# taz.de -- Gastbeitrag Spätaussiedler und AfD: Wir müssen den Eltern widersp… | |
> Besonders bei Spätaussiedlern ist die Zustimmung für die AfD hoch. Unsere | |
> Autorin über das Erstarken der Rechten bei den eigenen Eltern. | |
Bild: Sasha Marianna Salzmann auf der Buchmesse in 2017 | |
Meine Freundin A. sagte einmal zu mir: „Meine Eltern können nichts dafür, | |
dass sie furchtbare Menschen sind.“ Der Satz klingt jetzt wieder in meinen | |
Ohren, während ich mir das diesjährige Integrationsbarometer des | |
„Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ | |
(SVR) vom September 2018 anschaue. Alle zwei Jahre misst der SVR mit dieser | |
bundesweit repräsentativen Erhebung, wie es um das Integrationsklima in | |
Deutschland steht. Dort kann man nun deutlich ablesen, wer der Behauptung: | |
„Die aufgenommenen Flüchtlinge erhöhen die Kriminalität in Deutschland“,… | |
häufigsten zustimmt: Wir. Beziehungsweise unsere Eltern. In keiner anderen | |
Bevölkerungsgruppe ist die Zustimmung zur AfD größer als bei den | |
„Spät-/Aussiedlerinnen und Spät-/Aussiedlern.“ | |
Menschen wie A. und ich sind in den 1990er Jahren nach Deutschland gebracht | |
worden, da waren wir Kinder, irgendwo zwischen zwei und Pubertät. In der | |
Schule fragten uns die Lehrer, wer wir sind, und wir sagten: | |
Wolgadeutsche, Deutschrussen, Russen, Ukrainer, Juden. (Damals natürlich | |
ohne Gendering, denn wir waren weit davon entfernt, von Gendering auch nur | |
gehört zu haben.) Die Lehrer selber nannten uns Kontingentflüchtlinge und | |
Spätaussiedler. [1][Unsere Mitschüler auf dem Schulhof nannten uns | |
„Kontis“.] | |
Wir sind keine homogene Gruppe, aber was wir alle gemeinsam haben, ist, | |
dass unsere Eltern einen Neuanfang riskierten, um uns ein besseres Leben zu | |
ermöglichen. Sie waren damals so alt, wie wir jetzt sind, wir hatten keine | |
Ahnung, was mit uns geschieht. | |
## Der Versuch die Eltern zu verstehen | |
Nun sind wir Erwachsene und versuchen, zu verstehen, wie viel unsere Eltern | |
für uns aufgaben. Wir sehen, dass sie sich dort nicht zu Hause fühlen, wo | |
sie für uns eine Zukunft planten. Darum verzeihen wir ihnen bei unseren | |
regelmäßigen Besuchen ihre reaktionären Bemerkungen. Wir wissen, dass sie | |
aus politischen Systemen kommen, in denen nichtweiße Menschen wie | |
selbstverständlich mit allen möglichen Tiernamen bedacht werden und wo die | |
Überzeugung herrscht, die Gesellschaft brauche einen starken Mann, der sie | |
führt. Dass der Feminismus eine Krankheit ist wie Homosexualität und | |
sonstige Abarten des westlichen Lebens, Gendering zum Beispiel. | |
Diese unsere Eltern konsumieren immer noch Nachrichten aus ihren | |
Herkunftsländern, die ihnen erzählen, was in dem Land, in dem sie nun | |
leben, geschieht. Vor ein paar Jahren bekamen wir mit, dass einige von | |
diesen unseren Eltern auf die Merkel-muss-weg-Demos gingen, und wir | |
schauten weg. Aus Scham. Wir versuchten, sie zu rechtfertigen, und sagten, | |
dass sie in Deutschland keinen Anschluss finden, dass Deutschland hart zu | |
ihnen sei. | |
Um des Friedens in der Familie willen suchten wir nach Erklärungen dafür, | |
[2][dass sie auf „Flüchtlinge“ schimpfen] und behaupten, dass man sich um | |
die falschen Abgehängten kümmere. Um uns nicht gegen unsere Eltern zu | |
stellen, gaben wir ihnen sogar manchmal recht. Aber nicht draußen in den | |
Kneipen und in den Betten, wo wir uns trafen, um unser „westliches, | |
liberales“ Leben zu feiern: zu vögeln, wen wir wollen, zu wählen, wie wir | |
wollen. Wir haben versucht, nicht über unsere Eltern zu sprechen, weil es | |
uns irrelevant erschien. Was sollten sie schon ausrichten? Sie waren die | |
Pioniergeneration, wir sind die, die über die Zukunft von Deutschland | |
entscheiden. Wir lagen falsch. | |
## Wir sind über zwei Millionen | |
Unsere Eltern haben deutsche Pässe, sie gehen wählen. Noch vor ein paar | |
Monaten redeten wir uns ein, die Meldung, es werde Juden in der AfD geben, | |
sei ein Scherz des Satiremagazins Titanic. Auch wenn wir wussten, dass für | |
viele unserer Eltern [3][eine Gruppierung mit faschistoiden Tendenzen | |
wählbar ist]. Während sie ihre Stimme an den Urnen rechten Parteien geben, | |
welche dieselben illiberalen Verhältnisse herstellen wollen, vor denen sie | |
uns bewahren wollten, schauen wir zu. Unsere Eltern gehen nicht mehr | |
vereinzelt auf schmuddelige Demos, sie machen eine relevante Wahlgruppe | |
aus. Wir sind über zwei Millionen. | |
Das Erstarken der rechten Parteien hat etwas mit uns zu tun, und das | |
bedeutet, dass wir etwas ausrichten können. Politik ist nichts, was einem | |
passiert. Wir müssen nicht tatenlos zusehen, wie die AfD zweitstärkste | |
Kraft in diesem Land wird. Das hier ist keine Historical Fiction auf | |
Netflix. | |
Die Prognosen sind real, die nächste Wahl kommt, und sie wird auch unser | |
Gesicht widerspiegeln. Das gilt nicht nur für uns „Kontis“, sondern auch | |
für die, die uns damals auf dem Schulhof so nannten: Man kann nur bei denen | |
etwas bewirken, die man liebt. Wir müssen an unsere Familien ran. Wir | |
müssen widersprechen. | |
9 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Sasha Marianna Salzmann | |
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