# taz.de -- Ukrainische Regisseurin über den Krieg: „Man verliert einen Teil… | |
> Regisseurin Alisa Kovalenko hat schon in der Ostukraine gedreht. Ein | |
> Gespräch über ihre Erfahrungen an der Front und ihren Film mit | |
> Jugendlichen im Himalaja. | |
Bild: „Ich fühle mich schuldig, dass ich gegangen bin“, sagt die ukrainisc… | |
taz: Frau Kovalenko, in Ihrem Film „My ne zgasnemo“ folgen Sie fünf | |
Jugendlichen und deren Alltag. In der Anfangsszene sind Gewehrsalven und | |
Bombenhagel in der nächtlichen Ferne zu hören, zwei Jungs zünden derweil | |
Böller. Wo ist das? | |
Alisa Kovalenko: Wir sind in einem Dorf im Donbass, in der Nähe der Stadt | |
Luhansk. Also sehr nah an der Grenze zu Russland. | |
Ihr Dokumentarfilm spielt noch vor dem Angriffskrieg Russlands. | |
Ich habe Anfang 2019 angefangen zu filmen. Das letzte Mal dort war ich im | |
Februar 2022, als gerade die russische Invasion in vollem Umfang anfing. | |
Also vor ziemlich genau einem Jahr. | |
Ihre Protagonist*innen sind 14 bis 16 Jahre alt. Sie alle erinnern sich | |
noch gut an 2014. „Es ist, als hätte damals eine neue Zeitrechnung | |
begonnen“, sagt eine. Wie wirkt es sich aus, wenn man seine Jugend in einem | |
von Kriegsunruhen betroffenen Gebiet verlebt? | |
Als wir starteten, war Andriy mit 13 Jahren der Jüngste. Der Rest war 14, | |
15 Jahre alt. Ich habe sie quasi beim Erwachsenwerden begleitet. Die | |
Umstände, unter denen man in einem solchen Gebiet lebt, sind natürlich per | |
se schwierig. Man gewöhnt sich aber auch daran, so hart es klingt. Was für | |
junge Menschen dort aber vor allem herausfordernd ist, ist an sich selbst | |
zu glauben, an die Träume und Wünsche, die man hat. Denn an einem solchen | |
Ort ist es viel schwieriger, eine Vorstellung von dem zu entwickeln, was im | |
Leben möglich ist. | |
Lera, Liza, Ruslan, Andriy, Illia – sie alle haben Dinge, die sie gerne | |
tun: Fotografieren, Zeichnen, Rappen, an Motorrädern schrauben und Tanzen. | |
Zugleich fehlen die Zukunftsperspektiven. Woraus schöpfen die jungen | |
Menschen im Donbass Hoffnung? | |
Ebendas habe ich in meinem Film herauszufinden versucht: Diese jungen | |
Menschen ziehen ihre Energie aus ihren Träumen, aus dem, was sie | |
leidenschaftlich gerne tun. So versuchen sie Licht in ihr Leben zu bringen | |
und das an diesem furchtbar deprimierenden Ort. | |
Das alltägliche Leben der fünf ist ein endloses Warten auf bessere Zeiten, | |
bis sie eine Einladung von Valentyn Shcherbachev bekommen. Der | |
Sportjournalist organisierte für die Gruppe einen Trip ins | |
Himalaja-Gebirge. Entstand daraus die Idee für Ihren Film? | |
Sozusagen. Ich traf Valentyn und er erzählte mir von seinem Traum, Kinder | |
auf diese abenteuerliche Reise mitzunehmen, als eine Art therapeutische | |
Maßnahme. Ich fand die Idee so schön, dass ich mich dem Projekt anschließen | |
wollte. Valentyn organisierte einen Aufruf in den Medien, speziell für | |
Kinder aus dem Gebiet Donbass. Er erhielt so viele Briefe und Videos, in | |
denen Jugendliche erzählten, warum sie die Welt dort draußen sehen wollen. | |
Wir reisten dann gemeinsam in den Donbass. Ich habe von Anfang an alles | |
gefilmt, aber natürlich konnte ich nicht ansatzweise all das Material mit | |
in den Film aufnehmen. | |
Wie haben sich die sportliche Vorbereitung und der Trip selbst auf die | |
Jugendlichen ausgewirkt? | |
Ich würde sagen, es hat sie stark geprägt. Sie haben zum ersten Mal diese | |
völlig andere Welt gesehen und erlebt, dass man sich auch mal gut fühlen | |
kann. Und ich denke, dass dieses Gefühl eine längerfristige Veränderung | |
bewirkt. | |
Inwiefern? | |
Das ist etwas, das man in sich trägt, von dem man weiß, man hat es | |
geschafft. Man hat Grenzen überwunden, um einen Berg zu bezwingen. Es gibt | |
einem Vertrauen in sich selbst. Wenn man das geschafft hat, schafft man | |
auch andere Berge – oder Herausforderungen. | |
Blühende Rhododendren und die aufgehende Sonne in den Bergen, all das | |
breitet sich vor den Jugendlichen aus. Wie war es, diese berührenden | |
Momente mit der Kamera einzufangen? | |
Für mich war es auch eine existenzielle Erfahrung, aber ich war natürlich | |
viel mehr auf die Jugendlichen und ihre Empfindungen konzentriert. Ich | |
hatte zwar meist einen Kameramann dabei, aber ich filme auch viel alleine. | |
Das erfordert viel Konzentration; wandern, denken, planen, filmen und das | |
alles gleichzeitig. Es war also nicht einfach, aber das war es wert. Ich | |
habe mich so für die Kinder gefreut. Zu sehen, wie glücklich sie diese | |
Reise gemacht hat, war das Schönste für mich. | |
Andriy sagt im Film: „Stell dir vor, in 50 Jahren wird unser Dorf | |
verschwunden sein. Jeder wird sterben, der Rest wird gehen.“ Wie ist die | |
Situation gerade im Donbass? | |
Es ist eine sehr schlimme Situation. Viele Orte wurden besetzt oder | |
zerstört. Der Ort, in dem Andriy zum Beispiel lebte, ist völlig zerstört. | |
Fast alle sind von dort geflohen. Andriy und seine Familie auch. Seine | |
Vorstellung ist also wahr geworden, wenn auch nicht erst in 50 Jahren. | |
Sie selbst waren einige Monate an der Ostfront. Warum haben Sie Ihre Kamera | |
weggelegt und zur Waffe gegriffen? | |
Das ist eigentlich eine lange Geschichte, aber um es kurz zu machen: | |
2014/2015 habe ich den Film „Alisa in Warland“ gemacht. Dafür habe ich viel | |
an der Front gefilmt, innerlich aber habe ich gezweifelt, ob das der | |
richtige Weg ist. | |
Können Sie das präzisieren? | |
Es ist nicht leicht, diese Distanz zu behalten und mit der Kamera | |
draufzuhalten, während andere kämpfen. Ich habe mich gefragt, was meine | |
Aufgabe ist, ob es reicht, das Ganze zu dokumentieren. Ich habe mir dann | |
versprochen, sollte dieser Krieg weitergehen beziehungsweise ausarten, dann | |
lege ich die Kamera weg und gehe selbst an die Front. | |
So war es dann auch. | |
Ja, als es letzten Februar losging, konnte ich nicht mehr filmen, das hat | |
sich nicht richtig angefühlt. Ich war zu der Zeit gerade bei Andriys | |
Familie. Wir haben viel geweint und gesprochen, auch darüber, was aus dem | |
Film werden soll. Ich spürte damals, dass die Realität in dem Moment | |
stärker war und ich hatte nicht das Gefühl, mit meiner Kamera nützlich sein | |
zu können. Ich musste handeln, wollte den Menschen helfen und auf | |
irgendeine Weise auch meinem Land. | |
Hatten Sie keine Angst? | |
Nicht so sehr. Ich hatte vieles zumindest schon gesehen. Und ich wusste, | |
warum ich dort bin. Es war meine eigene Entscheidung, an die Front zu | |
gehen, niemand hat mich gezwungen. Ein paar Mal gab es so heftige | |
Schusswechsel, dass ich dachte, ich werde sterben. Das waren traurige | |
Momente, weil ich befürchtete, meinen Sohn nicht wieder zu sehen, ihm nicht | |
mehr meine Liebe geben zu können. Das war verdammt hart. | |
Ihr fünfjähriger Sohn und sein Vater waren aber sicher zu der Zeit? | |
Ja, sie waren beide in Frankreich, wo mein Partner herkommt. Mittlerweile | |
sind wir aber alle wieder in Kyjiw. | |
Wie ist es aktuell dort zu leben? | |
Es ist jetzt besser, wo wir wieder Strom haben. Aber klar, man weiß nie, | |
was passieren wird. Du weißt nicht, ob heute oder morgen eine Rakete auf | |
dein Haus fällt. Trotzdem haben wir beschlossen, dass es unser Zuhause ist | |
und wir dort leben werden, solange es geht. Immerhin hat der Kindergarten | |
meines Sohnes einen sehr guten Luftschutzkeller. | |
Hat Ihre Unerschrockenheit auch etwas mit dem sexuellen Übergriff zu tun, | |
den sie 2014 durch einen russischen Offizier erlebt haben? | |
Das war eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Ich habe danach lange Zeit nicht | |
darüber gesprochen, sondern versucht, mich durch meine Arbeit abzulenken. | |
Wenn man in Bewegung bleibt, hilft das erst mal. [1][Wenn es aber stiller | |
wird und man allein ist, kommt das Trauma zurück und frisst einen auf.] Ja, | |
vielleicht ist das auch der Grund, warum ich nicht so viel Angst hatte, an | |
die Front zu gehen. Wenn einem etwas so Traumatisches widerfährt, verliert | |
man einen großen Teil seiner Angst. | |
Denken Sie darüber nach, zurück an die Front gehen? | |
Ja. Ich fühle mich verantwortlich. Und ich fühle mich schuldig, dass ich | |
gegangen bin. Ich wusste aber, dass ich diesen Film zu Ende bringen muss. | |
Ich fühle auch eine Verantwortung gegenüber meinem Team und vor allem | |
gegenüber den Protagonist*innen. Deshalb habe ich beschlossen, den Film zu | |
beenden und mich zunächst darum zu kümmern. Danach werde ich weiter | |
entscheiden. Dieser Krieg wird lange dauern, darauf müssen wir uns | |
einstellen. Aber trotzdem weiß ich, dass wir Licht in uns haben und dieses | |
Licht wird gegen die Dunkelheit gewinnen. Daran glaube ich. | |
24 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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