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# taz.de -- Sasha Marianna Salzmann über ihr Debüt: „Du landest immer bei d…
> In Sasha Marianna Salzmanns Debüt „Außer sich“ reist eine junge Frau zu
> ihrem männlichen Zwillings-Ich. Schauplatz ist das queere Istanbul.
Bild: Sasha Marianna Salzmann hat einiges mit ihrer Romanheldin Alissa gemein �…
Montagmorgen, der Tag nach der Wahl. Sasha Marianna Salzmann hat den
Treffpunkt bestimmt. Ein Laden in Berlin-Kreuzberg, in dem man Nüsse kaufen
kann. Sie liebt Nüsse, sagt sie. Wir sitzen im Hinterzimmer und trinken Ç
ay . Es läuft klassische türkische Musik.
taz: Frau Salzmann, die erste Frage an diesem Morgen ist klar.
Sasha Marianna Salzmann: Wie es mir mit der Wahl geht?
Hat Sie das Ergebnis schockiert?
Nein, schockierend ist es nicht. Ich weiß, in welchem Land ich lebe.
Trotzdem ist das für mich ein historischer Moment, dass so eine Partei in
den Bundestag einzieht. Es war eine Wohltat, dass ich gestern in einem
Theaterraum saß. Ich war im Studio R des Gorki Theaters bei einer
Veranstaltung zur Wahl. Wir hatten einen offenen Kreis noch während der
Auszählung. Wofür ist Theater sonst da?
Es ist erstaunlich, wie viele nun schockiert sind.
Im Gorki war es schön, weil dort Menschen sind, die konstruktiv aggressiv
mit dieser Situation umgehen und nicht heulend in der Ecke sitzen und
sagen: Was? Ich dachte, ich lebe in Deutschland? Ja eben. Willkommen in
Deutschland! Es war kein Schock und keine Überraschung, aber es gibt einen
Ekel. Den habe ich übrigens nicht nur gegenüber der AfD, sondern auch der
FDP, es ist nur ein anderer. Die ökonomischen Prozesse sind das, worüber
wir jetzt verstärkt reden sollten. Leute wie Christian Lindner machen
Geschäfte mit Diktatoren anderer Länder und sind dafür bereit,
Menschenrechte zu opfern, das ist für mich nicht weniger gruselig. Ich
freue mich sehr auf meine Lesung in Dresden morgen, und ich meine das nicht
querulatorisch. Wir müssen jetzt miteinander sprechen. Die Verbündeten wie
die verfeindeten Lager.
Reden müssen wir, die Frage ist nur, worüber. Über die Sorgen und Ängste
der Menschen?
Angst haben wir alle. Wir schämen uns für unsere Existenz. Wir schämen uns
dafür, dass wir nicht mitkommen mit dieser schnellen Zeit. Wir könnten also
darüber sprechen, dass viele Leute sich ihrer Unzulänglichkeiten, ihrer
nicht erfüllten Existenzen schämen. Am Ende der Scham für die eigene
Unzulänglichkeit steht ein Mensch wie Gauland. Wenn man im Gegenteil meint,
man hat keine Lust, an einer Zukunft für alle zu arbeiten, sondern
schnellen egoistischen Erfolg will, steht am Ende der Kette Christian
Lindner, der sagt, Ungeduld ist eine Tugend. Wir könnten darüber reden,
warum das Blödsinn ist.
Wenn man sich die Leute auf den rechten Demonstrationen anschaut, dann ist
es nicht die Scham und die Angst, die sichtbar werden, sondern die Klage,
zu kurz gekommen zu sein.
Ehrlich gesagt, glaube ich, dass alle dieses Gefühl kennen. Dass man
eigentlich viel größer ist als das Vorzeigbare. Dass man viel mehr könnte,
wenn man nur gelassen werden würde. Bei Horváth finden wir den Satz: Ich
bin eigentlich ganz anders, ich komm nur so selten dazu. Insofern ist die
Scham für die nicht erfüllten Vorstellungen von Leben nichts, was nur der
AfD-Wählerschaft gehört. Ein Kollege brachte es gut auf den Punkt: Die
Mittelständler, die AfD wählen, sind nicht ökonomisch, sondern kulturell
abgehängt. Die erklären uns einen Kulturkrieg. Da wissen wir doch, was zu
tun ist.
Ihr Roman spielt in der queeren Szene Istanbuls. Martin Schulz hat im
TV-Duell gefordert, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei zu beenden.
Den türkischen Demokraten in den Rücken zu fallen, den Leuten, die wie
Deniz Yücel im Gefängnis sitzen, ist ein Skandal, über den sich nur wenige
aufgeregt haben.
Ich rege mich sehr darüber auf und kenne viele Leute, die sich darüber
aufregen. Was Schulz zur Türkei gesagt hat, ist Populismus. Wir haben die
heutige politische Situation in der Türkei mitzuverantworten. Ich war
dabei, als die demokratischen Kräfte in der Türkei so stark waren, dass sie
die AKP vom Thron hätten stürzen können. Nach den Protesten im Gezi-Park
formierte sich die HDP und hätte mit der CHP eine historische Koalition
bilden können. Als aber die AKP, die wegen des Wahlerfolgs der HDP die
absolute Mehrheit verlor, Neuwahlen ansetzte, haben die demokratischen
Kräfte in der Türkei auf ein Zeichen aus Europa gewartet. Sie hätten
Rückendeckung gebraucht für einen Machtwechsel. Das Zeichen kam dann in
Form von Angela Merkel, die Erdoğan Geld gab für den sogenannten
Flüchtlingsdeal. Damit unterstützte sie faktisch die Regierung, die jetzt
so schwer in der Kritik steht. Die EU-Beitrittsverhandlungen sind notwendig
für die Forderung, Menschenrechte einzuhalten. Was machen wir? Deutsche
Rüstungskonzerne bauen in der Türkei Panzerfabriken, unsere Politiker
drohen damit, die Verbindung zu den Menschen zu kappen.
Alissa, die Heldin Ihres Romans „Außer sich“, ist in Russland und
Deutschland aufgewachsen. Sie erlebt die Gezi-Proteste und den
Putschversuch in Istanbul. Waren Sie selbst länger in der Stadt?
Ich war seit 2012 regelmäßig in Istanbul. Ich kam mit einem
Schreibstipendium. Ich kannte Istanbul und die Türkei nicht. Nach ein paar
Wochen habe ich beschlossen, für immer zu bleiben. Später haben mir Shermin
Langhoff und Jens Hillje die Leitung des Studios R angeboten. Es war eines
dieser Angebote, zu denen man nicht nein sagt. Der Stoff für das Buch
formte sich bei meinem ersten Aufenthalt, als ich in die Gezi-Park-Proteste
schlitterte. Ich habe vorher noch nie alte Frauen gesehen, die an
Anonymous-Jungs Kekse verteilen. Ich habe noch nie Kemalisten zusammen mit
Punk- und Kopftuchmädchen eine Bibliothek einrichten sehen. Das ist eine
der demokratischsten Bevölkerungen, die ich je gesehen habe.
Dann sind Sie wieder nach Deutschland gegangen.
Ich habe Istanbul aber immer vermisst und als meine Wahlheimat verstanden.
Ich komme aus Russland, ich war in Israel, aber ich habe mich nirgends so
zu Hause gefühlt wie in Istanbul. 2014 bin ich wieder hingegangen. Ich habe
in einer Transcommunity in Tarlabaşı gelebt, im Herzen des Konflikts. Es
ist der an den Taksimplatz angrenzende Bezirk, der abgerissen wird. Meine
Schwestern und meine Brüder haben mir diese Welt gezeigt, die man als
Touristin nicht sehen würde. Dann habe ich angefangen, diesen Roman zu
schreiben. Ich fing bei Gezi an und endete bei dieser jüdischen Familie,
die nach Deutschland kommt.
Sie haben Ihrer Heldin Alissa, kurz Ali, eine Einwanderungsgeschichte
gegeben, die autobiografisch gefärbt ist. Wie Sie ist sie in Wolgograd
geboren, später wandert die Familie nach Deutschland aus.
Und sie hat Locken wie ich, ich spiele damit.
Es ist nicht naheliegend, Istanbul mit der Geschichte einer jüdischen
Familie aus Russland zu verbinden.
Ich unterrichte politisches Schreiben am Neuen Institut für Dramatisches
Schreiben, das ich gemeinsam mit Maxi Obexer gegründet habe. Da sage ich
immer: Du hast eine politische Idee. Du weißt, worüber du schreiben
möchtest. Aber du musst loslassen. Und am Ende landest du immer bei deiner
Mutter. Das heißt aber nicht, dass es autobiografisch sein muss. Dann stand
ich da mit dieser Geschichte einer russisch-jüdischen Familie in der
Südukraine. Ich war noch nie in Odessa, noch nie in Czernowitz. Ich schrieb
in Istanbul, bin meinem Stoff und meinen Figuren gefolgt. Ich dachte
anfangs, Ali ist eine sie.
„Außer sich“ ist ein intensiver, soghafter, assoziativer, manchmal beinahe
psychedelischer Text mit vielen Perspektivwechseln. Von einem Ort zum
anderen, auch durch die Zeit. Jemand hat behauptet, die Grammatik dieser
Sätze trage Spuren des Russischen.
Sie wissen gar nicht, wie oft ich mir diesen Quatsch anhören muss. Ich habe
auch schon gehört: Deine Vorbilder sind Südamerikaner, das ist magischer
Realismus, das merkt man an deinem Buch. Mein Buch ist wie mein Gesicht –
eine Projektionsfläche. Man liest alles Mögliche in dieses Buch rein, das
Russische, das Südamerikanische, die französische Philosophie. Was gut
ist, denn es heißt, das Buch ist dehnbar genug. Und ich bin eine
ausreichend große Projektionsfläche. Leute sagen auch immer etwas über
sich, wenn sie über mich oder meine Arbeit sprechen. Für mich ist das eine
Art Feldforschung. Sie beobachten mich, ich beobachte sie.
Einmal fragt sich Ali, ob sie wirklich die Lebensbeichte ihrer Mutter hören
will.
Ich glaube, dass die Essenz meines Romans in dem Versuch besteht, eine
Erinnerung rekonstruieren zu wollen – und im schmerzhaften Begreifen, dass
es keine ganzheitliche Geschichte geben kann in einer Familie. Jedes
Familientreffen beweist, dass die Mythen umgeschrieben werden. Dass man
sich heute darauf einigt, denjenigen runterzumachen, den man beim letzten
Chanukkah noch hoch gelobt hat. Die von Ihnen genannte Stelle ist mir sehr
wichtig, weil sie auch fragt, ob wir es aushalten können, zu begreifen,
dass auch ein Alkoholiker und Schläger ein Mensch ist.
An dieser Stelle schreiben Sie auch: „Erinnerung ist ein Parasit“.
Wenn man die Maschinerie der Erinnerung in Gang setzt, das kann jeder zu
Hause ausprobieren, und ich würde es jedem empfehlen, dann passiert etwas.
Ich habe es mit meinen Großeltern gemacht, und seitdem erzählen sie mir
Geschichten aus ihrem Leben. Sie erzählen sich ihr Leben. Ich glaube nicht,
dass das so stattgefunden hat, aber ich glaube auch nicht, dass sie lügen.
Da wird eine Geschichte gesponnen, die lebenswichtig ist für die
Selbstvergewisserung. Es ist heilsam.
Das Vakuum, das sich in der Unsicherheit einer gescheiterten Erzählung über
sich selbst breitmacht, wird von rechten Ideologien mit dem Glauben an die
Institutionen gefüllt: Familie, Kirche, Nation, Volk. Wäre es eine
antirassistische Maßnahme, wenn sich alle mit ihren Familiengeschichten
beschäftigen würden?
Ja, ich unterschreibe das. Beim „Desintegrationskongress“, der im
vergangenen Jahr im Studio R stattfand, haben wir unter anderem das
gefordert: Alle müssen sich mit ihren Familiengeschichten beschäftigen. Es
kann doch nicht sein, dass immer nur Jüdinnen über ihre Vergangenheit
befragt werden. Alle sollten nach Hause fahren und mit den Großeltern oder
Eltern reden. Das wird keinen Spaß machen, sie werden Geschichten
verweigern. Dann fragt man noch mal. Man muss das tun, damit man versteht,
dass es keine Familie ohne Migration gegeben hat, ohne Verlust, ohne Scham,
ohne politisches und menschliches Versagen. Das kann etwas Einendes sein –
zwischen Familienmitgliedern wie unter unterschiedlichen gesellschaftlichen
Gruppen.
Noch ein Satz aus Ihrem Buch: „Schlechtes Gewissen lässt die Menschen auf
eine ganz eigene Art tot sein.“
Da sind wir wieder bei den Wahlen. Das ist es, was ich mit der Scham meine.
Die Leute schämen sich so sehr für ihre Gedanken. Es ist doch bezeichnend,
dass viele nicht zugeben würden, dass sie die AfD gewählt haben. Ihr Ekel
vor den Schwulen, vor dem elitären queeren Zeug ist ihnen selbst peinlich.
Die Juden sind auch nicht so richtig sexy, und das darf man auch nicht
sagen. Aber warum eigentlich nicht? Wenn sie dann keine Argumente gegen
ihre eigenen xenophoben Meinungen finden, werden sie unzugänglich für
jegliche Logik und noch schlimmer: für Empathie.
Zentral sind in Ihrer Geschichte die Gewalterfahrungen der Großeltern und
Eltern von Alissa, im Kleinen wie im Großen: Missbrauch, arrangierte Ehen,
der Überfall auf die Sowjetunion, Stalinismus, Antisemitismus. Es ist eine
schonungslose, krasse Geschichte.
Wie die Realität der meisten Menschen auf diesem Planeten.
Muss man das Elend der Menschen genau zeigen, um es überwinden zu können?
Die Geschichte von Valja und Kostja, den Eltern Alis, aufzuschreiben hat
mich sehr viel Kraft gekostet. Ich habe mich gezwungen, hinzusehen auf die
Konflikte zwischen Generationen. Ich wollte verstehen, warum es so
schwierig ist, sich gegenseitig zu verzeihen. Ich musste für meine Figuren
Verständnis aufbringen. Was ich meinen Teilnehmern in der Schreibwerkstatt
beibringe, musste ich auch mir selbst immer wieder sagen: Wenn du eine
Figur verurteilst, dann schreib sie nicht.
Die Männerfiguren in „Außer sich“ werden nicht verurteilt. Man versteht,
warum sie so sind, wie sie sind. Den patriarchalen Strukturen können auch
sie nicht genügen.
Ich halte Frauen für viel stärker, lebens- und anpassungsfähiger. Das heißt
nicht, dass Frauen die besseren Menschen sind. Sie sind strukturell
gezwungen, besser zu funktionieren. Ich bin genderfluid und mehr als Frau
sozialisiert, ich weiß nicht, was es heißt, ein Mann zu sein. Aber es muss
brutal sein, auf der anderen Seite des Ufers zu stehen.
Ich tue mir sehr leid gerade.
Wir spendieren tonnenweise Taschentücher. Ich bin nicht so pessimistisch.
Wenn ich mir die Generation nach mir anschaue: Für die sind Gender-Debatten
nichts Ungewöhnliches mehr. Jungs kommen mit lackierten Fingernägeln in die
Schule und werden nicht verprügelt. Wir Queers sind sichtbar, wir sind
laut, niemand kann behaupten, es gebe uns nicht. Solange es die Menschheit
geben wird, wird es uns geben.
Sie tragen wie Ali weiße Hemden.
Ich trage immer weiße Hemden, aber warum?
Ja, warum?
Vielleicht, weil sie für mich genderneutral sind. Ich trage auch gern
Anzüge. Das ist meine Genderüberschreibung.
Worauf werden Sie in den kommenden Monaten achten?
Es ist wichtig, dass wir uns genau ansehen, was mit der Ungeduld passiert,
die mein Liebling Christian Lindner so gut findet. Wenn wir ungeduldig
sind, führt das zu Kurzschlüssen. Die Wahrheit ist nicht schnell zu
kriegen. Ich übe mich in Geduld, weil noch nichts Gutes aus Ungeduld
entstanden ist. Und ich glaube, dass Romane Trainingsgeräte sind, um die
eigene Geduld zu schulen. Sowohl im Schreiben als auch im Lesen.
9 Oct 2017
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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