# taz.de -- Neues Stück nach Sasha Marianna Salzmann: Mütter und Töchter unt… | |
> Das Gorki Theater adaptiert Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen | |
> muss alles herrlich sein“. Es geht um sowjetische Gefühlserbschaften. | |
Bild: Der lange Schatten der Sowjetunion: Was die Mütter beschweigen, treibt d… | |
Ninas Haare sind so blau wie ihre pelzigen Stulpen. Das Bild eines Kindes | |
steckt in ihr, das nicht erwachsen werden will. Aber auch eine trotzige | |
Ablehnung all dessen, was ihre Mutter Tatjana verkörpert, die mit Rüschen | |
und Strass auf hohen Absätzen herumstöckelt. Schon die Kostüme von Evi | |
Bauer lassen sichtbar werden, was Mutter und Tochter trennt. | |
Die Bühne gehört vier Frauen, zwei Müttern, Lena und Tatjana, und ihren | |
Töchtern Nina und Edita an diesem Abend. Die vier stellen sich vor als die | |
Personen, die Sasha Marianna Salzmann für ihren Roman „Im Menschen muss | |
alles herrlich sein“ interviewt habe. Um sich gleich mal zu beschweren, | |
dass ihr Leben immer nur in Ausschnitten erzählt werde. Und diese Kritik an | |
der Unzuverlässigkeit der Autorin wird dann auch so ziemlich das Einzige | |
bleiben, auf das sich die vier an diesem Abend einigen. | |
Die Textfassung stammt von dem [1][Regisseur Sebastian Nübling,] der | |
Dramaturgin Valerie Göhring und den vier Schauspielerinnen des Gorki | |
Theaters in Berlin: Lea Draeger als Nina, Yanina Cerón als Edita, Anastasia | |
Gubareva als Tatjana, Çiğdem Teke als Lena. Jede spricht das Publikum an, | |
mit ihrer Version der Erinnerung, mit ihren Fragen, mit ihrem Misstrauen | |
gegen das, was die anderen erzählen. Miteinander reden sie wenig – und | |
wenn, dann schreien sich Mütter und Töchter bald an. | |
[2][„Im Menschen muss alles herrlich sein“]: Der viel beachtete Roman von | |
[3][Sasha Marianna Salzmann] beginnt in Städten der Ukraine, als sie noch | |
Sowjetunion waren. Und erzählt damit auch eine Geschichte, die in eine Zeit | |
lange vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine eintaucht, als ukrainische | |
Sprache und Kultur mit sowjetischen Farben übermalt waren. | |
Lena glaubt noch an Gerechtigkeit, bis sie erfährt, dass nur Korruption den | |
Weg ebnet: zum Medizinstudium, zur ärztlichen Versorgung, zur Wohnung, zum | |
sozialen Aufstieg. Der Verlust des Vertrauens, dass man anderen nie glauben | |
darf, was sie zu sein und zu tun behaupten, durchzieht ihr Leben. Das geht | |
bis zu kollektiven Geheimnissen, die historische Verbrechen verdecken. | |
## Den Holodomor überlebt | |
Einmal erinnert sich Lena an die Großmutter, die den Holodomor überlebt | |
hatte. Die Aushungerung der Ukraine durch die Sowjetmacht war etwas, über | |
das nicht geredet werden durfte, mehrere Generationen lang. Ein Schweigen, | |
an dem Lena und Tatjana noch festhalten, als sie längst in Deutschland | |
leben und Töchter haben. Und dies Schweigen über die Vergangenheit, die nur | |
in verklärter Form auf den Tisch kommt, ist ein Teil dessen, was die | |
Töchter an ihren Müttern nicht aushalten. | |
In der Berliner Bühnenfassung stehen die vier Frauen unter Druck. Sie | |
erzählen viel und schnell, sie laufen auf und ab, keine Ruhe ist in ihren | |
Körpern. Ihre Geschichte ist ein brodelnder Dampfkessel. Die Vorgeschichten | |
des Nichtredens, die Versuche der beiden Mütter, mit der durchaus nicht | |
gelungenen Ankunft in Deutschland die Vergangenheit hinter sich zu lassen, | |
heizen diesen Kessel an. Der Wunsch, verstanden zu werden, ist da. Aber die | |
Fähigkeit, zu verletzen, ist größer. | |
Die Berliner Inszenierung – die sechste Dramatisierung des Romanstoffs in | |
kurzer Zeit, unter anderem an den Kammerspielen München, am Thalia Theater | |
Hamburg, in Magdeburg und Nürnberg – ist rasant, überraschend unterhaltsam, | |
und sie erzählt in kurzer Zeit erstaunlich viel. Viele Figuren bleiben zwar | |
unerzählt, beinahe alle Männer; szenisch werden die Episoden des Romans | |
fast gar nicht umgesetzt: Und doch erhält dieser Theaterabend eine Lektion | |
Geschichte, die so spannend ist, weil die Figuren uns schnell nahe kommen. | |
Ist es eine migrantische Geschichte? Eine deutsche Geschichte? Eine | |
ukrainische? Eine postsowjetische? Dass der Versuch, dies zu trennen, | |
keinen Sinn mehr macht, dass all dies gemeinsame Gegenwart ausmacht, stellt | |
die Inszenierung nicht extra heraus. Sondern nimmt es als | |
selbstverständlichen Grund. So zu starten, das ist auch eine Stärke des | |
Gorki Theaters, das in diesen gemischten Strömen von Geschichten schon | |
länger unterwegs ist. Salzmann war hier Hausautorin und leitete das | |
Studioprogramm. | |
## Perestroika-geschädigte Jammerlappen | |
Auf die Herkunft festgelegt zu werden ist eine Zumutung. Das ist es, was | |
Edita so geladen macht, die als junge Journalistin sich jetzt um die | |
kümmern soll, die sie als „Perestroika-geschädigte Jammerlappen“ wahrnimm… | |
Von der Herkunft abgeschnitten zu sein aber funktioniert ebenso wenig. Nina | |
versucht im Internet und in Archiven zu finden, was ihre Mutter ihr eben | |
nicht erzählte. Und vergisst über diesen Recherchen, sich um den eigenen | |
Körper zu kümmern. | |
Die Balance zwischen diesen Extremen gelingt keiner der vier Frauen. Ihre | |
Bühnenfiguren schaffen es aber zusammen, ein gutes Bild der Konflikte zu | |
zeichnen. Was die Inszenierung etwas vermissen lässt, ist ein Wechsel des | |
Rhythmus, eine Zäsur im rasenden Erzähltempo. Einige Episoden, wie die aus | |
der „Fleichwolfzeit“ nach dem Ende der Sowjetunion, könnten mehr Raum | |
vertragen. Die Perspektive bleibt immer nahe an den Figuren, und manchmal | |
täte mehr Abstand gut. | |
30 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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