| # taz.de -- Dániel Kovács über Architektur: „Es geht ja um Werkzeuge“ | |
| > Für Ungarns Pavillon der Architekturbiennale haben junge | |
| > Architekt*innnen Gebäude der sozialistischen Moderne überdacht. Ein | |
| > Gespräch mit Kurator Dániel Kovács. | |
| Bild: Dániel Kovács ist der Kurator des ungarischen Pavillons auf der Archite… | |
| taz: Herr Kovács, das Motto der diesjährigen Biennale ist der Zukunft | |
| zugewandt, [1][„How will we live together?]“ In Ihrem Eröffnungsstatement | |
| mahnen Sie die Menschen Mitteleuropas, ihre Neurosen zu überwinden und sich | |
| optimistisch zu zeigen. Was sind das für Neurosen? | |
| Dániel Kovács: Die Identität dieser Region, Osteuropa, ist nicht natürlich | |
| gewachsen, weil sie durch das Eindringen einer Supermacht nach dem Zweiten | |
| Weltkrieg erschaffen wurde. In dieser Identität ist man verhaftet, und die | |
| westlichen Medien haben das übernommen. Es ist eine negativ konnotierte | |
| Identität. Man denkt an etwas unkultivierte, hinterwäldlerische Leute, | |
| Arbeiter, Nicht-Intellektuelle. Anfang der Neunziger hat man dann versucht, | |
| das mittels des Begriffs Zentraleuropa, abgeleitet vom deutschen Begriff | |
| Mitteleuropa, zu verbessern. Das hat aber niemanden interessiert, wir | |
| blieben also Ost-Europäer. Die jetzige Generation, die nach dem | |
| Regimewechsel aufgewachsen ist, versucht nun, den Begriff mit neuen, | |
| positiveren Bedeutungen zu versehen. | |
| Mittels des Begriffs „Andersheit“? | |
| Mit Hilfe des architektonischen Versuchs der „Andersheit“ wollen wir | |
| versuchen, einen kollektiven Optimismus an die Stelle der gegenwärtigen | |
| Neurose treten zu lassen. Die Idee kam auf, als wir mit ArchitektInnen aus | |
| neun verschiedenen Ländern erstmals zusammensaßen und feststellten, dass | |
| die Verständigung untereinander recht einfach war, weil wir alle einen | |
| vergleichbaren Hintergrund haben, historische und soziale Erfahrungen | |
| teilen. | |
| Vor dem Hintergrund der politischen Situation in Ungarn klingt „Andersheit“ | |
| als Titel recht provokant. | |
| Das gesamte Konzept fußt zunächst auf dem aktuellen Problem, dass Gebäude | |
| der sozialistischen Moderne allenthalben [2][zerstört] werden, nicht nur in | |
| Ungarn, sondern überall. Das ist Politik, denn die Gebäude werden | |
| ausschließlich als Überbleibsel aus der Zeit des Kommunismus gewertet. Aber | |
| in Ungarn ist alles überpolitisiert, weil es eben genau das ist, was | |
| populistische Politiker tun: Sie überpolitisieren alles. Als schwuler Mann | |
| kann ich daher nur lachen, wenn es wieder heißt, dass ich doch bitte meine | |
| privaten Dinge im Schlafzimmer belassen soll – wie soll ich das machen, | |
| wenn mein Schlafzimmer schon voller Politiker ist, die mein Privatleben | |
| [3][kontrollieren] wollen. | |
| Wie hat die ungarische Kulturpolitik auf Ihr Konzept reagiert? | |
| Überraschenderweise haben wir bislang überhaupt keine Reaktion von Seiten | |
| der ungarischen Kulturpolitik. Unser Konzept wurde zwar debattiert, aber es | |
| wurde nicht so sehr politisiert, wie ich erwartet hätte. | |
| Und wie reagieren die ungarischen Medien? | |
| Leider übernehmen die Medien das übliche Muster der Politik. Aber nicht nur | |
| die ungarischen, auch die westlichen Medien berichten aus Ungarn | |
| ausschließlich in politischen Zusammenhängen. Es wirkt dann so, als hätten | |
| alle Menschen in Ungarn etwas mit Politik zu tun, und das ist eine | |
| Sichtweise, die der Idee eines vereinten Europas im Wege steht. | |
| Politik steht der Idee eines geeinten Europas im Wege? | |
| Die meisten Menschen in dieser Region fühlen sich gar nicht als Europäer, | |
| weil wir immer als die Anderen dargestellt werden. Eigentlich verhält es | |
| sich wie in der Debatte um Kolonialismus und die Repräsentanz von | |
| Afrikanern und Asiaten. Aber niemand versteht, dass es uns Ost-Europäern | |
| [4][genauso] ergeht. Wir werden in einer Art und Weise repräsentiert, mit | |
| der wir uns gar nicht identifizieren können. Und wir können nichts daran | |
| ändern. | |
| Könnte man „Andersheit“ als Utopie begreifen, die neue Lebensweisen in der | |
| Region ermöglicht? | |
| Das hoffe ich offensichtlich, aber ich erwarte nicht, die Welt retten zu | |
| können. Ich möchte aber eine Diskussion eröffnen. Ich möchte ein | |
| Bewusstsein für diese Situation schaffen, in Ungarn, Europa, der Welt – | |
| auch, damit die Leute dort ihre eigene Situation reflektieren können. Und | |
| gerade in diesem Hinblick ist „Andersheit“ schon jetzt ein großer Erfolg, | |
| denn hier in Venedig kamen schon jetzt unzählige Menschen aus allen | |
| Erdteilen zusammen, um sich mit den KuratorInnen auszutauschen. Das hatten | |
| wir so nicht erwartet, aber sie alle haben sich in unseren Fragestellungen | |
| wiedererkannt. | |
| Zwölf Architekturbüros haben Sie ausgewählt, was waren die Kriterien? | |
| Zunächst haben wir zwölf [5][Gebäude] in Budapest ausgesucht, dann haben | |
| wir anhand unserer Netzwerke internationale Partner gesucht. Wir haben uns | |
| vor allem an junge Leute in ihren Zwanzigern bis frühen Vierzigern gewandt, | |
| die nach 1989 aufgewachsen sind und ausgebildet wurden. Sie sind bereits | |
| Bürger Europas, kennen aber noch das historische Erbe. Daher können sie | |
| auch verstehen, was die besagten Gebäude in Budapest für die Ungarn | |
| bedeuten und repräsentieren könnten. Zugleich haben sie eine objektive | |
| Distanz. Die Ursprungsidee bestand darin, beide Seiten der Geschichte zu | |
| zeigen. Also einerseits die historischen Gebäude mitsamt zugehörigen | |
| Dokumenten und Archivmaterialien in einer Halle des Ausstellungsgebäudes in | |
| Venedig – und auf der anderen Seite die zwölf neuen Ideen. So ist eine | |
| [6][Spiegelstruktur] entstanden, die wir sowohl in der Ausstellung als auch | |
| im Katalog durchgehalten haben. | |
| Wie wird moderne Architektur von der ungarischen Regierung bewertet? | |
| Es gibt dazu keine generelle Haltung. Es ist aber richtig, dass von den | |
| zwölf ausgesuchten Gebäuden zwei im letzten Jahr zerstört worden sind, | |
| eines davon von der Regierung. Ein anderes Gebäude soll gerade von einer | |
| NGO abgerissen werden, die durch öffentliche Gelder finanziert wird. Als | |
| ich die Leute von der Organisation darauf ansprach, bekam ich zur Antwort, | |
| dass es sich um ein brutalistisches Gebäude handele, das ehemalige | |
| Hauptquartier der Arbeitermiliz, also einer sehr kommunistischen | |
| Organisation. Diese Argumente hört man nun immer wieder, insbesondere im | |
| Zusammenhang mit der Rekonstruktion des Buda-Schlosses. Aber ich möchte die | |
| Entscheidung der Regierung, das Schloss zu Lasten der Renovierungen der | |
| 50er, 60er und 70er in den Zustand der Vorkriegszeit zurückzuversetzen, | |
| bewusst nicht diskutieren. | |
| Womöglich schlicht aus Gründen der Ignoranz? | |
| Das ist genau der Grund, warum ich nun nicht mit dem Finger auf die | |
| verantwortlichen Parteien zeige. Es ist nämlich genauso die Verantwortung | |
| der Architekten und der Architekturhistoriker: Weil wir keinen vernünftigen | |
| Kanon errichtet haben, weil wir nicht geklärt haben, was nun gut und was | |
| schlecht ist an der Moderne. Dahinter verbirgt sich diese typische | |
| Unsicherheit unserer Zeit: Wer darf sagen, dass dieses Gebäude gut ist? Wer | |
| darf bestimmen, ob dieses Gebäude abgerissen oder erhalten wird? Es gibt | |
| keine Hierarchie mehr. | |
| Sie wollen neue Hierarchien schaffen? | |
| Das Projekt „Andersheit“ versucht herauszufinden, wie wir über diese Fragen | |
| diskutieren können. Es soll zeigen, dass ArchitektInnen sehr wohl die | |
| kreativen Fähigkeiten haben, diese Probleme zu lösen. Ich denke, dass diese | |
| zwölf verschiedenen Ansätze im Pavillon zeigen, dass junge ArchitektInnen | |
| in der Lage sind, Ideen zu entwickeln, um die anstehenden Probleme | |
| anzugehen und zu bearbeiten. Es geht ja um Werkzeuge. Es ist auch kein | |
| Zufall, dass wir mit dem Begriff der „Erholung“ arbeiten. Es ist ein | |
| psychologischer Begriff, der in der Architektur gar nicht verwendet wird. | |
| Aber wenn wir die Dinge ändern wollen, müssen wir unsere Einstellungen und | |
| Haltungen ändern. | |
| 15 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.world-architects.com/es/eventos/biennale-architettura-2021-how-… | |
| [2] /Historikerin-ueber-Brutalismus/!5656203 | |
| [3] https://mannschaft.com/ungarn-will-anti-lgbti-propagandagesetz-vorlegen/ | |
| [4] /Antislawischer-Rassismus-in-Deutschland/!5758259 | |
| [5] https://www.archdaily.com/961386/the-hungarian-pavilion-at-the-2021-venice-… | |
| [6] https://monocle.com/radio/shows/monocle-on-design/502/?fbclid=IwAR3l3E58TMW… | |
| ## AUTOREN | |
| Bostjan Bugaric | |
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