie lehrt an der Filmuniversität Babelsberg und ist
Kuratorin des jüdischen Filmfestivals Berlin-Brandenburg. Ihre
Forschungsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Filmgeschichte der
Bundesrepublik und audiovisuelle Erinnerungskultur. Und die kann ihrer
Auffassung nach nicht holistisch sein: „Wir haben es mit einer Vielzahl an
audiovisuellen Erinnerungsformen zu tun, zu denen die Perspektive auf die
Täter ebenso gehört wie die Perspektive auf die Opfer.“
## Ohne Empathie, doch mit Gefühlen
Filme mit einer Täterperspektive wie „The Zone of Interest“ sind eine
besondere Herausforderung. Sie müssen die Mörder zugleich menschlich und
unmenschlich darstellen, ohne Empathie und doch mit Gefühlen. Wohl von
Haselberg sieht es als zentral, dass man die Täterfiguren in ihrer
Entwicklung zeigt: „Sehen wir, dass ihre Handlungen eine Summe von
Entscheidungen sind? Es ist wichtig, die Entscheidungsfreiheit zu zeigen.
Ohne diesen Handlungsspielraum gibt es keine Schuld und keine
Verantwortung. Wer nicht entscheiden kann, ist nicht verantwortlich für
das, was er tut.“
Als Kunstform steht der Film zugleich vor dem Problem, ein
Unterhaltungsmedium zu sein. Die Kritik am „Holocaust-Entertainment“, wie
es der Journalist Stephan Maus vom Stern nennt, ist kein neues Phänomen.
Mantrahaft in dieser Debatte ist [3][Steven Spielbergs „Schindlers Liste“].
Der Film über Oskar Schindler und seine geretteten Juden erzählt nicht
direkt von der Schoah, so Wohl von Haselberg: „Es ist ein Film, der von
einer Rettung erzählt und damit nicht von einer Massenvernichtung. Es ist
eine Erzählung über das Entkommen. Das kann man durchaus problematisieren.
Wenn Menschen nur einen Berührungspunkt mit dem Holocaust haben und das in
Form von ‚Schindlers Liste‘, dann ist das lückenhaft.“
Spielberg inszeniert oft mit Pathos. Seine großen Bilder und emotionalen
Gesichter, unterlegt mit Streichermusik, sagen dem Publikum stets, wie es
sich fühlen soll. So auch in „Schindlers Liste“. Und doch hat der Film die
Schoah verstärkt in den öffentlichen Diskurs gerückt. Ein großes Verdienst,
sagt der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger gegenüber der taz. „Es ist
ein Film, der sehr viel erreicht hat und gleichzeitig auch sehr
kritisierbar ist für bestimmte künstlerische Entscheidungen. Das, was
‚Schindlers Liste‘ aber an Diskursen geöffnet hat, scheint es mir wert
gewesen zu sein, auf das große Publikum zu spekulieren.“
## Das Ende von „Schindlers Liste“
Stiglegger hat Bücher über die Darstellung von NS-Zeit und Faschismus in
Kino und Fernsehen veröffentlicht. Zudem ist er an der Restaurierung und
der wissenschaftlichen Kommentierung alter NS-Filme beteiligt. Trotz der
Diskursöffnung durch „Schindlers Liste“ irritieren ihn und viele
Filme:macherinnen das vergleichsweise positive Ende des Films.
Zugleich sagt Stiglegger, dass „man natürlich nicht verallgemeinern kann,
wie ein solcher Film zu enden hat, aber er muss die komplette Tragik
spürbar machen und auch spürbar lassen“.
Kann es überhaupt einen Film geben, der die Shoah in all ihren Facetten
abbildet? Wohl von Haselberg und Stiglegger sind sich einig, dass es diesen
Film niemals geben kann. „Es gibt aus meiner Sicht nicht den einen
absoluten Erinnerungsfilm, der alles leisten kann und muss“, meint Wohl von
Haselberg. Stiglegger stimmt ihr zu: „Dieses Ereignis historisch in seiner
Gänze durch nur einen Film fassbar zu machen, halte ich für völlig
illusorisch.“
Die Diskussion rund um „The Zone of Interest“ begrüßen beide, denn
„letztlich zeigt diese Debatte auch das moralische Engagement, das die
Menschen in dieses Thema investieren“, so Wohl von Haselberg. Dass die
Opfer durch das Ausblenden im Film relativiert werden, sieht Stiglegger
nicht: „Es ist kein Defizit des Films, dass er die Perspektive der Täter
einnimmt. Und die Opfer sind natürlich indirekt präsent, sei es durch die
Tonspur oder durch die Aufnahmen im Auschwitz Museum am Schluss.“
„The Zone of Interest“ ist nur der jüngste von vielen Versuchen, sich
diesem Ereignis mit einer bewussten künstlerischen Entscheidung zu nähern.
An die Verbrechen des NS-Regimes und die Singularität der Schoah muss
stetig erinnert werden, auf so viele Arten wie möglich, immer und immer
wieder.
## Am Unsagbaren scheitern
Das Paradoxe ist, dass alle Künstler:innen es begreifbar machen wollen
und doch daran scheitern. Der Dichter Paul Celan wollte das Unsagbare mit
der schwarzen Milch in seinem Gedicht „Todesfuge“ greifen. Im Film „Das
Leben ist schön“ versuchte der Schauspieler Roberto Benigni dem Versagen
der Menschheit mit einem Lächeln zu begegnen. Die Fotografin Marina Amaral
hat eine Antwort auf Auschwitz gesucht, indem sie die Bilder der Opfer
kolorierte.
Doch haben die Lyrik, das bewegte Bild, Farben und Musik gemein, dass sie
allesamt an einer Erklärung scheitern. Sie können das Unfassbare nicht
konturieren. Zu derselben Erkenntnis kam der jüdische Regisseur Stanley
Kubrick. Die Arbeit an seinem Holocaust-Film „Aryan Papers“ stellte er
deswegen ein. Spielbergs Holocaust-Film stand er stets kritisch gegenüber:
„‚Schindler’s List‘ is about success. The Holocaust was about failure.�…
Werke wie „The Zone of Interest“ und die Diskussionen um sie herum sind
wichtig, weil sie weiterhin versuchen, die Katastrophe zu verstehen. Dass
sie scheitern, zeigt nur ihre Menschlichkeit.
7 Jul 2024
## LINKS
[1] /Film-The-Zone-of-Interest/!5992173
[2] /Oscarverleihung-in-Los-Angeles/!5997161
[3] /Wiederauffuehrung-von-Schindlers-Liste/!5565088
## AUTOREN
Martin Seng
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