Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neuer Roman von Sasha Marianna Salzmann: Mütter, Töchter, Weltges…
> Autor:in Sasha Marianna Salzmann erzählt vom Leben in der Sowjetunion –
> und von den Abgründen, die die emigrierten Nachgeborenen davon trennt.
Bild: Hinwendung zu den Erfahrungen der Eltern: Alltag in der Ukraine, 1989
Gut fünfzig Seiten nachdem Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der
Kommunistischen Partei der UdSSR gewählt worden ist, wird in Sasha Marianna
Salzmanns zweitem Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ Lena
schwanger. Groß und klein. Weltgeschichte und Lebensgeschichte.
Michail Gorbatschow selbst wird in dem Buch nicht direkt vorkommen,
[1][doch die welthistorischen Umwälzungen,] die mit seinem Namen verbunden
sind, schon. Auf den Partys „dozierten“ die jungen Männer „über die
politischen Veränderungen, die durch Gorbatschow angestoßen worden waren,
Gorbatschow hier, Gorbatschow da, sie sprachen von den Möglichkeiten, die
sich jetzt eröffneten, sie trugen alle Bluejeans“.
Und parallel zu den „Businessmännern“ tauchen Wellblechhütten mit armen
Menschen in den Großstädten auf; während sich vorher alle Sowjetbürger als
Internationalisten verstanden haben, wenigstens offiziell, definieren sich
die Menschen bald durch nationale Zugehörigkeiten. Wo es früher Sowjets
gab, gibt es plötzlich Tschetschenen, Ukrainer, Russen. Der [2][Zerfall der
Sowjetunion] bildet den Hintergrund der ersten Hälfte dieses Romans.
Lena steht im Vordergrund dieser Hälfte. Beschrieben wird ihre Kindheit und
ihr weiteres Leben in Dnepropetrowsk bis zu ihrer Ausreise mit Mann und
Tochter nach Deutschland Mitte der neunziger Jahre. In den siebziger Jahren
gibt es enge Wohnungen und Sommerlager als junge Pionierin. Es gibt Wochen
in Sotschi am Schwarzen Meer, unter den Haselnussbäumen der schweigsamen
Großmutter.
Und es gibt ein Verhängnis: Lenas Mutter erkrankt schwer und langwierig.
Lena will Ärztin werden, natürlich auch, um ihrer Mutter zu helfen. Doch im
Gesundheitssystem gibt es viel Korruption, zu Arztbesuchen muss man stets
Umschläge mit Bargeld mitnehmen. Lena wird nicht rechtzeitig mit ihrem
Studium fertig. Die Mutter stirbt. Auf ihrer Totenfeier reden alle über die
Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.
## Der Roman splittert auf
Lange Zeit ist das ein Roman über die große Weltgeschichte und ihren
Niederschlag in einem individuellen Leben. Lena verliebt sich
leidenschaftlich in einen Tschetschenen, der sich als unzuverlässig
erweist, und Daniel verliebt sich in sie, Daniel, den sie schließlich
heiratet und mit dem sie eine Tochter bekommt.
Daniel ist Jude. Die „Judenfrage“ wird wieder virulent, Daniel fühlt sich
in der Ukraine nicht mehr sicher. Obwohl Lena sich zuerst sträubt, wandert
sie mit ihm und ihrer Tochter nach Deutschland aus. Ein Frauenleben mit
vielen Zwängen.
Die zweite Hälfte des Romans ist dann ganz anders, nicht so einheitlich und
chronologisch erzählt. Jetzt sind wir in Deutschland, in Berlin und Jena,
in der Jetztzeit, und der Roman splittert auf. Lenas fünfzigster Geburtstag
bildet den Zusammenhalt dieser Szenen, doch nun geht es nicht um ein
einzelnes Leben, sondern um Beziehungen untereinander oder besser um Leben,
die nebeneinanderher geführt werden.
## Ein hustendes Baby
Jetzt sind es vor allem vier Frauenleben. Wie traurig und menschlich fatal
sich eine Emigration nach Deutschland anfühlen kann, wird anhand von Lenas
Freundin Tatjana und ihrer Tochter Nina im Rückblick geschildert. Und Edi,
Lenas Tochter, die wir im ersten Teil als hustendes, schwer krankes Baby
kennengelernt haben, bekommt in diesem zweiten Teil eine eigene
Perspektive.
Sasha Marianna Salzmann führt sie ein als Teil der jungen Berliner Boheme.
Edi ist lesbisch. Sie geht in Clubs. Sie hat eine Volontariatsstelle als
Journalistin bekommen, doch privat strauchelt sie durchs Leben und
vernachlässigt ihre Wohnung. „Berlin war ein Schild“, so heißt es einmal,
„das besagte: ‚Alle Richtungen‘. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn
für alle, die noch tanken mussten.“
Nur weiß Edi, wie so viele in Berlin, halt nicht recht, wohin. An die
Stelle der Enge und der Zwänge ihrer Mutter sind bei ihr die Freuden und
Mühen des Sichausprobierens getreten.
## Perestroika-Zombies
Der dramaturgische Knackpunkt dieses Teils ist dann: Von ihrer Herkunft und
der Geschichte ihrer Eltern und überhaupt der Emigranten aus der ehemaligen
UdSSR will Edi gar nichts wissen. Und erst will sie auch gar nicht zur
Geburtstagsfeier ihrer Mutter nach Jena fahren. „Niemals, niemals würde sie
über sie schreiben. Over my dead body, wie eine ihrer Freundinnen gerne
sagte. Diese Geschichten von all diesen ‚ihren Leuten‘ waren ihr
persönliches Kryptonit.“ Etwas später fallen Bezeichnungen wie
„diktaturgeschädigte Jammerlappen“ und „Perestroika-Zombies“. Schließ…
fährt sie aber doch.
Dieser zweite Teil handelt von nicht ankommenden Erzählversuchen und
zersplitterten Erzählzusammenhängen. Daniel, der Vater, erzählt ständig
halb lustige jüdische Witze. Und die exsowjetische Emigrantencommunity in
Deutschland flüchtet sich, was die Vergangenheit betrifft, in
Sentimentalitäten und Illusionen.
In einem in der Ich-Perspektive geschriebenen, fast somnambul hellsichtigen
kurzen Abschnitt, der zwischen den beiden Teilen des Romans steht, ist von
„Phantomschmerzen“ die Rede: „Das Land, in das sie hineingeboren wurden,
ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch.“
Und etwas weiter: „Wenn ich mir die Erinnerungstexte der ehemaligen
Sowjetmenschen anschaue, habe ich das Gefühl, sie haben nie miteinander
gesprochen und wissen gar nicht, dass […] sie zum Teil völlig
unterschiedliche Leben gelebt haben in einem Land, von dem es hieß, es gäbe
nur den einen Weg, nur eine Möglichkeit. Und sie werden es auch nie
erfahren, weil sie miteinander nur in Zitaten von Schriftstellern reden,
die vor Hunderten von Jahren gestorben sind.“
## Böse desillusionierte Blicke
Es sind teils böse desillusionierte Blicke, die die Generation der
Töchter auf ihre in den inneren Nachbeben der welthistorischen Umbrüche
hilflos verharrenden Eltern wirft. Ein schwergewichtiger Satz kann einem
einfallen: The storyline is broken. Tatsächlich erzählt dieser Roman viel
darüber, wie tief die Abgründe zwischen den Generationen sind und wie
schwer es ist, über die Brüche der Weltgeschichte hinweg kontinuierliche
Lebens- und Familiengeschichten zu konstruieren.
Da sind nicht nur Schweigen und Verbrämungen zu überwinden. Die Zeitzeugen
müssen auch erst einmal dazu gebracht werden, sich realistisch zu erinnern
und eine Sprache für die eigenen Erfahrungen zu finden.
Wenn man von diesem Punkt aus auf den ersten Teil des Romans zurückblickt,
beginnt er zu schillern. Als Erzählung über den Zerfall der Sowjetunion
wirkt er vielleicht etwas flach, was vor allem daran liegt, dass die
korrupten Apparatschiks und kapitalistischen Profiteure im Wesentlichen
unausgeleuchtet bleiben und es so erscheint, als würden die Veränderungen
von außen über die Gesellschaft kommen. Doch das ist gar nicht der Punkt.
## Helden wie Morosow
Der Punkt ist vielmehr, dass Sasha Marianna Salzmann als Autorin das
unternimmt, was ihre Edi-Figur in dem Roman verweigert: Sie wendet sich dem
Leben ihrer Elterngeneration zu und macht sich daran, es realistisch zu
rekonstruieren, und zwar über die dann im zweiten Teil deutlich gemachten
Abstände hinweg.
Lena, die Mutter, ist noch mit solchen Heldengestalten wie Pawel Morosow
aufgewachsen, der seine eigenen Eltern verriet, die Getreidevorräte vor den
Sowjets versteckt hatten. Solche Traditionen erscheinen von heute aus zwar
nur noch unverständlich. Doch wenn man von den Leben vor 1989 erzählen
will, muss man sie, wie Sasha Marianna Salzmann es auch tut,
berücksichtigen.
So lässt sich ihr Roman einerseits einordnen in die vielfältigen Bücher von
Erzähler*innen mit exsowjetischem Hintergrund, seien es Olga Grjasnowa,
Dmitrij Kapitelman oder aktuell Yulia Marfutova. Aber man muss ihn
andererseits vielleicht auch gar nicht auf das Exsowjetische festlegen.
Interessant ist, dass es gerade in diesem Jahr sehr unterschiedliche
literarische Ansätze gibt, sich der Familiengeschichte zuzuwenden und das
Verhältnis zu den Eltern erzählbar zu machen, von Dilek Güngörs „Vater und
ich“ über Monika Helfers „Vati“ oder Henning Ahrens’ „Mitgift“ bis…
sogar zu Christian Krachts „Eurotrash“.
Es scheint, als ob sich deutschsprachige Erzähler*innen gerade jetzt
daranmachen, Peter Weiss’ folgenreichen Titel des „Abschieds von den
Eltern“ endgültig zu historisieren und eher von einer Hinwendung zu den
Eltern zu erzählen, so schwierig das auch ist.
1 Oct 2021
## LINKS
[1] /Letzter-sowjetischer-Praesident-wird-90/!5749609
[2] /Buch-zur-Geschichte-Europas/!5585570
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Literatur
UdSSR
Emigration
Eltern
Familie
Juden
Theater
Literatur
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Literatur
Literatur
Atom
Kyjiw
Literatur
Schwerpunkt AfD
Lesestück Interview
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neues Stück nach Sasha Marianna Salzmann: Mütter und Töchter unter Druck
Das Gorki Theater adaptiert Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen
muss alles herrlich sein“. Es geht um sowjetische Gefühlserbschaften.
Neues Vaterbuch von Andreas Schäfer: Mal wattig, mal stacheldrahtig
Schriftsteller Andreas Schäfer erinnert sich an seinen verstorbenen Vater.
Dabei will „Die Schuhe meines Vaters“ kein Familienroman sein. Gelingt das?
Migrantisches Leben: Stilles Beben im Wedding
„Ein Spiegel für mein Gegenüber“ heißt der Debütroman von Nadire Biskin…
nimmt sich des transnationalen Dazwischen an.
Neuer Roman von Katerina Poladjan: Russische Erfahrungen
Katerina Poladjan erzählt tieftraurig über den Tag, als Gorbatschow
sowjetischer Staatschef wurde. Ihr Roman lässt sich als Kommentar zum Krieg
lesen.
Berlin als Ort der Literatur: Wo der Laptop steht
Vom Sehnsuchtsort zur Selbstverständlichkeit: Ist Berlin auserzählt? Eine
Momentaufnahme. Zugleich ein Rückblick auf die Literatur dieses Jahres.
Neue Atomreaktoren in der Ukraine: Energie für eine strahlende Zukunft
Mit einem amerikanischen Partner will das Land zwei Atomreaktoren bauen.
Man will unabhängig von Russland und klimaneutral Energie erzeugen.
Nachtleben in der Ukraine: Der Club ohne Namen
Ist Kiew der neue Hotspot der Clubkultur und queeren Szene? Ein Besuch im
„∄“, dem Pendant des Berghain in der ukrainischen Hauptstadt.
Neuer Roman von Henning Ahrens: Schuld und Milchdunst
In „Mitgift“ erzählt Henning Ahrens die Geschichte seiner bäuerlichen
Familie, die einen Nazihintergrund hat. Im Zentrum: ein
Vater-Sohn-Konflikt.
Gastbeitrag Spätaussiedler und AfD: Wir müssen den Eltern widersprechen
Besonders bei Spätaussiedlern ist die Zustimmung für die AfD hoch. Unsere
Autorin über das Erstarken der Rechten bei den eigenen Eltern.
Sasha Marianna Salzmann über ihr Debüt: „Du landest immer bei deiner Mutter…
In Sasha Marianna Salzmanns Debüt „Außer sich“ reist eine junge Frau zu
ihrem männlichen Zwillings-Ich. Schauplatz ist das queere Istanbul.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.