# taz.de -- Chorstück mit ukrainischen Frauen: „Die unzerstörbare Kraft Ein… | |
> In „Mothers – A song for Wartime“ singen ukrainische Geflüchtete über | |
> Krieg und sexuelle Gewalt als Waffe. Ein Gespräch mit Regisseurin Marta | |
> Górnicka. | |
Bild: Das Chorstück „Mothers – A Song for Wartime“ bei der Uraufführung… | |
Mit ihren Chorstücken gibt die international bekannte polnische | |
[1][Regisseurin Marta Górnicka] denjenigen eine Stimme, die in politischen | |
Diskursen oft ungehört bleiben. So gündete Górnicka, die an der | |
Theaterakademie in Warschau Regie sowie an der dortigen Musikhochschule | |
studierte, den Frauenchor „Chór Kobiet“ in ihrer Heimat. 2014 versammelte | |
die 1975 geborene Regisseurin sechzig jüdische und arabische Mütter, | |
israelische SoldatInnen, Kinder und Tänzer für die Inszenierung „Mother | |
Courage won’t remain silent“. | |
In „Hymne an die Liebe“ setzte sie sich 2017 mit dem erstarkenden | |
Nationalismus in Europa auseinander. Ihre neueste Performance „Mothers – A | |
Song for Wartime“, die heute im Rahmen des 6. Berliner Herbstsalons unter | |
dem Titel „Lost – You Go Slavia“ im Maxim Gorki Theater Deutschlandpremie… | |
feiert, gibt Frauen und Kindern aus der Ukraine und Belarus eine Stimme. In | |
ihm fordern die Darstellenden, den Blick nicht vom Krieg in der Ukraine | |
abzuwenden, der aktuell abermals eine verheerende Wendung zu nehmen | |
scheint. Über das Stück, das bereits Ende September im Warschauer Teatr | |
Powszechny seine Uraufführung hatte, sprach Górnicka mit der taz. | |
taz: Marta Górnicka, für Ihr neues Stück „Mothers – A Song for Wartime“ | |
arbeiten Sie unter anderem mit Geflüchteten aus der Ukraine. Wie war die | |
Zusammenarbeit mit den Frauen und Kindern? | |
Marta Górnicka: Das Paradoxe an diesem Krieg ist, dass wir dank ihm tief in | |
die ukrainische Kultur eindringen und die alte Tradition des Live-Gesangs, | |
die in der Ukraine immer noch gepflegt wird, hautnah miterleben können. Für | |
mich war diese Begegnung aus künstlerischer und menschlicher Sicht etwas | |
Unglaubliches, da die Stimme der ukrainischen Kinder und Frauen selbst | |
etwas ist, das sich gegen Krieg und Vernichtung richtet. Die Gruppe setzt | |
sich aus Frauen mit unterschiedlichen Lebenswegen und politischen | |
Erfahrungen zusammen. Insgesamt war es ein ziemlich langer Prozess – | |
geprobt haben wir seit April –, aber es brauchte auch diese Zeit, um ein | |
Gefühl der Gemeinschaft zu entwickeln. Eine Gemeinschaft, in der sich die | |
Frauen und Kinder sicher und lebendig miteinander fühlen konnten. | |
Das Chorstück besteht aus kraftvollen Gesängen. Es wird gestampft, teils | |
geschrien. Da wird viel Wut, aber auch Trauer transportiert. Warum haben | |
Sie diese Art des Ausdrucks gewählt? | |
Die Intensität der Gesänge sollte die Zuhörenden zum Nachdenken zwingen. | |
Wir sollten unsere Augen nicht vom Krieg abwenden. Die uralte Tradition des | |
Chores ist meiner Meinung nach ideal für ein solches Projekt, denn sie holt | |
die unzerstörbare und unerschöpfliche Kraft aus jedem Einzelnen heraus und | |
bündelt sie zu gemeinsamer Energie. Früher war der Chor dazu da, die | |
Einzigartigkeit des Lebens zu feiern. Für mich ist der Chor heute ein | |
Kollektiv von zeitgenössischen Kassandras, die in der Lage sind, die ganze | |
Weltgeschichte zu sehen und durch die verdichtete Form auf das aufmerksam | |
zu machen, wovor wir lieber die Augen verschließen. Die Stimmen der | |
ukrainischen Frauen sind in diesem Fall doppelt besonders: Sie stehen für | |
eine Unbesiegbarkeit, dadurch, dass sie dem Krieg entkommen sind und leben. | |
Gleichzeitig vermitteln sie mittels des Gesangs eine Tradition, denn die | |
Art, wie sie singen, haben sie von ihren Müttern und Großmüttern gelernt. | |
Wie kam die Idee zu diesem Projekt? | |
Der Anstoß für das Stück war die russische Invasion in der Ukraine in all | |
ihrer Brutalität. Ich wollte einen künstlerischen Weg finden, darauf zu | |
reagieren. Es war mir wichtig, [2][mit Frauen zu arbeiten, die mutig sind] | |
und sich nicht scheuen, über Dinge und Erfahrungen zu sprechen, die | |
eigentlich unaussprechlich sind. | |
Wie zum Beispiel? | |
In „Mothers“ geht es vor allem um Kriegsgewalt gegen den weiblichen Körper, | |
eine Praxis, die unmöglich zu durchbrechen scheint. Aber auch um Träume vom | |
Wiederaufbau der Welt nach neuen Prinzipien. Gewalt und Vergewaltigung – | |
politisch und individuell – sind die größten Waffen der russischen Soldaten | |
und ein Folterinstrument, das in diesem Krieg bewusst eingesetzt wird, eine | |
der mächtigsten Waffen. Die Kriegsvergewaltigung von Zivilisten, Frauen und | |
Kindern wird eingesetzt, um sie zum Schweigen zu bringen, um sie ohne | |
Kugeln zu vernichten. In der Performance machen wir genau das Gegenteil: | |
Wir sind laut, stampfen und singen mit voller Stimme und nehmen Worte in | |
den Mund, die oft aus Scham verschwiegen werden. | |
Sie verzichten aber auch explizit auf ein Wort. Welches? | |
In unserer Arbeit verwenden wir nicht das Wort „Opfer“. Stattdessen | |
sprechen wir von Überlebenden. Es ist seltsam, dass wir im Zusammenhang mit | |
Krieg immer nur über Raketen, Schusswaffen und Panzer sprechen, aber nicht | |
über den menschlichen Körper und was mit ihm geschieht. Das ist ein | |
Tabuthema. Unsere Großmütter hier in Polen erzählten uns von ihren | |
Erinnerungen an die russischen Soldaten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs | |
Frauen vergewaltigten. Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine sind diese | |
Bilder wieder lebendig geworden. Deshalb mussten wir darauf reagieren. Wenn | |
wir das Wort Überlebende verwenden, möchten wir damit zum Ausdruck bringen, | |
dass die Erfahrung von Gewalt und Vergewaltigung ein Schmerz ist, der auch | |
ein Ende haben kann. Frauen sind keine Opfer der Kriege, sondern deren | |
Protagonistinnen. Sie spielen die Hauptrolle darin. | |
Wie sind Sie mit dem Thema Retraumatisierung umgegangen? | |
Glücklicherweise hat keine der Frauen im Projekt unter körperlicher Gewalt | |
im Krieg gelitten. In unserer Arbeit und unseren Aufführungen konzentrieren | |
wir uns auf die Tradition des lebendigen Singens und Sprechens. Nach dem | |
ersten Workshop, den wir im Rahmen des Projekts veranstalteten, sagten sie | |
mir, dass sie sich endlich lebendig fühlten. Und da dachte ich, wir sollten | |
das unbedingt fortsetzen. Es steckt viel Liebe in dieser gemeinsamen | |
Arbeit. Ich denke, der künstlerisch-performative Ansatz hilft auch, über | |
schwierige Dinge zu sprechen, über Dinge, die einen sonst sprachlos machen. | |
Kommen alle 21 Darstellenden aus der Ukraine? | |
Die meisten von ihnen sind Ukrainerinnen, Zeitzeuginnen und Überlebende des | |
Krieges. Sie sind Flüchtlinge aus Mariupol, Kyjiw, Charkiw, Irpin und | |
Cherson. Es sind sowohl Frauen als auch Kinder im Alter von 9 bis 71 | |
Jahren. Die Jüngste ist Polina. Sie musste aus Kyjiw fliehen. Sie ist | |
absolut außergewöhnlich und talentiert und spielt eine wichtige Rolle in | |
dieser Performance. Unter den Darstellern sind aber auch Frauen aus | |
Belarus, die in ihrem Heimatland politisch verfolgt wurden. Einige der | |
Frauen kommen auch aus Polen, sie haben symbolisch ihre Herzen und | |
praktisch ihre Häuser geöffnet, um Flüchtlinge in Warschau aufzunehmen. | |
Polina ist schon in ihrer Sonderstellung als einziges Kind, das die ganze | |
Performance begleitet, herausragend. Aber auch die anderen Darstellerinnen | |
bekommen die Möglichkeit, ihre individuelle Geschichte zu erzählen. Wollen | |
Sie vielleicht noch jemanden vorstellen? | |
Sie sind alle großartig! Das Herzstück der Aufführung, der Moment, der die | |
Form unterläuft, ist die Szene der Monologe der Mütter. Sie offenbaren sich | |
nicht als Darstellerinnen, sondern als die Frauen, die sie sind, mit all | |
ihrer Zärtlichkeit, mit ihrer Schönheit, ihren Sorgen und mit ihren | |
Erfahrungen. Bei Natalia zum Beispiel hat mich die Tatsache berührt, dass | |
sie nur eines vor dem Krieg retten wollte: ihre Bandura. | |
Ein traditionelles Lauteninstrument aus der Ukraine. | |
Ja, Natalia arbeitete in Charkiw als Musiklehrerin. Für mich war ihre Wahl, | |
nur die Bandura mitzunehmen, sehr eindrücklich, ein tolles Symbol. | |
Das lässt einen auf jeden Fall darüber nachdenken, was man selbst retten | |
wollen würde, wenn man müsste. | |
Ja, nicht wahr? | |
Das Libretto haben Sie gemeinsam mit den Darstellerinnen erarbeitet. Wie | |
setzt sich der Text zusammen? | |
Es ist eine Mischung aus verschiedenen Texten und politischen Aussagen. Wir | |
haben Kinderreime, Gedichte, Wiegenlieder, traditionelle Lieder – wie die | |
Shchedrivka, die die Performance einläutet – und sogar Popsongs miteinander | |
kombiniert. Ich behandle Sprache ähnlich wie Musik: Ich komponiere Worte in | |
neue Zusammenhänge. Es ist nicht nur wichtig, welche Worte wir verwenden, | |
sondern auch die Reihenfolge der Wörter und ihre Montage. | |
Haben Sie ein Beispiel? | |
Es gibt eine Szene über den Frieden, in der es heißt „Lass uns küssen“ �… | |
eigentlich eine sehr schöne Botschaft. Sie ist Teil eines berühmten | |
ukrainischen Kinderliedes, das übersetzt etwa so wäre: „Frieden, Frieden – | |
Pfefferkuchen! Eier müsst ihr selber suchen. Dazu Piroggen schön fett! | |
Schon sind wir alle wieder nett. Küssen wir uns!“ Durch zahlreiche | |
Wiederholungen und eine immer stärkere Intonation bekommt die Aussage auf | |
der Bühne jedoch etwas Bedrohliches. Auf diese Weise wollen wir zeigen, wie | |
die Mechanismen des Sprechens funktionieren. Es ist auch eine Kritik daran, | |
dass es Aussagen über Frieden und Solidarität oft an Vehemenz fehlt und sie | |
so kraftlos sind. | |
Zum Ende ein anderes Thema: In Polen waren gerade Wahlen. Die PiS hat keine | |
Mehrheit bekommen. Zuvor hat die rechtskonservative Partei immer wieder | |
kulturelle Mittel gekürzt. Sehen Sie jetzt optimistischer in die Zukunft? | |
Ich habe die Hoffnung, dass wir jetzt, wo die Regierung, die die Verfassung | |
verletzt, Menschenrechte und unsere Würde mit Füßen getreten hat, keine | |
Mehrheit mehr gewinnen konnte, anfangen eine neue Realität aufzubauen. | |
Meine Arbeit ist auch immer eine Reaktion auf sozialpolitische Situationen, | |
ich bin aber nicht traurig, wenn ich hier eine Weile auf nichts reagieren | |
muss. Ich hoffe wirklich, dass dies ein [3][Zeichen des Wandels in Polen] | |
ist. | |
3 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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