# taz.de -- Debütroman über dysfunktionale Familie: Lauter Schieflagen | |
> Yade Yasemin Önder lässt es scheppern. In ihrem Debüt „Wir wissen, wir | |
> könnten, und fallen synchron“ erzählt sie von körperlichen Exzessen. | |
Bild: Yade Yasemin Önders Debüt ist ästhetisch wie politisch vielschichtig | |
Schon die Einstiegsszene ist ein verrückt-symbolisches Familienmärchen. | |
Eine namenlose Erzählerin skizziert die Umstände ihrer Geburt: Auf einer | |
Wiese sei sie auf die Welt gekommen, und zwar „ein Jahr nach Tschernobyl“. | |
Dort habe der Vater eine „Dreizimmerwohnung im Park“ gebaut, auf „Grashal… | |
und Moos“ ausgebleichte Gegenstände gestellt. Ein marodes Heim auf feuchtem | |
Boden, die „Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal.“ Eine | |
merkwürdige Bleibe, vor allem im Winter, „aber meine Mutter bestand nicht | |
auf einer Badewanne“. | |
So rätselhaft die Metaphern zunächst erscheinen, so konzentriert und | |
kraftvoll schleudert sich zu Beginn die Erzählinstanz in eine Romanwelt, | |
die vor allem von chaotischen und niederschmetternden Verhältnissen | |
handelt. | |
2018 gewann Yade Yasemin Önder mit „bulimieminiaturen“ [1][den Berliner | |
Literaturwettbewerb Open Mike]. Aus dem preisgekrönten Skript ist in der | |
Zwischenzeit ein kleinteiliger Roman entstanden, der den sperrigen, aber | |
durchaus passenden Titel „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ | |
trägt. Idyllen gibt es in dieser Familiengeschichte nur in Bruchteilen. | |
„Schieflage“ ist ein sprechendes Wort, das immer mal wieder eingestreut | |
wird. Ständig passiert etwas Grauenhaftes, das auch den literarischen | |
Gesamtkontext zersplittert. Synchron scheinen nur die Niedergänge zu | |
verlaufen, etwa wenn Vater und Tochter in die Tiefe eines Schwimmbeckens | |
hinabsinken. Einmal stürzt der stark übergewichtige Papa in eine sich | |
drehende Kreissäge. Das achtjährige Kind sieht überall Blut, „wie in einem | |
Menschenschlachthaus“. | |
## Magersucht und Wurstsemmel | |
Die Fettleibigkeit aber bleibt auch nach dem Tod des Vaters ein Menetekel. | |
Weil die Tochter daheim mit riesigen Lebensmittelmengen konfrontiert ist, | |
versucht sie sich vom Elternhaus auch durch eine selbstzerstörerische | |
Magersucht zu distanzieren. Je mehr Wurstsemmeln „mit extra Schmalz“ von | |
der übergriffigen Mutter auf den Tisch gestellt werden, desto schneller | |
scheint das Mädchen abzunehmen. | |
Das Buch bietet damit nicht nur ein Familiendrama, sondern auch eine | |
bittere Coming-of-Age-Geschichte. Die physische und psychische | |
Identitätssuche ist besonders beschwerlich, da die Eltern der deutschen | |
Mutter regelmäßig ressentimentgeladene Bemerkungen über die türkische | |
Herkunft des Vaters machen. | |
Beim Leichenschmaus, zu dem es „Torte und Frikadellenbällchen“ gibt, | |
spricht die „Mutteroma“ von den „Orientalischen“, wenn die türkische | |
Verwandtschaft gemeint ist. Die Erzählerin sitzt hilflos dazwischen, fühlt | |
sich als „Mischling aus meiner Mutter und meinem Vater“ – auch weil der O… | |
sie so bezeichnet. | |
Statt den Irrsinn solcher Formulierungen, das Abschätzige dieser Denkweise | |
zu erkennen, simulieren die Deutschen wohlmeinendes Interesse und führen | |
sich auf wie im Zoo: „Angeregt werden nun die Fremden in all ihrer | |
Befremdlichkeit betrachtet.“ Dass die türkischen Gäste keine Bratlinge aus | |
gemischten Hack essen, begreift die deutsche Seite erst, als das Besteck | |
der entsetzten Muslime auf Teller und Boden fällt. | |
## Alltag in der BRD | |
Es sind keineswegs neue Geschichten, die Önder über den [2][ignoranten | |
Alltag in der alten Bundesrepublik e]rzählt. Was ihren Text aber | |
ungewöhnlich und furios macht, ist die eigenständige Tonlage, nämlich ihr | |
rasanter und nahezu surrealer Sarkasmus: „Aus Respekt vor der Kreissäge, | |
die meinen Vater zersägt hat, gibt es keine Messer bei der Feier.“ | |
Önders Prosa lebt vom schroffen Sprachspiel, von der rotzigen Pointe. Die | |
gelingen der Autorin insbesondere in jenen Kapiteln, die von Versuchen der | |
bald pubertierenden Erzählerin handeln, mit notgeilen Jungs anzubandeln. | |
Die Kontaktaufnahme geht reihenweise schief, und oft liegt es am Essen, | |
dass sich aus der erotischen Verheißung eine körperliche Horrorvision | |
entwickelt: „Als das matschige Tiramisu auf die Teller klatscht, fällt mir | |
plötzlich sein schwulstiger Arsch auf. Das war doch vorher nicht so? | |
Innerhalb von Sekunden wächst und wächst der weiter, wird so groß, dass er | |
sich auf gleich zwei Stühle setzen muss.“ | |
Kein Wunder, dass in der Mitte des Romans eine lange und lustige Liste mit | |
Liebhabern zu finden ist, in der die kurisesten Gründe aufgeführt werden, | |
warum sich der eine oder andere disqualifiziert hat. „Einer ejakuliert | |
Schafskäse“, heißt es beispielsweise zu Typ Nr. 22. | |
## Erzählen als Therapie | |
Was amüsant daherkommt, zeigt auch die Untiefen der Erzählerin. Die Mutter | |
weiß mit den Hilferufen des kotzenden und herumvögelnden Teenagers leider | |
nicht umzugehen. Das bulimische Mädchen landet bald in einer Klinik, in der | |
zwar Medikamente verschrieben werden, die „das Symptom“ in Schach halten, | |
doch die Ursachen für das haltlose Leben werden damit nicht angegangen. | |
Erst das Erzählen der vielen schmachvollen Erlebnisse scheint zum wirksamen | |
Therapeutikum zu werden. | |
In den Erinnerungsfragmenten werden aber nicht nur die eigenen Erfahrungen | |
umkreist, sondern auch die Demütigungen, die der Vater als Kurde in der | |
Türkei zu ertragen hatte. Dabei geht es Önder nicht darum, Leerstellen zu | |
füllen, allerlei Gründe nachzuzeichnen, die etwa zur Fressmanie des Vaters | |
und zur Magersucht der Tochter geführt haben könnten. In ihren | |
Suchbewegungen setzt die Autorin auf das literarische Verfahren der | |
grotesken Variation, das neue Sichtweisen auf die Geschehnisse und damit | |
auch auf das Erzähl-Ich ermöglicht. | |
In einem zentralen Kapitel wird zunächst ein gewaltsamer Sexualakt | |
beschrieben, der dann so variiert wird, dass im Zusammenspiel vollkommen | |
verschwimmt, wer in der Szene tatsächlich gewalttätig geworden ist. Was | |
aber heißt es für das Erinnern und ganz generell für das literarische | |
Schreiben, wenn Erzählungen doch nur eine unter vielen Wahrheiten | |
enthalten? | |
Die 1985 in Wiesbaden geborene Önder verweist im Nachklapp auf den | |
französischen Surrealisten Raymond Queneau, der in seinen „Stilübungen“ e… | |
ähnliches Verfahren angewendet hat. Dieser literarische Bezugsrahmen ist | |
auch deshalb so überraschend, weil er sich von der ästhetischen und | |
politischen Eindimensionalität nicht weniger Migrations- und | |
Identitätsgeschichten, die in den vergangenen Jahren hierzulande erschienen | |
sind, deutlich abhebt. | |
Yade Yasemin Önder lässt es scheppern, versteht sich aber auch auf die | |
leisen Töne. Sie kann Sätze formulieren, die sich wie expressionistische | |
Gedichtzeilen lesen. Und sie hat ein Gespür für literarische Komik, die | |
nicht nur die Lesenden, sondern eben auch die leidenden Figuren brauchen. | |
Was ein vielversprechender Debütroman. | |
17 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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