Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nachtleben in der Ukraine: Der Club ohne Namen
> Ist Kiew der neue Hotspot der Clubkultur und queeren Szene? Ein Besuch im
> „∄“, dem Pendant des Berghain in der ukrainischen Hauptstadt.
Bild: Eintritt dank non-binary Outfit & Corona-Test: Sasha Malyuk (links) und B…
Als Erstes kommt die Gesichtskontrolle. In einem Vorraum werden Taschen
entleert, deren Inhalte mit Taschenlampen durchleuchtet. Handykameras
werden mit regenbogenfarbenen Smiley-Aufklebern versehen. 350 Hrywnja
(rund 11 Euro) kostet der Eintritt, der eine zeitlose Nacht im Safe Space
der Kiewer Kulturszene verspricht. Bei der Garderobe liegen Papierröhrchen
für den hygienischen Drogenkonsum bereit, Aufklärungsmaterial zu Safe Sex
oder Sex Positivity auf Ukrainisch und Englisch.
Roher Backstein trifft hier auf minimalistisches Design, schwarzen Samt und
gedämpftes Licht. Fernes Wummern der Technobeats und ein süßlicher Nebel
aus Zigarettenqualm und undefinierbaren Aromen saugt einen tief in die
Clubmauern hinein. „Es riecht wie im Berghain“ – dieser Satz ist im Laufe
dieser Freitagnacht mehrmals zu hören.
Seit zwei Jahren wird in der Kirillowskaja Uliza 41 gefeiert, selbst im
Coronawinter wurde in den raumgreifenden Hallen einer ehemaligen Brauerei
weitergetanzt. In Kiew hat die LGBTIQ*-Bewegung in den vergangenen Jahren
Aufwind bekommen, ein Beispiel ist die queere Partyreihe Veselka – doch so
klar wie der „Club auf der Kirillowskaja“ oder „K41“, wie er behelfsmä…
genannt wird, hat sich in der lokalen Clubszene bisher keine Einrichtung
positioniert: „No sexism / No racism / No homophobia / No gender
discrimination / No photos/ No prejudice“. So klar die Botschaft, so
diskret die Kommunikation der Clubbetreiber. Einziges Clubbranding ist das
kryptische Zeichen [1][∄ – lies: there does not exist]. Namenlos ist auch
der Telegram-Kanal mit über 15.000 Mitgliedern, der über Line-up, Einlass-
und Hygieneregelungen (allgemeine Testpflicht vor Ort) informiert.
## Konstruktivistische Backsteinbauten
Charmant patinierte konstruktivistische Backsteinbauten aus Vorkriegszeiten
mischen sich mit verfallender Fabrikarchitektur und zerfurchten
Straßenreliefs: Podil (altslawisch: podol – Niederung, niedriges Gelände)
ist einer der ältesten Stadtteile der ukrainischen Hauptstadt, die – der
Legende nach – auf sieben Hügeln errichtet wurde. Mauern, ein Tor, ein
weitläufiger Hof. Ein Treppengerüst aus Metall sticht ins Auge: ein erstes
Anzeichen moderner Architektur, das sich glänzend in die Szenerie
einschreibt. Wie wird aus einer Fabrik ein Club, wie bekommt man altes
Gemäuer – diese Masse an Backstein und Beton – zum Klingen?
„Indem man viel Arbeit in die Restaurierung steckt und die Firmen
entsprechend anweist“, antwortet Architekt Thomas Karsten von Studio
[2][Karhard], das 2003 mit dem Ausbau des Ostberliner Heizkraftwerks
betraut wurde – der „Techno-Kathedrale“ Berghain. „Der Klang entsteht d…
den Einsatz absorbierender Materialien“ sagt Karsten.
Zunächst habe es eine anonyme Anfrage zu einem Clubprojekt in Kiew gegeben.
„Grundsätzlich hat uns natürlich Kiew interessiert und die Tatsache, dort
einen Club aus der Taufe zu heben.“ Nachdem sich das Architektenduo,
Karsten und Alexandra Erhard, von der Motivation der Investoren überzeugt
hatte, habe alles gepasst: Betreiber, Location, das lokale Team, der
Hintergrund. „In Kiew will man ein Statement setzen. Das Gebäude sollte im
Idealfall so demokratisch wie möglich funktionieren, Menschen inspirieren.“
Das Kiew-Berliner Gemeinschaftsprojekt ist nicht nur Club: Es vereint
transmedialen Kunstraum, multidisziplinäres Label Standard Deviation,
internationale Künstler*innen-Community und LGBTIQ*-Netzwerk symbiotisch
unter einem Dach.
In der aktuellen Clubsaison präsentiert sich „S(t)imulation.Zone“ als
virtuell mäandernde Infrastruktur und sexuelle Stereotype hinterfragendes
Netzwerk, dem sich etwa die ukrainischen „Prides“ oder Partys wie Veselka,
Kyiv Voguing Nights und Neutral Lviv angeschlossen haben. „ХІТЬ“, eine …
queere Partyreihe, wurde konzipiert.
Vor der Fabrikfassade steht eine Gruppe schwarz gekleideter Türsteher.
Einzige Grenze zwischen draußen und drinnen, zwischen profaner Wirklichkeit
und queerer Utopie ist die Gesichtskontrolle. Während die meisten Kiewer
Partys dem scheinbar demokratischen Prinzip „offen für alle“ folgen, wird
hier ausgesiebt: Wer dem non-binären Ideal und politischen Programm
äußerlich nicht entspricht, wird aus jenem neuen – auf verquere Art
exklusiven – Safe Space ausgeschlossen.
Die, die reinkommen, kennen zumindest eine Regel – das paradoxe Gebot, frei
und anders auszusehen. Ein normaler Mensch der Masse, der in dieses Gesetz
der Underground-Kultur nicht eingeweiht ist oder zu heteronormativ
erscheint, passt nicht ins Bild.
Die Party ist in Bewegung: Perücken, transparente Stoffe und erhitzte
Körper schweben auf geheimen Missionen von den Toiletten zur Bar, in den
Dark Room, zur Main Stage. Andere schließen sich der spiralen Auf- und
Abwärtsbewegung einer vergitterten Wendeltreppe an, die einen auf eine
zweite Clubebene katapultiert.
Die vertrautesten Gespräche beginnen eher auf der Toilette. Der verstrahlte
Smalltalk mit Oleksandr und Sasha geht in ein angestrengtes Politgespräch
über, während wir in einer runden Sitzgelegenheit aus Leder versinken.
Sprachpolitik, Krieg im Donbass, Maidan-Revolution: Für einen Moment bricht
die ukrainische Wirklichkeit in das Clubkonstrukt ein.
„Es ist komisch, aber dank des Konflikts mit Russland, über diese Wunde hat
sich die Ukraine neu definiert“, sagt Oleksandr Stavnichuk, als Fotograf
und Grafiker im polnischen Poznań lebend. „Als Europazentrist bin ich froh,
dass wir unseren kulturellen Vektor in Richtung Europa gelenkt haben – aber
es schmerzt, dass der kulturelle Austausch mit Russland unterbrochen wurde.
Und dass die Ukraine immer noch nicht Teil der EU ist.“
Einmal sei er alleine in den Club gekommen und – ohne Alkohol, ohne Drogen
– im Tanz versunken: „Mir gefällt diese Utopiehaftigkeit, in der wir hier
zusammen sind – wie ein Schwarm von Vögeln oder Fischen.“ So könne er sich
von der Realität losreißen: „Wie in einem Ritual, das viel Energie
fordert.“
Closer, Otel oder River port: Die Zahl der Kiewer Clubs ist seit der
„Revolution der Würde“ in die Höhe geschnellt. Cxema – ein 2014 von Sla…
Lepsheev ins Leben gerufener, sich durch rohen Sound auszeichnender
Technorave – hat durch Features in internationalen Magazinen Kultstatus
erlangt und steht sinnbildlich für den Aufwärtstrend der ukrainischen
Clubkultur in der Post-Maidan-Ära. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt
der Hype um postsowjetische Ästhetik, die Designer wie Gosha Rubchinskiy
und Demna Gvasalia subversiv in die Sprache des postkapitalistischen
Modemarkts übersetzen.
Open Stair Case: Aus der Mitte des Gebäudekomplexes wurde ein atriumartiger
Innenhof herausgeschält und in Beton gefasst. Treppenstufen winden sich an
den Fabrikmauern entlang, eine Rundumsicht auf eine quadratische Tanzfläche
freigebend.
## Schlüsselfiguren der lokalen Kulturszene
Unter freiem Himmel und Scheinwerferlicht wird zu einem Genregrenzen
sprengenden Set von Diana Azzuz B2B Rina Priduvalova getanzt.
Schlüsselfiguren der lokalen Kulturszene, etwa die Künstlerinnen Dana
Kosmina und Alina Kleytman in schillernder Extravaganz, aber auch eine
Gruppe junger Kunstschaffender aus Berlin mischen sich unter das Publikum.
„In Kiew gibt es nicht viele DJs, die aus dieser Techno-Ecke ausbrechen und
verschiedene Genres zusammenführen“, sagt Diana, die kürzlich auf dem
Clublabel ihr Solodebüt veröffentlicht hat. Als die Revolution die
ukrainische Gesellschaft erfasste, war die Künstlerin 22. „Was die
Clubszene angeht, glaube ich, dass die Menschen diese Nische brauchten, sie
waren hungrig danach. K41 ist für mich der – vielleicht einzige – Ort in
Kiew, an dem ich mich sicher fühle.“
Am Sonntag, den 19. September verlagerte sich die Kampfarena für eine
tolerante Gesellschaft allerdings vom Club auf die Straße: Neben dem Kiewer
Opernhaus formieren sich Menschen zu einem farbstarken Zug. Die
Organisatoren der Kyiv Pride hatten in den sozialen Medien aufgerufen, für
„Freiheit und Gleichheit“ auf die Straße zu gehen. Mit Erfolg: Laut
Veranstalter nahmen rund 7.000 Menschen teil – mehr als je zuvor.
Gewaltsame Zwischenfälle, wie zuletzt auf der Pride in Tbilissi, blieben
aus.
Mehrheitlich Jugendliche, grell kostümiert, zogen eine Stunde lang durch
das Stadtzentrum. Sie riefen: „Seite an Seite für die Verteidigung der
Gleichheit!“ oder „Unsere Tradition ist Freiheit!“ – und ernteten
missbilligende Blicke aus den Polizistenreihen, die den Protest schützen.
Fragwürdig breit aufgestellt ist der Protest: Neben Regenbogenfahnen wehen
Nationalflaggen. Im Militärkorso, der sich für Rechte von LGBTIQ* in der
Armee einsetzt, werden Fahnen in Schwarz-Rot geschwenkt, wie sie
ukrainische Nationalisten und Anhänger des rechten Sektors nutzen. Dieses
Bild irritiert auch deshalb, weil Polizeiwillkür und Überfälle von
Ultrarechten auf die LGBTIQ*-Community in der Ukraine weit verbreitet sind.
„7.000 Menschen, das ist großartig“, sagt Bogdan Moroz, ein junger
Intermedia-Künstler, der schon auf dem von der Ukraine Pride organisierten
„Rave“ dabei war. „Der Ukraine Pride geht es mehr um die Underground- und
Clubkultur, während die Kyiv Pride, die die LGBTIQ*-Bewegung angestoßen
hat, eher national ausgerichtet ist.“
Oleksandr Malyuk ist zum ersten Mal auf einer Pride. „Wenn du superqueer
auf die Kirillowskaja gehst, fühlst du dich großartig. Wenn du als Typ mit
Rock auf das Brave-Festival gehst, dann weiß ich, welche Blicke da kommen.
So geht es zu auf diesen Raves alten Formats – die lassen alle rein.“ Mit
„Raves alten Formats“ meint der 18-Jährige, der sein Ökonomiestudium
hinter sich bringen will, um sich der Welt der Kostüme widmen zu können,
„alles, was nicht Kirillowskaja ist“.
Ein Problem der Clubszene ist die Sicherheit: Razzien in Clubs und in
Kulturräumen gelten als Druckmittel gegenüber den Betreibern, sich die
„Deckung“ der Einrichtungen durch die örtliche Miliz zu erkaufen. Wird
gezahlt, so sagt man, ist Ruhe. Vieles spricht dafür, dass es der Einfluss
und das Geld eines ukrainischen Oligarchen ist, der das queere Publikum auf
der Kirillowskaja vor der Willkür bewaffneter Ordnungshüter schützt.
Die Frage, wer finanziell hinter dem Club steht, gilt als pikant – es wird
ein Geheimnis darum gemacht. Monate nach seiner Eröffnung berichteten
ukrainische Medien, Geldgeber des Clubs sei der Oligarch Andrey Verevskiy,
der seit den neunziger Jahren im Agrarbusiness aktiv ist. Mit seinem
Agrarkonzern „Kernel“ (Sonnenblumenöl) hat er sich unter die reichsten
Geschäftsmänner der Ukraine gewirtschaftet.
Der Unternehmer war viermal Mitglied des ukrainischen Parlaments, bis man
ihm 2013 das Mandat wegen der Überlappung von Abgeordnetenaufgaben mit
unternehmerischen Angelegenheiten entzogen hat. Sein „Agrarimperium“ hat
sich in den vergangenen Jahren zahlreiche ukrainische Unternehmen
einverleibt. Das war kein geräuschloser Vorgang: Es gibt unter anderem
einen ungeklärten Todesfall im Zuge der Übernahme des Konzerns Agrodim
durch Kernel. In einem anderen Fall eröffnete ein Luxemburger Gericht ein
Konkursverfahren gegen das Unternehmen.
Montagmorgens gegen acht Uhr auf der Kirillowskaja: Während die einen ins
Licht blinzeln – unwillig, auf diese äußere Seite der Clubmauern
zurückzukehren, – fegen andere mit Reisigbesen die Straße, fahren in der
Straßenbahn zur Arbeit. Die Farben Gelb und Blau, die ukrainischen
Nationalfarben, erinnern im Straßenbild an 30 Jahre Unabhängigkeit: das
Gelb-Blau der Pullover der Obstverkäuferin, Gelb-Blau blättert von
Fassaden, Mülleimern und Blumenkübeln. Sieben Lettern prangen auf dem
Rücken eines breitschultrigen Mannes: UKRAINA. Hier und da aber deckt sich
der queere Traum mit postsowjetischer Wirklichkeit, denn entlang der
zentralen Reyterskaja Uliza sieht man auch kämpferische
Graffiti-Botschaften.
Das ∄ ist längst zum Ankerpunkt für eine diverse und international
vernetzte Kulturszene geworden – aller berechtigten Kritik zum Trotz. Die
dringende Vermutung, dass mit Verevskiy ein Repräsentant des „alten
Systems“ mitmischt, lassen viele tolerant Vermutung sein („Immerhin
investiert er in Kultur“, „der Club ist nicht rein kommerziell“). Andere
sehen Verevskiy als Teil des Problems – und den Club als Beweis dafür, dass
sich in Bezug auf Korruption „nichts“ im Land geändert habe.
17 Oct 2021
## LINKS
[1] https://ra.co/clubs/177458
[2] https://www.deutschlandfunk.de/berghain-architekten-karhard-ein-techno-club…
## AUTOREN
Elisabeth Bauer
## TAGS
Kyjiw
Schwerpunkt LGBTQIA
Queer
Ukraine
Techno
Clubkultur
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Coronavirus
Ukraine
Clubkultur
Literatur
Architektur
## ARTIKEL ZUM THEMA
Dokureihe über elektronische Clubmusik: „Tanz dich frei“
Die ARD-Doku „Techno House Deutschland“ erzählt solide von elektronischer
Clubmusik. Doch Neues erfährt man dabei kaum.
Erstes Feiern nach dem Lockdown: Orte der Verheißung
Das hat wirklich gefehlt: eine diverse Clubkultur, die nicht zwischen queer
und hetero unterscheiden will. In den Berliner Clubs wird wieder getanzt.
Corona in der Ostukraine: Die Krankenhäuser sind überfüllt
Die Coronalage in der Ostukraine ist verheerend. Nur wenige Personen werden
geimpft. Mehr als 6.000 Menschen sind dem Virus zum Opfer gefallen.
Gedenken an die Toten von Babyn Jar: Wir haben nur Worte
In diesen Tagen wurde in Kiew der Toten des NS-Massakers von Babyn Jar
gedacht. Bis heute wird dort ums Gedenken gerungen. Ein Ortsbesuch.
Clubleben in der Hauptstadt: Guten Morgen, Berlin
Das Berliner Nachtleben kehrt zurück. Am Wochenende lud das Berghain nach
19 Monaten Pause wieder zum Feiern. Außerdem war Tag der Clubkultur.
Neuer Roman von Sasha Marianna Salzmann: Mütter, Töchter, Weltgeschichte
Autor:in Sasha Marianna Salzmann erzählt vom Leben in der Sowjetunion –
und von den Abgründen, die die emigrierten Nachgeborenen davon trennt.
Dániel Kovács über Architektur: „Es geht ja um Werkzeuge“
Für Ungarns Pavillon der Architekturbiennale haben junge
Architekt*innnen Gebäude der sozialistischen Moderne überdacht. Ein
Gespräch mit Kurator Dániel Kovács.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.